Warum opfern wir so viel für den Job, selbst wenn es uns nicht wirklich weiterbringt? Ein paar blasphemische Gedanken zu einem für uns überlebenswichtigen Thema.
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Bild: DALL:E |
Bei meiner Arbeit begegne ich oft engagierten Menschen, die sich voll für die Sache einsetzen und sich auch voll der Arbeit verschreiben. Viele sind bereit, zwar vielleicht nicht alles, doch aber sehr viel für ihren Job zu geben. Und das nicht nur ad hoc in heißen Phasen oder Stoß- und Krisenzeiten. Oft arbeiten viele von ihnen über Jahre hinweg auf diesem Level.
Wenn Menschen mit Freude arbeiten, ist das eine schöne
Sache. Gerade, wenn das im Team funktioniert, stellt sich so ein
gemeinschaftlicher Flow ein – jene Art von Teamspirit, die beweist, dass ein
Team oft mehr ist als die Summe seiner Teile. Schön.
Doch Coaches und Teambegleiter wie ich kommen oft in anderen
Situationen ins Spiel: Wenn es im engagierten Team eben nicht (mehr) rund läuft
und das Gegenteil von Flow den Arbeitsalltag in der Abteilung prägt: Stress,
Streit, schlechte Ergebnisse.
In solchen Situationen lässt sich oft beobachten, dass
Menschen versuchen, sich aus ihrer schwierigen Lage zu befreien, indem sie sich
und anderen noch mehr Druck (a.k.a. Angst) machen. Sie versuchen es mit noch
mehr Engagement: Überstunden, Arbeit zuhause, endloses Grübeln – selbst in
ihrer Freizeit.
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Wenn's läuft, läuft's. (Bild: DALL:E) |
Oft betrifft das Menschen, die ohnehin schon sehr (vielleicht sogar übermäßig) mit ihrer Arbeit identifiziert sind. Um das Problem zu lösen, knien sie sich noch einmal mehr rein – frei nach dem Motto: „Viel hilft viel. Und wenn nicht ich, wer dann?“ Arbeit wird dann erst recht zur Hauptsache. Das Privatleben wird noch mehr zur Nebensache.
Interessanterweise übrigens mit dem Effekt, dass wir – aufgrund des
Tunnelblicks - eher schlechter bei der Problemlösung werden und auch
entsprechend die Leistungen noch mehr in den Keller fahren.
Was wir unter Stress und Druck tun, ist verräterisch. In solchen „Überlebensphasen“ greifen wir nämlich unbewusst und automatisch auf das zurück, was wir gelernt und verinnerlicht haben, wovon wir zutiefst überzeugt sind.
Was bedeutet es also, wenn wir uns so sehr reinhängen? Warum
tun wir das? Oft merken wir doch selbst, dass es der Sache – eigentlich –
längst nicht mehr hilft (oft sogar im Gegenteil, s.o.) oder dass wir persönlich
nicht so viel davon haben, wie wir uns vormachen. Warum meinen wir also, dass
viel Arbeiten auch viel hilft? Und: Haben wir daran schon immer geglaubt?
Lange Zeit war Arbeit vor allem ein Mittel zum Zweck – ein Weg, um sich und seine Familie zu ernähren, auch um Gemeinschaften zu stützen. Viel mehr war es für die meisten von uns nicht. Doch vor etwa 200 bis 300 Jahren, begann sich das ziemlich radikal zu ändern. Warum?
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Arbeit wurde also in so gut wie allen Lebensbereichen existenziell wichtig: materiell, gesellschaftlich, sozial, ja sogar spirituell – und mit all dem auch: individuell. So kam es, dass Arbeit zu einem allumfassenden Identitätsanker wurde, um den wir uns nicht mehr nur spirituell („Ora et labora“), sondern auch praktisch kümmern mussten. Es wurde mehr und mehr zum lebensbestimmenden Thema.
Einen besonders düsteren Ausdruck erfuhr das Leistungsdenken, als im Dritten Reich der Satz „Arbeit macht frei“ auf perfide Weise eingesetzt wurde. Und spätestens mit Beginn der neoliberalen Phase in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde die Idee, dass Leistung über alles entscheidet, zur dominanten Erzählung unserer Gesellschaft. Die Meritokratie – die Überzeugung, dass Erfolg das Ergebnis harter Arbeit ist und dass das auch Sinn macht – wurde zum Leitbild, dem wir uns damals wie heute oft vollständig unterordnen. Und zwar meist unreflektiert und unhinterfragt unterordnen.
