Direkt zum Hauptbereich

Aufgaben delegieren: Generalvollmacht statt Eiertanz

Die übliche Methode des Delegierens von Aufgaben durch einen Vorgesetzten an einen Mitarbeiter ist extrem aufwendig. Aus dem Aufwand, den 1 Chef treiben muss, um 1 Aufgabe an 1 Mitarbeiter zu delegieren, kann man die maximale Leitungsspanne berechnen: Wie viele Mitarbeiter kann 1 Chef mit Aufgaben beglücken, bis er selbst völlig ausgelastet ist? Meistens landet man bei Zahlen um die sieben.

Was aber tun, wenn ein Unternehmen nicht aus acht, sondern aus zweihunderttausend Mitarbeitern besteht? Richtig. Der CEO führt sieben Vorstandskollegen und die führen jeder sieben Bereichsleiter und die führen … Eine Kaskade aus mindestens acht hierarchischen Stufen ist notwendig, um einen Großkonzern von 200.000 Beschäftigten zu führen.

Darf’s auch ein bisschen weniger sein?

Dieser Artikel ist die Fortsetzung von zwei Blogposts, die sich mit dem Aufwand des Delegierens beschäftigt haben /1/. Jetzt geht es mir um die Frage: Gibt es auch andere, effizientere und schlankere Methoden?

Ein Beispiel für ganz andere Steuerungsmethoden habe ich bei einem französischen Unternehmen gefunden, FAVI in Nordfrankreich, das vor allem Kupplungsteile an internationale Automobilkonzerne liefert. /2/

Der Arbeiter und seine Maschine

Fangen wir mit „unten“ an, beim einzelnen Arbeiter: Jeder Arbeiter hat in seinem Tätigkeitsbereich die volle Verantwortung: „Damit das Unternehmen reaktionsfähig würde, war es notwendig, dass die Entscheidungen durch die Arbeiter selbst getroffen werden konnten - auf der Stelle und in Echtzeit. Ein guter Arbeiter war einer, der selbstständig handelte. Bei sich zu Hause handelten die Arbeiter ja auch selbstständig. Und die Unternehmensstruktur durfte ihren Sinn nicht darin haben, die selbstständigen Initiativen der Arbeiter niederzubügeln“, schreibt der ehemalige CEO, nun im Ruhestand, der das System aufgebaut hat und es in einem Buch erklärt. /4/

Bei FAVI wurden alle Zeitkontrollen wie Stechuhren usw. abgeschafft. Es gibt kein individuelles Prämiensystem (nur eine Verteilung des Gesamtüberschusses an alle), und es gibt keine Jahresmitarbeitergespräche. Jeder Arbeiter richtet seine Maschine selbst ein – es gibt keine Vorarbeiter - und ist für ihre Wartung und Reparatur verantwortlich. Die Läger sind für jeden zugänglich. Der Fuhrpark steht jedem zur Verfügung.


Abbildung 1: FAVI-Arbeiter haben volle Verantwortung für ihren Arbeitsplatz

Die Abteilungen als „Minifabriken“

Auf der Ebene darüber (klassisch würde man von „Abteilungen“ sprechen) setzt sich das Prinzip der Selbstverantwortung fort. Das Unternehmen mit seinen ca. 400-500 Beschäftigten ist in 21 „Minifabriken“ („mini usines“) unterteilt. Die meisten dieser Minifabriken sind einem Kunden (VW, Peugeot, Citroen, …) oder einem Marktsegment zugeordnet. Daneben gibt es Minifabriken für interne Dienste wie Vertrieb, Entwicklungsabteilung usw., die aber nur auf Anforderung einer produktiven Abteilung tätig werden.



