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Nochmal nachgefragt: Fördert Agilität die Selbstausbeutung?

Agile Strukturen sind Hierarchien heute oft voraus. Sie sind schneller, flexibler, besser. Das liegt vor allem daran, dass sich Teams selbst organisieren, was Menschen dazu bringt, sich mehr einzubringen und mehr und anders Verantwortung zu übernehmen. Doch befördert das nicht die Selbstausbeutung? Ist Agilität in Wirklichkeit eine Form moderner Sklaverei? 

Den Vorwurf hört man oft: Agilität sei nichts weiter als ein übler Trick, der Menschen und Teams nur dazu bringen soll, sich noch mehr selbst auszubeuten. Wolf Steinbrecher hatte sich deshalb hier im Blog vor einigen Wochen sehr nachvollziehbar mit dieser Frage auseinandergesetzt/1/ Seine Antwort: Nein. Das Gegenteil sei der Fall. Denn erstens handele es sich bei dem, was wir landläufig Selbstausbeutung nennen, in Wirklichkeit um Ausbeutung. Zweitens schaffe Agilität bewusst und mit Ansage Strukturen, um ebendiese Ausbeutung zu verhindern.

Der Grund hierfür liegt im Lean-geprägten agilen Mindset, das Verschwendung und Verluste nach Möglichkeit überall, also auf allen organisatorischen Ebenen permanent einzudämmen versucht - was im Endeffekt das Geheimnis des agilen Erfolgs ist:
  1. Mura - "Unausgeglichenheit"
  2. Muri - "Überlastung"
  3. Muda - "Verschwendung"
Nimmt man es genau - Wolf weist darauf hin - dann bedeutet Selbst-Ausbeutung, dass Menschen selbst und freiwillig (!) entscheiden, sich auszubeuten oder sich ausbeuten zu lassen. Also zusätzliche Dinge zu tun, ohne dass sie etwas davon haben. Doch wie ist das, wenn wir auf Urlaub oder Freizeit verzichten, unbezahlte Überstunden schieben, rund um die Uhr erreichbar sind etc.? Tun wir das wirklich freiwillig? Wahrscheinlicher dürfte sein, dass wir das bewusst oder unbewusst tun, weil wir uns dazu gezwungen, zumindest aber gedrängt fühlen - aus welchen Gründen auch immer./2/ Wenn aber Zwang der Grund für unser Tun ist, handelt es sich eben nicht um Selbstausbeutung. Sondern um Ausbeutung.

Wat mut, dat mut? 


Dass wir trotzdem von Selbstausbeutung sprechen, ist folgerichtig und psycho-logisch. Denn Ausbeutung ist in unserer Leistungskultur tief verwurzelt: Anerkennung (Liebe, Lob, gute Noten, Zeit, Geld, Job, Karriere etc.) bekommen wir heute (fast) ausschließlich gegen Leistung./3/ Von Kindesbeinen lernen wir: Wir werden belohnt, wenn wir tun, was man uns sagt. Das ist für uns ein normales Lebensprinzip, auch wenn wir in immer mehr Lebensbereichen andere Erfahrungen machen können (z.B. in heutigen Eltern-Kind-Beziehungen)./4/ Und weil wir von einem freien Willen in einer freien Welt ausgehen, heißt das, dass wir dieses (zwanghafte) Leistungsmodell für uns auch aus freien Stücken akzeptieren. Wir entscheiden uns ja selbst (!) dafür, also für diese Art von "Ausbeutung". Wir könnten es ja auch z.B. ablehnen.