(Vielleicht aus archaischer, tief verwurzelter Angst, dass wir sonst verloren sind? Schließlich hören, sehen, erleben wir tagtäglich in ziemlich allen Lebenswelten: Nur, wer sich einbringt und leistet, hat Anspruch auf Gegenleistung, hat also eine Daseinsberechtigung So viel zum Thema Menschlichkeit und Freiheit...)
Die Idee ist ja aber auch verlockend, und wahrscheinlich ist sie deshalb auch so
machtvoll/1/: Wenn wir uns anstrengen, wird alles gut. Schließlich wird belohnt,
wenn man sich reinhängt. Mit harter Arbeit lassen sich also ziemlich alle
Probleme lösen!
Die Realität sieht leider oft anders aus. Das wissen selbst diejenigen,
die an der Spitze stehen - mindestens intuitiv -, dass Leistung allein selten
den Ausschlag gibt. Herkunft, Netzwerke, Privilegien – all das spielt die
größere Rolle.
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Und trotzdem halten wir an der Tellerwäscher-Idee fest, dass Reinhängen vieles möglich macht. Zu schön ist der Gedanke, dass wir unser Schicksal so selbst in der Hand haben. Auch wenn wir uns dabei selbst belügen: Wir arbeiten immer mehr, immer härter – und hoffen, dass es sich am Ende auszahlt.
Dieser Kreislauf hat seinen Preis. Ganz davon abgesehen,
dass die eigentlichen Probleme oft ungelöst bleiben, was Grund genug sein sollte,
unser Vorgehen zu überdenken: Es leiden auch die Leben aller Beteiligten –
mindestens die Qualität dieser Leben. Beziehungen, persönliche Interessen,
Hobbys? Sie rücken in den Hintergrund. Rückenprobleme, Burnout, schlaflose
Nächte – das sind keine Ausnahmen mehr. Sie gehören zur Tagesordnung in einer
Welt, die Leistung über alles stellt.
Wie damals schon rettet uns Arbeit nicht, sie macht uns auch
heute nicht frei. Dieses Versprechen der Leistungsgesellschaft war und ist eine
Illusion. Möglichst große Sicherheit und wahre Freiheit beginnt - genau wie
gute Leistung - dort, wo wir uns erlauben, Arbeit als Teil unseres Lebens zu
sehen, nicht als Zentrum.
Denn das schützt uns davor, Probleme im Arbeitskontext als existentielle persönliche Krisen zu
erleben. Gleichzeitig versetzt sie uns in die Lage, mit diesen Problemen besser,
bedachter, unaufgeregter umzugehen und sie zu lösen. Wir werden besser. In
jeder Hinsicht. Und wir können so die echten Erfolge besser genießen.
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Es geht also darum, die unsichtbaren Regeln zu hinterfragen, die wir unbewusst befolgen. Es geht darum, das unsichtbare – falsche – Narrativ dahinter zu entzaubern und zu entmachten. Um dann unsere eigenen Prioritäten zu setzen. Was wollen wir erreichen? Wozu? Was ist jetzt sinnvoll dafür zu tun?
Welche Geschichten über Arbeit, Leistung und Erfolg glauben
wir – und wie würden wir sie neu schreiben?
Arbeit kann erfüllend sein, sie kann Sinn stiften und uns
Herausforderungen bieten. Aber Arbeit kann immer nur ein TEIL eines guten Lebens
sein.
Also: Wieviel Arbeit wollen wir für unseren Erfolg zulassen?

Edgar Rodehack ist Teamwork-Enthusiast mit einem Faible für agile und gesunde Formen der Zusammenarbeit. Da trifft es sich natürlich gut, dass er das beruflich macht. Er ist Organisationsberater, Business und Agile Coach, Teamentwickler und Moderator. Außerdem ist er ein Mensch mit Frau und drei Kindern, der viel Spaß am Musikmachen, Schreiben und Lesen hat. Mehr über ihn: www.rodehack.de
Anmerkungen
- /1/ Die höchste Form der Machtausübung ist immer dann gegeben, wenn die Machthaber keinerlei Zwangsmittel einsetzen müssen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Menschen aus ideologischen Gründen von sich aus und aus Überzeugung die Dinge tun, die "man" von ihnen verlangt. Am besten absolut unhinterfragt. Das könnte bei uns im Leistungsnarrativ der Fall sein.
Literatur
- Bregman, Rutger: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg, 2020.
- Harari, Yuval Noaḥ: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Pößneck, 2015.
- Ouassil, Samira El; Karig, Friedemann: Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien - wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin, 2021.
- Suzman, James: Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit. München, 2021
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