Abbildung 2: Nur zwei Hierarchiestufen und ein „Pate“: das ist das ganze Organigramm
Jede Minifabrik wirtschaftet völlig eigenverantwortlich, ohne zentrale Steuerung. „Denn ich bin der Meinung, dass eine solche Zentralisierung jede Reaktions- und Anpassungsfähigkeit [an die Kundenbedarfe] ersticken würde,“ schreibt Zobrist. /4/

Innerhalb einer Minifabrik gibt es nur zwei hierarchische Stufen: den Leiter und die 20 bis 35 „Werktätigen“ /5/. Der Leiter hat die volle Entscheidungsgewalt (und Verantwortung) für alle Themen: Arbeitssicherheit, Umweltschutz, Gehälter und Gehaltserhöhungen, Personalbedarf, Investitionen, Lieferantenauswahl …: „All dies in direktem Kontakt mit seinem Kunden: (…) Ohne irgendjemandem im Unternehmen Rechenschaft ablegen zu müssen, außer seinem Kunden und seinen Arbeiterinnen und Arbeitern.“ /6/

Außerhalb der Hierarchie gibt es für jede Minifabrik einen Vertriebsfachmann, die „Patin“ oder den „Paten“, die oder der auf der einen Seite die Verhandlungen mit dem Kunden über Rahmenverträge und Preise führt (auch völlig eigenverantwortlich) und auf der anderen Seite die Produktivität der Minifabrik beobachtet und Vorschläge zur Verbesserung macht. „Dieses System erlaubt es, die klassische Verwässerung der Verantwortung zwischen denen, die verkaufen, und denen, die erzeugen, zu vermeiden: Die Verkäufer sagen sonst immer, dass die in der Produktion alle unfähig sind; und die Leute in der Produktion sagen, dass die Verkäufer völlig unmögliche Versprechungen machen.“ /7/

The Big Boss

Der CEO sieht sich, so schreibt er, nicht selbst als Hierarchiestufe: er mische sich nicht in die Entscheidungen der Mini-Fabriken ein, sondern sehe sich eher als Coach, so wie ein Fußballtrainer am Spielfeldrand das Spiel von außen beobachtet und im Bedarfsfall Tipps gibt.

Das ist vermutlich etwas einseitig gesehen. Aus dem Buch geht hervor, dass Zobrist durchaus strategische Entscheidungen – zum Beispiel zur Entwicklung neuer Produkte – getroffen hat. Vermutlich hat der CEO (Zobrist oder jetzt sein Nachfolger) zwei Funktionen gleichzeitig:


Abbildung 3: Der CEO hat eine Doppelrolle.
  • Er beschäftigt sich mit den übergreifenden Tendenzen sowohl der Produktionsmethoden, der globalisierten Automobilmärkte als auch der Methoden der Organisationsentwicklung. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass FAVI sich immer der neuesten Methoden wie TQM, 5S usw. bedient hat wie auch an vorderster Front des Qualitätsmanagements marschierte. FAVI ist keine Spielwiese von exotischen oder sektiererischen Spinnern.
  • Er wirft einen Blick „von außen“ auf die Minifabriken und erkennt so Tendenzen, die den einzelnen Beteiligten in den Minifabriken nicht bewusst werden. Er spielt so eine Rolle wie die „Paten“ für jede einzelne Fabrik. Von daher sein Bild als „Fußballcoach“.

Warum klappt das?

Zwei Faktoren scheinen mir entscheidend für den Erfolg des Modells:

  1. Der direkte Kontakt des Verantwortlichen zum Gegenstand seiner Entscheidungen. Im Falle des Arbeiters sind das seine Arbeitsmittel, im Falle der Minifabriken ist es der Kunde. Dem Entscheider ist der Erfolgsmaßstab sofort und direkt klar: die Maschine funktioniert bzw. der Kunde ist zufrieden. Diese Erfolgsmaßstäbe werden zudem unternehmensweit durch ein gelebtes Leitbild verstärkt (im Falle von FAVI: „Wir streben nach der Liebe unserer Kunden.“)
  2. Das Coaching. Jeder Entscheider wird durch einen „externen Beobachter“ begleitet, der ihn auf Entwicklungen aufmerksam macht (aber ihm die Entscheidung dadurch nicht abnimmt). Auf der Ebene der Minifabrik ist das der Pate, beim Gesamtunternehmen der CEO. – Das erinnert übrigens an die Rolle des Scrum-Masters bei agiler Softwareproduktion.

