Direkt zum Hauptbereich

Vom Glück, Verantwortung zu teilen

Verantwortung zu übernehmen ist in unserer Gesellschaft sehr angesehen und steht entsprechend hoch im Kurs. Doch was, wenn diese eigentlich gute Sache sich ins Gegenteil verkehrt? Ein Interview mit der Psychiaterin und Autorin Dagmar Ruhwandl.

Ruhwandl, Dagmar:
Vom Glück, Verantwortung
zu teilen. Stuttgart 2019

Dagmar Ruhwandl ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutin. Sie ist auf Burnout spezialisiert und unterstützt als Beraterin und Trainerin auch Unternehmen rund um das Thema gesunde Führung. Dieser Tage ist ihr neuestes Buch erschienen: „Vom Glück, Verantwortung zu teilen. Leben ohne Überforderung.“

Liebe Dagmar, du bist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutin. Da kann man ja schon ein bisschen überrascht sein, dass du dich mit dem Thema Verantwortung beschäftigst. Macht Verantwortung zu übernehmen denn krank?

Dagmar: Verantwortung übernehmen ist eigentlich eine wundervolle Sache. Ob im Kleinen, zum Beispiel beim Kochen eines Mittagessens für die ganze Familie oder im Großen, wie bei der Übernahme eine Führungsposition in einem Unternehmen: In vielen Bereichen macht Verantwortung Freude, motiviert uns und lässt uns wachsen. Verantwortung macht uns frei, weil sie eine zentrale Quelle von Selbstwert und Selbstvertrauen bedeutet. Wenn aber für zu lange Zeit zu viel oder die falsche Verantwortung auf uns lastet, kann sie körperlich und psychisch negative Folgen für uns haben.

Was sind das für Folgen? Mit welchen Beschwerden kommen die Menschen zu dir?

Häufig kommen Patienten, nachdem der Körper sich meldet. Symptome können sein: Herzrasen, Magen-Darm-Beschwerden, Spannungskopfschmerzen, Dauer-Rückenschmerzen durch Muskelverspannungen, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit. Wenn aus Verantwortung Überforderung wird, wenn das System kippt, entwickeln auch Menschen, die viel Kraft haben, gerne Verantwortung übernehmen und immer viel leisten konnten, depressive Symptome, werden energie- und antriebslos und sehen keinen Sinn mehr in dem, was sie tun.

Das bedeutet sicherlich, dass die Betroffenen sehr darunter leiden. Trotzdem berichtest du in deinem Buch, dass betroffene Menschen im Durchschnitt lange acht Jahre warten, bis sie sich an einen Arzt oder Therapeuten wenden. Das muss ja aber sicherlich nicht sein. Wie können wir bemerken, dass es brenzlig wird und wir uns Hilfe holen sollten?

Frühwarnsignale sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Aber es gibt ein paar Symptome, die man schon früh bemerken kann und Verhaltensweisen, die man beobachten sollte. Dazu gehört zum Beispiel, sich zu fragen, wieviel Leidenschaft man in eine Tätigkeit - sei es beruflich oder privat - steckt und wann diese beginnt, einen einzuschränken. Wenn wir zum Beispiel mit Leidenschaft an einem beruflichen Projekt arbeiten, aber merken, dass wir deswegen seit längerer Zeit andere Leidenschaften vernachlässigen, wie z.B. Sport, Hobbys, nahe Freunde, sollten wir innehalten. Auch wenn wir es nicht mehr schaffen oder immer schwerer finden, nach Belastungen wieder zur Ruhe zu kommen, sollte das ein Warnsignal sein.

Du sagtest, dass es auch falsche Verantwortung gibt. Wie kann ich die von der richtigen unterscheiden?

Das ist gar nicht so einfach. Zuerst sollte man versuchen, zu verstehen, warum man begonnen hat, viel Verantwortung zu übernehmen. Häufig beginnt das schon im Kindes- oder Jugendalter! Menschen, die beispielsweise ein Elternteil hatten, der depressiv oder alkoholkrank war, neigen dazu, sich über ihre Grenzen hinaus und in einer Art Verantwortung aufzubürden, die nicht ihrer Lebenssituation entspricht. Hat zum Beispiel ein Mann als Kind immer für seine depressive Mutter den Haushalt geführt und soziale Kontakte gepflegt, so wird er als Erwachsener leichter dazu neigen, auch hier für andere über die Maßen Verantwortung zu übernehmen. Als Kind war er mit dieser Verantwortung völlig überfordert, denn sie war für ein Kind viel zu umfangreich und falsch, sie entsprach nicht seinen Fähigkeiten. Es gab aber kein Entkommen, und so fühlte es sich irgendwann „normal“ an. Das ist der Grund, warum es ihm im weiteren Leben so schwer fällt, zu unterscheiden, ob die Verantwortung, die er übernimmt, jetzt angemessen ist oder nicht.

