„Unser Führungsverständnis und unsere Kultur haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder fundamental verändert. Das,was wir als gesellschaftliche Wirklichkeit bezeichnen, beruht auf temporären Abmachungen. Während wir in ihnen stecken, erscheinen uns diese Realitätskonzepte unabänderlich – bis wir beschließen, sie hinter uns zu lassen.“ So lese ich es in einem sehr verbreiteten, noch nicht alten Beraterbuch. (Ich verzichte auf den Nachweis, es geht mir hier nicht um den konkreten Autor.) Das Buch fußt auf der Vorstellung, dass alle Wirklichkeit auf unseren subjektiven „Realitätskonstruktionen“ beruhe und eine Änderung der Konstruktion auch die Wirklichkeit ändere.
Das ist – mit Verlaub gesagt – Blödsinn. Der Verfasser illustriert seine Darstellung mit dem Beispiel der Berliner Mauer: 38 Jahre lang sei sie Teil der Realitätskonstruktion in der DDR gewesen. Und auf einmal habe sich das geändert - und husch, war die Mauer fort. (Wahrscheinlich hatten die chinesischen Studenten auf dem Tian An Men-Platz im gleichen Jahr noch ein paar Panzer in ihrer Konstruktion stehen lassen - und das mussten sie teuer bezahlen.) Die Denkweise verstellt meiner Meinung nach den Blick auf die Wirklichkeit und hindert uns, dem Problem „Führung von Organisationen“ realistisch zu begegnen. Was könnte eine solche Begegnung sein? Was kann sie uns versprechen?
Was ist eine Führungskraft?
Ich möchte am Anfang ein wenig Begriffsklärung machen. Ich
schlage eine Definition des Begriffs „Führungskraft“ vor, nicht mit dem
Anspruch auf absolute Richtigkeit, sondern nur für den Kontext des vorliegenden
Beitrags.
Eine Führungskraft ist eine Person, die die Macht hat, Entscheidungen
zu treffen über Dinge, die sie nur unzureichend versteht.
Entscheidungen sind in diesem Kontext gemeint im Sinne „Handlungen
initiieren, die eine ganze Gruppe von Menschen betreffen“.
Macht haben heißt hier: ohne auf mögliches Widerstreben anderer
Personen Rücksicht nehmen zu müssen. (Max Weber)
Mit dieser so passend zurechtgelegten Definition kann ich
jetzt zu drei Schlussfolgerungen kommen:
1.
Es gibt keine „guten“ Führungskräfte. Es gibt
nur mehr oder weniger schlechte.
2.
Forderungen an Führungskräfte, eine bestimmte „Haltung“
zu zeigen oder auch die Entscheidungs-„Prozesse“ in einer Organisation
sachgerechter zu gestalten, treffen nicht den Kern.
3.
Vielleicht gibt es noch andere Ansätze.
1. Es gibt keine „gute“ Führungskraft
Die Aufgabe, unter Unkenntnis gute Entscheidungen zu
treffen, ist unmöglich zu erfüllen. Niklas Luhmann hat behauptet, Organisationen
(„Systeme“) hätten Führungspositionen geschaffen (also „Stellen“ in ihrer Aufbauorganisation),
damit überhaupt Entscheidungen getroffen werden. Denn auch schlechte
Entscheidungen seien besser als gar keine.
Ich sehe es ein wenig anders. Die Stelle des „Chefs“ in
einem inhabergeführten Unternehmen (meist aus der Gründergeneration, wie ein
Wolfgang Grupp) wird durch sein Eigentum an dem Unternehmen definiert. Also aus
der Umgebung des Systems, in unserem Fall aus der kapitalistischen
Marktwirtschaft. Die Stelle des „Bürgermeisters“ in einer deutschen Stadt wird
durch einen Wahlakt festgestellt, stammt also aus dem umgebenden demokratischen
System. In beiden Beispielen findet die Besetzung einer Machtposition durch einen
konkreten Menschen statt, ohne dass eine „Eignungsprüfung“ stattfindet (oder
höchstens sehr indirekt).
