Eine dürre E-Mail aus dem Bundesinnenministerium informierte am 11. Mai 2015 die „Nutzer/innen der Nationalen Prozessbibliothek“ von deren Einstellung zum 30.06. Die „föderale Gesamt-Finanzierung“ habe schließlich nicht gesichert werden können. Aber das Scheitern der NPB lag nur oberflächlich betrachtet am Geld. Tiefere Ursache war das merkwürdige Prozessverständnis, das nach wie vor in der deutschen öffentlichen Verwaltung (und durchaus auch darüber hinaus) herrscht. Und das ist ein näheres Hinschauen wert.
Prozessoptimierung aus Hoffnung auf Kosteneinsparung
Bis Ende Juni war die Website www.prozessbibliothek.de noch aktiv und ein Hinweis auf die beabsichtigte Schließung des Portals war dem Besucher nicht gegeben. Erst seit dem 10. Juli 2015 ist die Seite abgeschaltet.
Aktueller Ausgangspunkt des Projekts war die EU-Dienstleistungsrichtlinie von 2008. Im Kern geht es dabei – ebenso wie dem folgenden deutschen eGovernment-Gesetz von 2013 – um die voll-digitale Bearbeitung von Bürgeranliegen durch die öffentliche Verwaltung (Bund, Länder, Gemeinden). Die Verwaltungen sind verpflichtet, in den nächsten Jahren den Bürgern elektronische Verfahren anzubieten, bei denen ihre Anliegen „von der Antragstellung bis zur Genehmigung“ ohne Medienbruch (Papierausdruck, manuelle Unterschrift usw.) abgewickelt werden können.
Im Bundesinnenministerium und bei einigen kommunalen Verbänden entstand daraufhin die Phantasie, aus dieser Notwendigkeit einen Rationalisierungsgewinn zu schlagen: „Das Verwaltungshandeln wird sich in Zukunft an den besonderen Herausforderungen des Fachkräftemangels (…) und weiter ansteigendem Kostendruck neu orientieren müssen. (…) Prozessmanagement trägt durch die Schaffung von Transparenz zu Aufgabenstrukturen und Aufgabenbewältigung zur Lösung der anstehenden Herausforderungen bei. Optimierungspotentiale können anhand von Ablaufkritiken herausgearbeitet, gesteuert und kontrolliert werden.“ /1/
Der Traum vom 100%ig definierten Prozess
Die Prozessbibliothek sollte nun Verwaltungsprozesse (zum Beispiel „Antrag auf Gewerbeanmeldung bearbeiten“) sammeln, gegenüberstellen und schließlich standardisieren.
„Alle Rahmenbedingungen vollständig zu erfassen und Auswirkungen von Veränderungen mit 100 Prozent Erfüllungsgrad hervorzusehen, ist für einen Einzelnen sehr schwierig bis unmöglich. Hierfür bedarf es einen Austausch zwischen Entscheidungsträgern und den entsprechenden Fachexperten.“ /2/
Eine solche Formulierung muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. „Eine Prozessbeschreibung mit 100 Prozent Erfüllungsgrad“. Dazu sollten alle Verwaltungen ihre Prozessbeschreibungen in einer Datenbank hinterlegen und mit Hilfe externer Begleiter (diverse Forschungsinstitute und private Beratungsfirmen) standardisieren. Und das als umfassender „Quasi-Standard“ für alle zig-Tausend Verwaltungen in Deutschland und all deren Prozesse.
Man könnte jetzt denken, das sei „typisch bürokratisches Denken“. Dass trifft aber meiner Meinung nicht den Kern der Sache. Es ist typisch industrielles Denken. Es sind ja gerade die Modernisierer in den Verwaltungen, die solche Projekte pushen und regelmäßig scheitern. Und das ist das Interessante an der Sache.
Die Transition zur Dienstleistungsökonomie
Meine These ist: Wir leben mittlerweile (noch nicht sehr lange) in einer Dienstleistungsökonomie, aber unser Denken ist industriell. Und die beste Illustration dafür ist das Projekt „Prozessdatenbank“.
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Wirtschaftssektoren. Die Zahlen sind entnommen dem Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. /3/ Im Jahre 1950 betrug der Anteil der drei Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen jeweils rund ein Drittel an der Erwerbsbevölkerung. Inzwischen sank die Agrikultur auf 3%, die Industrie auf 21%, während der Anteil der Dienstleistungen auf 76% zunahm (Zahlen von 2012).