Und was nun?

All diese Überlegungen beruhen (noch) auf Anekdoten: auf einzelnen Erfahrungen in einer einzelnen Firma. In einem solchen Einzelfall aber ist die Zahl der beeinflussenden Faktoren so groß, dass man nicht sicher behaupten kann: Die Organisationsmethoden waren das Entscheidende für den Erfolg von FAVI.

Und selbst wenn es so wäre: Was kann dieses Beispiel für uns praktisch bedeuten? Schafft eure mittleren Führungskräfte ab? Zieht nach Frankreich und heuert bei FAVI an?

Liebe Leser: Wie soll ich das wissen? Aber wie immer, wenn ich etwas nicht weiß, werde bald einen Blogartikel dazu schreiben. Dann kann ich ihn hinterher auch lesen und bin schlauer.

Anmerkungen

  • /1/ „Aufgaben delegieren: Ein ziemlich unproduktives Verfahren“, http://www.teamworkblog.de/2014/11/aufgaben-delegieren-ein-ziemlich.html, und „Aufgaben delegieren: Tanz mit mir den Eiertanz!“, http://www.teamworkblog.de/2014/11/aufgaben-delegieren-tanz-mit-mir-den.html.
  • /2/ Jean-François Zobrist: La belle historie de FAVI. L’entreprise qui croit que l’Homme est bon. Tome 1: Nos belles histoires. Humanisme & Organisations Éditions, Paris, 2007. Siehe auch den Internetauftritt unter www.favi.com.
  • /3/ Buch von Zobrist, Seite 45
  • /4/ Seite 23.
  • /5/ Als eine seiner ersten Maßnahmen hat Zobrist die Sprache geändert. Statt von Arbeitern (ouvriers) sprach er von einem Tag auf den anderen nur noch von Werktätigen („opérateurs“). Da dieser Begriff im Deutschen aber als Teil eines politischen (sozialistischen) Slangs besetzt ist verwende ich im deutschen Text weiter das Wort „Arbeiter“.
  • /6/ Seite 19.
  • /7/ Seite 22 f.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie lassen sich Ergebnisse definieren? - Drei Beispiele (WBS, CBP und BDN)

Ich habe schon darüber geschrieben, warum das Definieren von Ergebnissen so wichtig ist. Es lenkt die Aufmerksamkeit des Projektteams auf die eigentlichen Ziele. Aber was sind eigentlich Projektergebnisse? In diesem Beitrag stelle ich drei Methoden vor, um leichter an Ergebnisse zu kommen.

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Wie Agilität den Kundennutzen steigert - Einige Argumente für Berater:innen

In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit fragen sich viele, ob agile Beratung noch eine Zukunft hat. Die Antwort liegt in der konsequenten Orientierung am Kundennutzen. Qualität setzt sich durch, wenn sie messbare Verbesserungen bei Umsatz, Kosten und Leistungsfähigkeit bewirkt, anstatt sich in Methoden und zirkulären Fragen zu verlieren. Dieser Artikel zeigt, wie agile Beratung nachhaltige Veränderungen in Unternehmen schafft und warum gerade jetzt gute Berater:innen gebraucht werden, um Organisationen widerstandsfähiger zu machen.

Warum eine Agile Transformation keine Reise ist

Die agile Transformation wird oft als eine Reise beschrieben. Doch dieser Vergleich kann viele Unternehmen in die Irre führen oder Bilder von unpassenden Vergleichen erzeugen. Transformationen sind keine linearen Prozesse mit einem klaren Ziel, sondern komplexe und dynamische Entwicklungen. Dieser Artikel zeigt, warum Agilität kein Weg mit einem festen Endpunkt ist.