Bleiben wir beim Beispiel Bürgermeister. Der Bürgermeister
der kleinen Stadt, in der ich lebe, soll sich mit Wärmekonzept, Neubau einer
KiTa, Unterbringung von Geflüchteten, Ladestationen für Elektromobilität,
Neugestaltung einer Durchgangsstraße und Digitalisierung der Verwaltung und der
Schulen beschäftigen und Entscheidungen treffen. All diese Fachkompetenzen kann
er gar nicht haben. – Bei CEO’s von gewerblichen Unternehmen sieht es nicht
grundsätzlich anders aus. Die (im Nachhinein) beklagten Fehlentscheidungen in
der deutschen Industriepolitik sind Legion.
2. Die Grenzen von Haltungsänderungen und Entscheidungs-Delegation
Die Machtposition der Führungskraft ist unhintergehbar. Sie
selbst kann sie nicht ändern. Ja der systemische Auftrag ihrer Rolle besteht
zum großen Teil darin, die Macht der Position (nicht für sich als Person) zu
verteidigen. Eine Führungskraft kann zwar lieb Delegation-Poker spielen, aber
den Kern ihrer Entscheidungsmacht kann sie so nie abgeben.
Das zeigt sich schon darin, dass sie das Delegation-Poker jederzeit abbrechen kann. Es ist vollständig von ihrem guten Willen abhängig, und das weiß natürlich jeder Pokerpartner. Dieser Fakt ist der Elefant im Raum, um den herum das Spiel als Tanz geführt wird.
Wenn ich meine „Realitätskonstruktion“ von der Macht des CEO oder des Bürgermeisters ändere, ändere ich an dessen Macht keinen Deut. Die Macht ist nämlich fundiert durch den Zugang zu Kapital. Und zwar in einem Fall finanziellem Kapital und in anderem staatlichem Herrschaftskapital (Pierre Bourdieu). Und das kriege ich nicht weg, indem ich die Augen schließe und sie ganz fest in meinem Herzchen wegdenke.(Mit „zynisch“ habe ich oben gemeint: Im Querdenkermilieu wird die Formel verbreitet: „Wenn wir unser Bild von Putin als Aggressor ändern, dann ändert sich auch Putin.“–Hier wird es wirklich lebensgefährlich.)
Die Machtposition der Führungskraft ist unhintergehbar. Sie selbst kann sie nicht ändern. Ja, der systemische Auftrag ihrer Rolle besteht zum großen Teil darin, die Macht der Position(nicht für sich als Person) zu verteidigen. Eine Führungskraft kann zwar lieb Delegation-Pokerspielen, aber den Kern ihrer Entscheidungsmacht kann sie so nie abgeben. Das zeigt sich schon darin, dass sie das Delegation-Poker jederzeit abbrechen kann. Es ist vollständig von ihrem guten Willen abhängig, und das weiß natürlich jeder Pokerpartner. Dieser Fakt ist der Elefant im Raum, um den herum das Spiel als Tanz geführt wird.
3. Das Führungsdilemma als heiße Kartoffel
In ihrem Dilemma delegiert die Führungskraft die
Vorbereitung ihrer eigenen Entscheidung an Berater. Das können externe Berater
sein oder interne Berater (z.B. Digitalisierungsbeauftragte, auch Product Owner
gehören in der Umsetzungsphase dazu). Aber damit beseitigt sie das Dilemma
nicht, sondern gibt es weiter.
Ich bleibe mal wieder beim Beispiel „Bürgermeister und die
Wärmeplanung“. (Ich könnte genausogut „Bankvorstand und Digitalisierung“
nehmen, aber die Wärmeplanung beschäftigt mich gerade ehrenamtlich.) Unser
Bürgermeister tut folgendes:
· er beauftragt ein Fachbüro als externe Experten mit der konkreten Planung
· das Fachbüro erstellt den Plan
· der fertige Plan wird in einer zweistündigen Versammlung den Bürgern vorgestellt
· der fertige Plan wird vom Stadtrat gebilligt
· das Projekt geht in die praktische Umsetzung.
Das Fachbüro erbt auf diese Art das Dilemma. Ihm wird
nämlich vom Auftraggeber unterstellt, es wisse,
was ein Wärmeplan ist. Und das Fachbüro hatte genau das ja auch in seinem
Angebot an die Stadtverwaltung behauptet (sonst hätte es den Auftrag nicht
gekriegt). Eine Wärmeplanung ist aber nicht nur eine technische Aufgabe, sondern eine gesellschaftliche. Die betroffenen
Einwohner müssen bewerten können, ob eine schwimmende Photovoltaik-Anlage
auf dem See für sie in Frage kommt oder ein gemeinsames Nahwärmenetz mit
Geothermie oder 1.000 individuelle Wärmepumpen. Das sind Sinnfragen, Fragen
nach dem „Was?“ – während das Fachbüro kompetent nur ist bei den technischen
Fragen, Fragen nach dem „Wie?“.