Die eigenen Kindheitserfahrungen mit sich und der Umwelt spielen also eine entscheidende Rolle. Es gibt da aber noch eine andere Sache, die du in deinem Buch aufgreifst und die mich überrascht hat: Das Übertragen von Traumata, Angst- und vielleicht sogar anderen Reaktionsmustern über Generationen hinweg! Bedeutet das, dass ich das Verantwortungsgefühl meiner Vorfahren in mir trage und mich entsprechend verhalte?

Es ist zumindest recht wahrscheinlich, dass sich Verantwortungsmuster über Generationen quasi vererben. Besonders sichtbar wird dies oft in Unternehmerfamilien oder in Familien, in denen seit Generationen ein Beruf von vielen geteilt wird, wie zum Beispiel Ärzte- oder Juristenfamilien. Wenn das zu uns und unserer individuellen Persönlichkeit passt: Kein Problem! Dann kann man seine Erfüllung in der Übernahme der gleichen Verantwortung wie der Großvater, die Mutter oder der Onkel sogar auf eine besonders passende Weise finden. Wenn man aber aus welchen Gründen auch immer aus einem anderen Holz geschnitzt ist, kann man sich damit immens überfordern.

Du beleuchtest in deinem Buch zwar natürlich die medizinischen und psychischen Aspekte. Gleichzeitig verknüpfst du sie stark mit philosophischen Aspekten. Wie kommt das?

Da wage ich mich auf ein Gebiet, das ich als Ärztin natürlich eher erahne als verstehe. Ich habe aber in meinen Recherchen festgestellt, dass Aspekte der Verantwortung schon seit Jahrtausenden einen wesentlichen Einfluss auf unser Leben nehmen und dass vor allem Philosophen und Theologen dazu schon sehr lange hervorragende Gedanken entwickeln, die aber auch, was die Übernahme von Verantwortung anbelangt, zum Teil große Anforderungen an uns stellen.

Als Ärztin, Expertin für Burnout und Fachfrau für betriebliche Gesundheit begleitest und hilfst du schon lange Menschen und Organisationen, die sich in überfordernden Situationen befinden oder sich davor schützen wollen. Hast du den Eindruck, dass der Druck auf Einzelne und Firmen heute zunimmt? Dass sich die Art und Weise, wie wir Verantwortung übernehmen und damit umgehen, heute ändert im Vergleich zu früher?

Ich hatte eigentlich gehofft, dass die Reaktion der Gesellschaft und der Unternehmen auf die “Burnout-Welle” der früher 2000er Jahre schneller erfolgen wird. Ich war immer sehr optimistisch, dass sich die Überforderung des Einzelnen durch Maßnahmen in Unternehmen rascher auflösen wird. Da scheine ich ein bisschen zu viel erhofft zu haben. Denn bislang sehe ich noch keine wesentliche Veränderung. Was ich am ehesten beobachte, ist eine ungleichere Verteilung von Verantwortung - und auch von anderen Ressourcen - auf die einzelnen Beteiligten. Es gibt nach meiner Wahrnehmung immer mehr Menschen, die Verantwortung eher nicht, und Einzelne, die dafür immer größere Mengen an Verantwortung tragen müssen.

Und dennoch greifst du in deinem Buch die Veränderung der Organisationsstrukturen und Arbeitswelten allgemein auf, die hier und da ja doch sehr spürbar sind und uns im Teamworkblog ja auch oft beschäftigen. Wie siehst du diese Bestrebungen? Können sie helfen, die Hoffnung auf eine gleichmäßigere, gesündere Verteilung von Verantwortung zumindest ein Stück weit zu erfüllen?

Ich denke, die Veränderungen bewirken auf jeden Fall, dass wir uns der eigenen Verantwortung bewusster werden. Gerade agile Management- und Arbeitsmethoden stärken ja in der Regel die Eigenverantwortlichkeit eines jeden Teammitglieds. Hierin sehe ich Chancen und Gefahren. Die Chance ist, dass, unter achtsamer Führung, ein gesünderes Maß an Anforderung und Belastung gefunden werden kann. Die Gefahr besteht nach den bisherigen Erfahrungen aber darin, dass  Einzelne dazu neigen, sich hier zu überfordern. In dieser Gefahr befinden sich ein Stück weit alle. Besonders aber jene Menschen, die aus den Gründen, die ich in meinem Buch beschreibe, dazu neigen, zu viel Verantwortung auf sich zu nehmen. Sie sind potentiell gefährdeter. Hier braucht es gutes Coaching oder eine aufmerksame Leitung, damit auch diese Menschen von Agilität profitieren können.

Liebe Dagmar, danke für deine Zeit und das Gespräch!



Hier finden Sie alle Artikel von Edgar Rodehack.


Literatur

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wofür braucht man einen Aktenplan?

Es muss im Jahr 2000 gewesen sein. In meinem Job hatte ich ein breites Feld an Aufgaben und ich wollte den Überblick behalten. Ich kannte mich schon mit verschiedenen Zeitmanagementsystemen aus. Aber mein Schreibtisch und meine elektronische Ablage wurden immer unübersichtlicher. Wer könnte noch ein Problem in der Ablage haben? Die Lösung fand ich in einem Handbuch für Sekretärinnen: einen Aktenplan. Ohne ihn wäre mein Leben anders verlaufen.