Kleine Organisationsveränderungen, die direktes Feedback erzeugen

Große Veränderungen sind in einer Organisation schwer zu messen. Oft liegt zwischen Ursache und Wirkung ein langer Zeitraum, sodass die Umsetzer:innen nicht wissen, was genau gewirkt hat. Hier ist eine Liste mit kleinen Maßnahmen, die schnell etwas zurückmelden.

Agile Leadership – Führst du noch oder dienst du schon?

Die Arbeitswelt verändert sich. Und das spüren nicht nur Führungskräfte, sondern vor allem Mitarbeitende. Immer mehr Menschen hinterfragen den Sinn ihrer Arbeit, erwarten Respekt, Vertrauen und eine Unternehmenskultur, die echte Zusammenarbeit ermöglicht. Studien wie die Gallup-Studie 2025 oder die EY-Jobstudie zeigen: Der Frust am Arbeitsplatz wächst – und mit ihm die Unzufriedenheit mit der Führung. Höchste Zeit, umzudenken. Genau hier setzt agile Führung an. 1. Warum agile Führung heute entscheidend ist  Klassische Führung – hierarchisch, kontrollierend, top-down – funktioniert immer weniger. Die Zahlen sind eindeutig:  Laut Gallup fühlen sich nur noch 45 % der deutschen Beschäftigten mit ihrem Leben zufrieden. Fast jede dritte Kündigung erfolgt wegen der Führungskraft. Nicht das Gehalt, sondern mangelnde Wertschätzung, fehlendes Vertrauen und ein schlechtes Arbeitsumfeld treiben Menschen aus Unternehmen.  Agile Führung bietet eine Alternative, die auf Vertrauen, Selbs...

Ent-Spannen statt Platzen: Erste Hilfe für mehr Vertrauen und Resilienz im Team

Zwei Themen die mir in den letzten Wochen immer wieder über den Weg laufen sind Vertrauen und Resilienz. Vertrauen als das Fundament für gemeinsame Zusammenarbeit und Resilienz als die Fähigkeit, Herausforderungen, Stress und Rückschläge zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen.  In dem Blogpost möchte ich ein paar Erste-Hilfe Interventionen teilen, die zu mehr Vertrauen und Resilienz im Team führen können - gerade wenn die Emotionen hochkochen und es heiss her geht im Team. Die „Mist-Runde“: Ärger Raum geben. In konfliktbeladenen oder belasteten Teams kann es eine große Herausforderung sein, eine offene Kommunikation und ein respektvolles Miteinander zu fördern. Eine einfache, aber äußerst effektive Methode, um Spannungen abzubauen, ist die „Mist-Runde“ . Diese Intervention, die ich zuerst bei Veronika Jungwirth und Ralph Miarka kennengelernt habe, gibt den Teilnehmern einen geschützten Raum, in dem sie ihre Frustrationen und negativen Gedanken ohne Zensur äußern können un...

Microsoft Lists: mit Forms und Power Apps komfortabel mobil arbeiten

In meinem Kundenkreis sind viele Menschen, die den Arbeitsalltag nicht vorwiegend auf dem Bürostuhl sitzend verbringen, sondern "draußen" unterwegs sind. Vielleicht in Werkstätten oder im Facility-Management. Es ist so wichtig, dass die Schnittstellen zu den Abläufen im Büro gut abgestimmt sind. Microsoft 365 hat so einiges im Baukasten, man muss es nur finden und nutzen.  In diesem Artikel spiele ich ein Szenario durch, das auf Microsoft Lists, Forms und - für die Ambitionierteren - Power Apps setzt.

Selbstbewertungsfragen für den Alltag in Arbeitsgruppen aus Sicht von Mitarbeitenden

Welche Fragen können wir Mitarbeiter:innen stellen, um herauszufinden, ob agiles Arbeiten wirkt? Es gibt bereits eine Menge an Fragebögen. Aber ich bin nicht immer zufrieden damit.