Eigentlich müssten jetzt die Betroffenen schon in die Planung
einbezogen werden. (Und das unterscheidet unser Beispiel nicht von der
Einbeziehung der Eltern bei einem Kita-Bau oder der Beteiligung von
Mitarbeitenden bei Einführung von Dokumentenmanagement). Aber eine solche
Einbeziehung geschieht nicht. Zumindest in 90% der Fälle nicht. Und zwar
wiederum nicht aufgrund einer falschen „Haltung“ der beauftragenden
Führungskraft, sondern weil sie subjektiv im besten Glauben ist, sie könnte die
Frage nach dem „Was?“ schon selbst beantworten. Das sei ja gerade ihre
Funktion, das zu wissen – als Firmeninhaber oder gewähltes Stadtoberhaupt. Und
was man delegieren könne, habe sie ja delegiert, streng nach Delegation-Poker. –
Diese Trennung zwischen „Was“ und „Wie“, die auch der agilen Welt nicht fremd
ist, wird dem Projekt zum Verhängnis.
4. Ausbalancierende Strukturen
Was heißt hier Verhängnis? Niemand spricht nach einem so
technokratisch umgesetzten Projekt von Misserfolg. Der kommunale Wärmeplan ist
erstellt, die Kita gebaut, die Geflüchteten gepfercht, das Dokumentenmanagement
eingeführt. Ob die Projektkunden – die Gebäudebesitzer, die Eltern und ihre
Kinder, die Geflüchteten oder auch die Software-Anwender zufrieden sind, fragt hinterher
kein Mensch. Und noch weniger: ob sie nicht noch viel zufriedener sein könnten,
wenn sie ihre Anregungen und Bedürfnisse hätten äußern können.
Aus sich selbst heraus entwickeln nur wenige Organisationen
den Impetus, Projektkunden in die Projektentwicklung einzubinden (mit Ausnahme
zahlender Kunden von Privatunternehmen, aber nicht interne Kunden wie die
Mitarbeiter). Was also tun?
Im öffentlichen Sektor entwickelt sich ganz langsam eine
interessante Bewegung: die der Bürgerräte. Bürgerräte sind Foren, bei denen
ausgewählte Bürger:innen (oft nach dem Zufallsprinzip bestimmt) Erwartungen an
Projekte äußern und ihre strategische Ziele mit bestimmen können. Das
beschneidet die Macht der jeweiligen obersten Führungskräfte (Bürgermeister und
Landräte), verringert aber auch ihre Einsamkeit. Bei öffentlichen Verwaltungen,
die dies schon sehr lange praktizieren und Erfahrungen gesammelt haben, gelten
Bürgerräte nicht als zusätzlicher Aufwand, sondern als zuarbeitende Gremien.
Sie nehmen der Verwaltung Arbeit ab.
In solchen Strukturen wird aus der herkömmlichen Dualität
In Privatunternehmen und teilweise auch in Verwaltungen gibt
es ein Modell, das den Mitarbeitenden eine gewisse Führungsrolle zubilligt. Das
sind die sogenannten „Teams der Willigen“ (bisweilen auch „Allianzen der
Willigen“), in denen innovationshungrige Beschäftigte gemeinsam
Verbesserungsprojekte starten dürfen.
In beiden Modellen – Bürgerräte und Teams der Willigen –
bilden sich neue Aufbaustrukturen heraus, die um die Machtfrage nicht wie um
den heißen Brei herumschleichen, sondern sie in realistischer Weise adressieren.
Hinweise
- Edgar Rodehack hat das Thema „Macht und Agilität“ am 08.6.2020 hier im Blog beleuchtet.
- Jan Fischbach thematisiert in einem Blogpost vom 4.10.22021 das Thema „Macht und Autorität in Scrum-Teams“.
- Über Bürgerräte habe ich auf dem CST-Blog eine ausführlichere Darstellung veröffentlicht.
- Über das „Team der Willigen“ hat Petra Albers auf dem Blog des ForumsAgile Verwaltung berichtet.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen