In einer zufällig zusammengewürfelten Diskussionsrunde haben wir vor ein paar Tagen sehr kontrovers über das Thema diskutiert „Sind die Scrum-Werte überhaupt noch zeitgemäß? Gibt es nicht neuere und bessere Ansätze?“ Zu einem Ergebnis kamen wir natürlich nicht (virtuelle Teeküche). Wir waren uns aber einig, dass wir uns uneinig sind und dass wir das Thema gerne mit anderen erfahrenen Agilisten weiterspinnen wollen.
Und dazu lade ich hiermit ein, zu einer Online-Diskussion mit Jasmin Venini. Die Thesen von Jasmin waren nämlich Anlass unserer kleinen Diskussion, und diese Thesen wird sie uns zu Beginn des Events vorstellen: „5 wirksame agile Prinzipien in Seminaren & Workshops“. Und dann können wir unsere Erfahrungen und Argumente austauschen.
Das Event ist Teil unserer CST-Reihe „Impulse in der Mittagspause“, findet am Mittwoch 18. September 2024 von 12 bis 14 Uhr statt, und man kann sich dazu kostenlos auf Eventbrite anmelden.
Der Ansatz der „5 Prinzipien“
Jasmin Venini hat in einer Masterarbeit an der Uni Basel über agilen Unterricht an Grundschulen nachgedacht. Im Ergebnis kam sie auf ein Konstrukt, das sie "Fünf Prinzipien für den agilen Unterricht" nannte. Zur Erprobung hat sie eine erste Unterrichtssequenz für den Mathematikunterricht entwickelt und mit Lehrerkolleg:innen getestet. Seit einigen Monaten wird das Konzept an der Hochschule für agile Bildung Zürich (HfaB) von verschiedenen Dozenten diskutiert, und es wird damit experimentiert. Auf diesem Weg habe ich von Jasmins Arbeit erfahren.
Die Prinzipien von Jasmin, die sie im agilen Unterricht anzuwenden empfiehlt, lauten:
- Flexibilität
- Zielorientierung
- Autonomie des Teams
- Feedback
- Frameworks.
Ich zitiere hier als Beispiel kurz die Erklärung, die Jasmin Venini zum Prinzip Feedback gibt:
„Einerseits erhalten die Schüler*innen möglichst regelmäßig Rückmeldung darüber, wo sie im Lernprozess stehen. Andererseits behält die Lehrperson die verfolgten Lernziele im Blick und evaluiert fortlaufend, wie es um deren Erreichung steht.“
Ich möchte Jasmin in der Darstellung ihres Ansatzes hier nicht weiter vorgreifen. Ich will aber kurz begründen, warum ich die „5 Prinzipien“ so erfrischend neu finde und warum ich vermute, dass sie uns zu neuen Methoden auch in Beratungen und Workshops führen könnten. Also warum ich den Aufwand treibe, ein Event zu organisieren.
Der feine Unterschied zwischen „Werten“ und „Prinzipien“
Der Ansatz der "Fünf wirksamen Prinzipien" unterscheidet sich zum Beispiel von den "Fünf agilen Werten" im Scrum-Guide. Das sind
- Commitment
- Fokus
- Offenheit
- Respekt
- Mut.
Mit Ausnahme des „Commitment“ richten sich diese Werte an die individuellen Team-Mitglieder. Die sollen die "Werte" durch ihre Haltung zum Leben erwecken.
Ein (nicht ganz) erfundenes Beispiel
Welche Rolle können diese Werte in der Praxis spielen? Schauen wir uns eine typische „Krisensituation“ an. Das Team soll eine App entwickeln. Dabei will es eine API aus einer Toolbox nutzen, die aber auf einmal nicht so funktioniert wie im Handbuch beschrieben. Und die Hotline antwortet nicht.
Jetzt steht das Team vor dem Dilemma: Einen eigenen Workaround für die API zu programmieren, mit ganz schlecht schätzbarem Aufwand (3 bis 30 Tage, sagen die Entwickler im Team). Oder auf eine wichtige Funktionalität im Produkt zu verzichten, die nicht lebenswichtig ist, aber unsere App gerade von anderen Mitbewerbern abheben sollte.