In der Arbeitswelt (und meist auch im Selbstmanagement) folgen deshalb die allermeisten von uns jeden Tag aufs Neue dem klassischen, hierarchischen, also tendenziell rigiden, autoritär-patriarchalischen Bild davon, wie es zu laufen hat: Weil sie (oder wir) das dürfen oder gar müssen, setzen Mitglieder einer Organisation andere Mitglieder ihrer eigenen oder auch anderer Organisationen unter Druck, um sie zu Dingen zu bewegen, die sie (mutmaßlich) von sich aus nicht getan hätten. Das geschieht in der Regel unbewusst und unreflektiert, aktiv und passiv. Mal also sind wir diejenigen, die einfordern, mal lassen wir zu, dass man uns drängt - alle Sandwichmanager unter uns wissen, was das heißt./5/ Dass es anders laufen kann, kommt uns selten in den Sinn. Obwohl wir immer öfter mit diesem Prinzip an Grenzen stoßen, z.B. wenn wir unzufrieden werden oder zu langsam zu schlechte Ergebnisse produzieren.

Das aber ist der Grund, warum agile Arbeitsrahmen wie Scrum und Kanban anders vorgehen. Manager kontrollieren oder befehlen hier nicht. Sie führen im besten Sinne, sie machen also klar, was die Unternehmens- und/oder Projektziele sind und sorgen für gute Rahmenbedingungen für die Umsetzungsteams. Die Teams und ihre Fachexperten wiederum entscheiden dann über die Umsetzung: Welche Aufgabe hat welche Priorität? Wann wird welche Aufgabe erledigt? Wer macht das? Es soll so wenig Management wie möglich gemacht werden. Und wenn, dann dort, wo es Sinn macht, vor allem also in den Umsetzungsteams. Sie sollen schließlich pünktlich jene Ergebnisse liefern, die man gemeinsam vereinbart hat. /6/

"Wo kämen wir denn da hin...?"


Ständig werden dafür die Erwartungen synchronisiert und wenn nötig Rollen und Entscheidungshierarchien angepasst./7/ Denn je nach Rolle, Aufgabe und Verantwortungsbereich darf und muss (!) jedes Teammitglied selbst und/oder gemeinsam im Team entscheiden, was wann wie be- und abgearbeitet wird. Deshalb achtet Agilität auf die "Souveränität" der Teammitglieder: Wer entscheiden soll, muss seinen Entscheidungsspielraum kennen und braucht dafür Entscheidungsgewalt. Nur so funktioniert das Pull-statt-Push-Prinzip.

Agil zu arbeiten, bedeutet positiv und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und vor allem auch entsprechende Strukturen dafür zu schaffen./8/ Misstrauensgeprägte hierarchischen Organisationsformen haben naturgemäß Schwierigkeiten, dies nachzuvollziehen. In agilen Strukturen jedoch sind Menschen Experten, die auf Augenhöhe arbeiten (also: tatsächlich. Und nicht nur auf der Tonspur). Denn Ihre Aufgabe ist, sich maximal einzubringen, also als Fachleute und auch als Prozessexperten ihrer eigenen Arbeit, die nicht nur ihren eigenen Bereich im Blick haben, sondern auch für das große Ganze denken.

Das ist natürlich auch wertschätzend und motivierend. Aus organisatorischer Sicht ist es vor allem aber schlau: Denn so können die Fachleute machen, was ihnen in hierarchischen Strukturen aufgrund eines bürokratischen (z.B. Reportings) und organisatorischen (z.B. Meetings) Überbaus erschwert wird: Ihre eigentliche Arbeit erledigen. Und zwar dann, wenn es am besten und sinnvollsten ist. Und zudem so organisiert, dass es gut für sie, die Ergebnisse und das Team ist. /9/

Fördert agiles Arbeiten also Ausbeutung oder gar Selbstausbeutung? Es ist nicht auszuschließen, in unserer Leistungskultur halte ich es sogar für naheliegend, dass agiles Arbeiten dafür missbraucht wird. Trotzdem: Es widerspricht allem, was mit agilen Strukturen bezweckt und erreicht werden soll. Für agiles Arbeiten braucht es ein klares, offenes, ein angstfreies Umfeld. Es braucht selbstbewusste Menschen, die im Team gute Ergebnisse produzieren wollen und deshalb gemeinsam lernen wollen und dies auch tun. Fehler, Konflikte und Missstände werden hier regelmäßig gut und zielgerichtet behandelt.