Abbildung 1: Der Dienstleistungssektor umfasst heute 76% der Arbeitsplätze |
Die Aufteilung in diese drei Sektoren ist deshalb heute überholt. Sie wurde gerade um 1950 entwickelt, als sie noch sinnvoll war. Heute wäre es viel interessanter zu wissen, was sich innerhalb des Dienstleistungssektors getan hat. Der umfasst ja bekanntlich Kellner und Friseure (die gab es 1950 auch schon) wie Grafikdesigner und Softwareentwickler. Gerade diese letzteren Berufsgruppen stellen aber die „knowledge worker“ dar und damit das wirklich Neue an der Entwicklung.
Die Dienstleistungsökonomie unterscheidet sich laut Piketty von der Industrieproduktion durch ihren geringen Produktivitätsfortschritt. Um 1880 kostete das billigste Fahrrad etwa sechs durchschnittliche Monatsgehälter. 1970 kostete ein viel besseres Fahrrad weniger als ein Wochengehalt, also ein technischer Fortschritt um das 40fache. Ein Friseurhaarschnitt, ausgedrückt in Durchschnittseinkommen, ist aber heute sogar etwas teurer als damals. /4/
Die Frage, wie man Produktivitätsfortschritt bei Dienstleistungen organisiert, ist also eine brennende und durchaus nicht gelöste Frage. Und natürlich kann man nicht alles über einen Kamm scheren und wird nach Friseuren, Prozessen der öffentlichen Verwaltung und Wissensprozessen unterscheiden müssen. (Auch Techniken der Selbstorganisation, wie wir vom Teamwork-Blog sie eher vertreten, müssen sehr differenziert angewendet werden. Sonst wird aus einer empirischen Methode ein Mantra.)
Der Standardisierungsansatz geht in der Dienstleistungsökonomie fehl
Was aber von vornherein überhaupt keinen Erfolg verspricht, ist der Weg der Prozessoptimierung als Standardisierung („100%ig!“), der dann in IT-Workflows gegossen und verewigt wird.
Abbildung 2: Prozessoptimierung als Spiritismus: Beschwörung von Taylor als Gespenst /6/ |
Das Cynefin-Schema teilt bekanntlich die Prozesse ein in:
- einfache Prozesse
- komplizierte Prozesse
- komplexe Prozesse
- Prozesse in chaotischen Kontexten. /5/
Bei allen anderen Prozessen hilft kein Fließband, es gibt es keine unabänderlichen Abläufe und „best practice“-Lösungen. Weil es sich nämlich in der öffentlichen Verwaltung überwiegend um komplizierte und zunehmend auch komplexe Prozesse handelt und es in diesen überhaupt keine eindeutige Lösung gibt. Und diejenigen Kräfte in den (vor allem) kommunalen Verwaltungen, die sich hier um Verbesserungen bemühen, sind seit mehr als zwei Jahrzehnten in Prozessoptimierungsprojekten verstrickt. Die bringen wenig Erfolg und füllen meterweise Regale.
Das eigentliche Problem bei der Prozessoptimierung ist aber, dass diese den Blick einseitig auf das "Wie" einer Aufgabenerledigung richtet und das "Was" und das "Wer" außer Acht lässt. Also gerade die Fragen, bei denen die agilen Ansätze innovativ und deshalb stark sind.
Die Begründung für diese Behauptung steht im Fortsetzungs-Post http://www.teamworkblog.de/2015/07/warum-prozessoptimierung-bisweilen-die.html.
Anmerkungen
/2/ ebda.
/3/ Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, C.H.Beck, dt. Ausgabe, 2014, ISBN 9783406671319. Die Zahlen der Grafik entstammen der Tabelle 2.4, Seite 127. Die Werte beziehen sich auf Frankreich, weil es für Deutschland aufgrund der politischen Teilungen kohärente Statistiken nicht über diesen Zeitraum vorliegen. Die deutschen Verhältnisse dürften sich aber wenig unterscheiden.
/4/ das., S. 125-127
/5/ http://www.teamworkblog.de/2015/05/wie-adaptiv-sind-ihre-prozesse-teil-1.html
/6/ Quelle: http://www.salesforceben.com/8-essential-service-cloud-workflows/
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