"Einfach so tun als ob"... Vom Bürokratiemonster zur selbstorganisierten Organisation in Eigenregie - Interview mit einer Geschäftsführerin, die es gewagt hat! (1/2)
Eine hierarchiefreie Organisation in einem bürokratischen Umfeld ist reine Utopie?
Ein freier Träger der Kinder – und Jugendhilfe in Berlin hat es gewagt: Wir arbeiten hierarchiefrei! Eine Erfolgsgeschichte - mit knapp 40 Mitarbeiter:innen.
In einem zweiteiligen Interview erzählt die Geschäftsführerin Cornelia Adolf von ihren Erfahrungen.
Wir haben das Grundprinzip der Familienarbeit auf unsere Organisation übertragen: Verantwortung da lassen, wo sie hingehört. Das Prinzip beruht auf der Annahme, dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, Verantwortung zu tragen und die einzigen sein sollten, die sie tragen für sich und ihre Kinder. Unsere Aufgabe besteht darin, Kontexte für Veränderung zu gestalten , dass Menschen diese Verantwortung in ausreichendem Umfang annehmen können.
Die Rolle der Geschäftsführung
Maria:
Du hast die Geschäftsführung 2015 übernommen. Bis vor wenigen Jahren wurde noch streng hierarchisch geführt? Was hat den Startschuss gegeben?
Cornelia:
Diese stark hierarchisch geprägten Strukturen haben zu Phänomenen und Problemen
geführt, die wir nicht gut lösen konnten . 2019 saß ich in einem
Kongressvortrag über hierarchiefreie Führung. Das hat mich infiziert und ich
habe mich intensiv damit beschäftigt und Schritte unternommen.
Ich verstehe mich in meiner Rolle als Geschäftsführerin dafür verantwortlich, die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Ich organisiere, dass die Arbeitsbedingungen gut sind. Ich organisiere Ressourcen die notwendig sind. Ich schaffe Strukturen und begleite die Prozesse so, dass die Arbeit der Mitarbeiter:innen sinnvoll gestaltet werden kann. Das ist mein Job! Ich habe keinerlei Weisungsbefugnisse mehr. Die rechtsgeschäftliche Vertretung nach innen und außen gehört selbstverständlich immer noch zu meinen Aufgaben in meiner Rolle als Geschäftsführung. Diese Aufgaben sind nicht gekoppelt an hierarchisches Durchregieren.
Hierarchiefreiheit als Top Down Entscheidung
Wir
haben eine Veranstaltung für alle Mitarbeiter:innen organisiert, in der die
Entscheidung offiziell an die Mitarbeiter:innen verkündet wurde.
Wir
wurden mit dem Know How ausgestattet, das wir brauchten, um die Veränderung
selbst gestalten zu können. Zwei Workshops haben wir dazu durchgeführt. Wir haben
nötige Methoden und Techniken gelernt. Wir haben gelernt, selbst organisiert
Entscheidungen zu treffen. Wir haben gelernt strukturiert Konflikte zu lösen,
ohne eine Führungskraft dazu ziehen zu müssen. Wir haben gelernt, wie wir
unsere Prozesse gestalten können. Welche Leitungsaufgaben es zu verteilen gibt.
Wir haben Rollen definiert – wer übernimmt wofür die Verantwortung.
Wir
haben gelernt, WIE wir es machen können.
Motto: „So tun als ob wir schon hierarchiefrei sind“
Ab dem Punkt galt: ab heute tun wir so, als ob wir keine Hierarchie mehr hätten und machen einfach das, was wir verabredet haben. Ein Experiment unter dem Motto: So tun als ob – eine klassische systemische Intervention aus der Familientherapie. Wir tun so, als ob die Lösung schon gefunden wäre , mal schauen was passiert. Das haben wir getan. Deshalb war der Prozess kein langer Übergang. Damit haben wir einen Weg gefunden, es einfach zu machen.
Gnadenlos Ausmisten, was nicht hilfreich ist
Cornelia: Wir haben gnadenlos ausgemistet. Dinge, die nicht gelebt werden, fliegen weg. Da sind viele Handbücher und Arbeitsanweisungen sind über Bord gegangen. Geblieben ist, was uns tatsächlich im Alltag und in der Kooperation nach Innen und Außen hilft. Aufgeschrieben wird nur, was nötig und hilfreich ist. Aufgeschriebene Dinge müssen mit Handlungen untersetzte werden. Alles andere ist Verschwendung.
Kein Gesetzt schreibt vor: „Du musst hierarchisch führen!“
Maria: Inwiefern passt euer hierarchiefreies, schlankes Konzept zu der bürokratischen Anforderung eures Umfeldes? Gerade in eurem Bereich der Familienhilfe gibt es sicher viele Vorgaben?
Cornelia: Ich war skeptisch, ob zuständige Aufsichtsbehörden mit einer hierarchiefreien Organisation einverstanden sein werden. Erstaunlicherweise gab es hier zwar Irritationen, aber es gibt kein Gesetzt, das dir vorschreibt: „Du musst hierarchisch Führen“. Es gibt Vorgaben, Dokumentationspflichten und Informationsketten, die wir klar einhalten. Die organisatorische Gestaltung ist uns überlassen.
Spürbare Veränderung nach Innen und Außen
Cornelia: Eine Steigerung der Motivation, Flexibilität, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit war deutlich für alle spürbar. Entscheidungen werden wesentlich schneller getroffen. Die Mitarbeiter:innen haben eine hohe Arbeitszufriedenheit, trotz allen Belastungen, die es im Arbeitsalltag so gibt. Gerade während der Pandemie. Unser Umfeld hat wahrgenommen, das es den Mitarbeiter:innenn gut geht.
Cornelia: Wir hatten natürlich ein paar Skeptiker dabei. Sie haben vor allem gesehen - es passiert nichts Schlimmes. Die Sorge ist ja: wer trägt die Verantwortung, wenn Führung wegfällt. Wer hält den Kopf hin. Mitarbeiter:innen haben es daran gemerkt, dass wir nicht pleite gegangen sind, um es banal auszudrücken. Wir können angemessene Gehälter zahlen, sie können Entscheidungen treffen. Sie bekommen positives Feedback von außen für ihre Arbeit. Wir veranstalten jedes Jahr gemeinsam eine Teamklausur in einem Tagungshotel, bei der wir anliegende Themen bearbeiten, gemeinsam zu Abendessen und Zeit verbringen. Das war früher ein Leitungsluxus.
Cornelia:
Unser Auftrag ist es, Familien darin zu unterstützen, dass Kinder bei ihren
Eltern leben können, ohne Gefahren ausgesetzt zu sein. Das Kinder partizipativ
an der Gesellschaft teilhaben können und zur Schule gehen. Hier haben wir eine
Erfolgsquote von 90%. Eine Quote, die beziffert, inwieweit die investierte
Hilfe zur gewünschten Veränderung geführt hat. Der Schnitt sonst liegt eher bei 60-70%. Dieser Erfolg ist nicht direkt auf die Organisationsstruktur zurückzuführen.
Die geschaffene Organisationstruktur hat wesentlich dabei unterstützt, das sich
Mitarbeiter:innen auf die fachliche Arbeit mit den Familien fokussieren konnte.
Hier geht es zu Teil 2 des Interviews Unbedingt lesen!
zur kostenfreien Session
Datum: Mittwoch, 03.05.2023
Zeitraum: 12:15 Uhr bis – 13:15 Uhr via Zoom.
Über die Interviewpartner
- Consultant in systemisch agilen Kontexten
- Blogautorin & Speakerin
Kommentare
Kommentar veröffentlichen