Wo dies - aus Prinzip (!) - nicht geschieht, wo also Menschen stets absichtlich auch nur tendenziell unter Druck und Angst arbeiten, in diesem Sinne also "ausgebeutet" werden oder sich auch selbst ausbeuten, wird schlicht nicht agil gearbeitet. Dieser Zustand ist aber kein Naturphänomen. Es liegt an uns das zu ändern. Wir können das. Allerdings nur, wenn wir uns - selbst - dazu entscheiden.


Hier klicken für alle Artikel von Edgar Rodehack.

Anmerkungen

  • /1/ Wolf Steinbrecher: Agile Werte: Führt Scrum zur Selbstausbeutung? Blogpost auf Teamworkblog vom 12. Dezember 2016
  • /2/ Zum Beispiel, weil wir denken, dass "man" das von uns verlangen kann, aus Angst vor Status- oder Jobverlust oder schlicht, weil automatische Stressmuster greifen. Siehe hierzu: Edgar Rodehack: Organisatorischer Stress ist geschäftsschädigend. Und Körperverletzung. Blogpost auf Teamworkblog vom 29. Mai 2017
  • /3/ Leistung wird dabei interessanterweise als punktgenaues Erreichen einer vorher festgelegten Vorgabe definiert. Das ist in den immer komplexeren, immer weniger planbaren Situationen, die wir heute hauptsächlich vorfinden, ein zweifelhaftes, gefährliches Konstrukt. Denn hier sind wir auf gute kreative Lösungen angewiesen.
  • /4/ Was aber nicht heißt, dass dieses zwanghafte Vorgehen eine Naturgewalt ist, die zufällig stattfindet. Im Gegenteil wurde es bislang recht zielgerichtet forciert. Und das schon mindestens seit Ende des 19. Jahrhunderts. Siehe hierzu: Seit wann wir für die Arbeit brennen – Geschichte der Arbeitsfreude. BR2-Podcast vom 12.6.2017. Und: Donauer, Sabine: Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt. Hamburg, 2015.
  • /5/ Auch wenn wir interessanterweise diese Auffassung davon, wie Menschen sind, Zusammenleben möchten und sich organisieren wollen für viele Lebensbereichen längst schon nicht mehr zu teilen oder gar zu leben bereit sind, z.B. in Familie oder Religion: Wenn es um Unternehmen geht, tun wir uns schwer damit, anderem als Status-Hierarchien zu vertrauen. Deshalb richten wir tagtäglich unser Handeln danach aus. Als Vorgesetzte, die Reportings einfordern. Als Mitarbeiter, die Abläufe befolgen und Dinge tun, obwohl wir wissen, dass sie sinnlos sind und Verschwendung bedeuten. Wir sind offenbar hier noch überzeugt: Es muss jemanden geben, der/die uns oder andere dazu bewegt, das Richtige zu tun. Wenn hier jeder tut, was er will, wo kämen wir denn da hin?
  • /6/ Man kann spöttisch fragen, was neu und anders ist im Vergleich zur klassischen Managementlehre. Die Antwort ist: Wenig. Agilität setzt jetzt aber organisatorisch das um, was wir schon seit vielen Dekaden wissen.
  • /7/ Z.B. entscheidet der Product Owner über die Backlog-Items und deren Abarbeitungshierarchie.
  • /8/ Zum Beispiel indem überflüssige Kontrollstrukturen abgeschafft werden. Das sind im Übrigen jene Maßnahmen, die organisatorische Freiräume schaffen, Potenziale heben und den Blick auf die Wertschöpfung freilegen.
  • /9/ Das ist aber eben nicht Sache des/der Einzelnen, sondern die Entscheidung wird im Rahmen eines geordneten und getakteten Prozess durch das Team gefällt, zu dem auch Management und/oder Auftraggeber gehören.

Literatur & Links



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