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Transparenz als Schlüssel zum Erfolg: 20 Reflexionsfragen für moderne Organisationen

Transparenz ist das Herzstück erfolgreicher Teams. Sie schafft Vertrauen und fördert Zusammenarbeit. Wenn alle Zugang zu den notwendigen Informationen haben, können sie fundierte Entscheidungen treffen und gemeinsam Lösungen erarbeiten. Dies führt zu höherer Effizienz, schnelleren Entscheidungsprozessen und besseren Arbeitsergebnissen. Transparenz ist mehr als ein Schlagwort – es gilt, sie greifbar zu machen, ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln und es in die Praxis umzusetzen. Wie das gelingt und welche Vorteile es für Euer Team und Eure Organisation bringt, erkunden wir im Folgenden.

Rebellieren für den Wandel: die 8 Regeln des totalen Stillstandes von Prof. Dr. Peter Kruse

In einem legendärem Vortrag skizzierte Peter Kruse 8 Regeln des totalen Stillstands. Ihm zufolge wurden die Regeln entwickelt, um Managern und Führungskräften dabei zu helfen, Bereiche mit potenziellem Widerstand gegen Veränderungen zu erkennen und Menschen auf strukturierte Weise durch den Veränderungsprozess zu führen.

Remote Energizer – Frische Energie für Online-Meetings (Teil 1)

Remote Meetings können anstrengend sein – müde Augen, sinkende Konzentration und ein angespanntes Team. Aber keine Sorge: Mit den richtigen Energizern bringst du Schwung und Motivation in jede Online-Session! In diesem ersten Teil zeige ich dir vier Übungen, die schnell für gute Laune sorgen und deinen Meetings neuen Schwung verleihen.

Der Call for Workshops für den Scrum Day 2025 ist geöffnet

Der persönliche Austausch auf einer Konferenz hilft beim Lösen der eigenen Probleme im Unternehmen. Hier sind ein paar Vorschläge aus der Community für den nächsten Scrum Day. Ihr könnt jetzt Vorschläge für das Programm einreichen.

Kategorien in Outlook - für das Team nutzen

Kennen Sie die Kategorien in Outlook? Nutzen Sie diese? Wenn ja wofür? Wenn ich diese Fragen im Seminar stelle, sehe ich oft hochgezogene Augenbrauen. Kaum jemand weiß, was man eigentlich mit diesen Kategorien machen kann und wofür sie nützlich sind. Dieser Blogartikel stellt sie Ihnen vor.

Wenn dein Team die Anforderungen blockt: 12 Tipps für Product Owner*innen

Liebe Product Owners, wir müssen reden. Schon wieder eine Anforderung, die im Nirgendwo landet? Zeit, das Ganze anders anzugehen. Ihr kennt das Spiel: Anforderungen sind ausgearbeitet, und doch läuft es im Team holprig. Was fehlt? Oft sind es Klarheit, realistische Erwartungen und ein bisschen Fingerspitzengefühl. Doch keine Sorge! Mit ein paar praktischen Tipps könnt ihr Missverständnisse vermeiden, Blockaden umgehen und den Entwicklungsprozess so richtig in Fahrt bringen – natürlich in Zusammenarbeit mit eurem Scrum Master. Hier sind zwölf Regeln, die euch helfen, das Team auf Kurs zu bringen und das Chaos in produktive Zusammenarbeit zu verwandeln. Wir zeigen dabei auch, wo der Scrum Master unterstützen kann, damit ihr eure Rolle als Product Owner noch besser erfüllen könnt. Häufige Stolperfallen: Warum Anforderungen oft scheitern Bevor wir ins Eingemachte gehen, kurz zu den typischen Stolperfallen. „Klare Anforderungen“? Klingt gut, scheitert aber sehr häufig an der realen Praxis. ...

Die Stimmung in Deinem Team drehen? So wird’s gemacht.

Oder ähnlich. Mir gefiel der Titel. Vor ein paar Tagen hat mich jemand angesprochen und von einem, wohl etwas frustrierenden, virtuellen Teammeeting erzählt. Die Teammitglieder zogen lange Gesichter, schauten grimmig in ihre Kameras. Ich habe mich dann gefragt, was ich tun würde, wenn ich in so einer Situation wäre. In diesem Blogpost beschreibe ich ein paar Tipps mit denen Du die Stimmung in Deinem Team (und Deine eigene) verbessern kannst.

Zu viel zu tun? Planen Sie Ihre ideale Woche

Wir hören immer wieder, dass Teams zu viel zu tun haben. Aber woher wissen wir eigentlich, was zu viel genau bedeutet? Hier ist ein ungewöhnlicher Tipp: Treffen Sie Annahmen über eine gute Menge. Planen Sie eine ideale Woche.