Welche der fünf Scrum-Werte könnten dem Team in dieser Situation eine praktische Unterstützung bieten? Mir fallen „Fokus“ und „Mut“ auf. Mit Fokus ist aber laut Scrum-Guide gemeint, dass wir uns auf „auf [die] Arbeit des Sprints“ konzentrieren sollen. Hm, hilft nicht wirklich viel. Mut im Scrum-Sinn soll bedeuten, „das Richtige zu tun: an schwierigen Problemen zu arbeiten.“
Die Entwickler sagen: „Mut ist gefragt. Also Workaround! Wir strengen uns an, unterhalb von 5 Tagen zu bleiben.“ – Der PO sagt: „Unsinn, Fokus. Das Risiko ist mir zu groß. Wir verzichten auf die Funktion.“
Forderungen nach „Werten“ und Haltungen sind Hindernisse einer sachlichen Kommunikation
Der Scrum-Guide hält im Hintergrund solcher abwägenden Gespräche über sachliche Dilemmata – wie sie immer wieder vorkommen – die Drohung mit persönlicher Wertung bereit. Meinungen von Personen über den Umgang mit einer Situation werden mit Beurteilungen ihrer persönlichen Haltung verknüpft. Haltungen oder Werte sind aber sehr tief verankert und mit der Selbstidentität eines Menschen verbunden. Man kann sie nicht mal so schnell ändern, über Appelle schon gar nicht. Aber man kann sie verwenden, um Urteile über Menschen zu treffen. Damit nährt der Scrum-Guide den sog. „fundamentalen Attributionsfehler“, bei dem wir die Verantwortung weniger in Situationen und Prozessen und mehr bei den Haltungen und dem Charakter von Personen suchen.
In unserem Fall heißt das, dass die Entwickler hinterher in der Teeküche stehen und sagen: "Typisch PO. Vor jedem Risiko zurückschrecken. Ein Zauderer vor dem Herrn.“ Und der PO bucht eine Stunde bei seinem Agile Coach, um sich über das mangelnde Verständnis für Priorisierung beklagen zu können.
Der Ansatz von Jasmin lenkt die Aufmerksamkeit auf die Situation
Und die „Prinzipien“ von Jasmin? Die versprechen gar keine abstrakte Lösung für ein konkretes Problem. Sie spannen nur den Reflexionsraum zwischen „Flexibilität“ und „Zielorientierung“ auf und laden das Team ein, seine Probleme als situative Probleme zu verstehen und nicht als „Werte“ seiner Teamkollegen zu be-werten. „Situativ“ – das ist der entscheidende Ansatz. Den Teammitgliedern fünf Leitplanken an die Hand zu geben, mit denen sie über die Situation nachdenken können. Nicht über die anderen Teammitglieder.
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Heinz Bayer hat den 5 Prinzipien Jasmins Gesicht und Gestalt verliehen. Hier am Beispiel von "Flexy" und "Goaly". Man kann die fünf Figuren aus einem Bogen ausschneiden und in seinen Seminaren und Workshops als externe Unterstützer aufstellen. Dann kann jede:r einen der fünf Helfer aufrufen, wenn die Situation seiner Meinung danach verlangt. Heinz ist bei dem Event dabei. |
Warum ist eigentlich das Diskutieren so schwer?
Noch ein Wort zu den Erfahrungen, die ich bei Vorbereitung des Events gemacht habe. Ich habe Google und Copilot damit beschäftigt, mir Publikationen zum Thema „Scrum-Werte“ zusammenzutragen. Auch mit Stichworten „Projektberichte, empirische Untersuchungen der Wirksamkeit, Diskussionen“. Ergebnis: es gibt keine Projektberichte (sagt Copilot; vielleicht weiß ja einer von euch Lesern mehr?). Es gibt keine empirischen Untersuchungen über das Maß der Anwendung agiler Werte und ihren Nutzen.
Und es gibt keine Diskussionen über das Thema! Ich habe 12 Seiten Google-Trefferliste durchgeklickt und den einen oder anderen Beitrag diagonal gelesen. Alles was ich fand, waren geschätzt 135.000 Beraterwebsites, die ihren Kunden erklärten, was agile Werte sind. Und Artikel und Publikationen, die das „agile Mindset“, das ja angeblich alles zum Guten wendet, in den Himmel loben und dazu die Scrum-Werte heranziehen. Ein einziger
fundierter Beitrag (von Peter Pröll) war in meiner Trefferliste, der sich reflektiert und kritisch mit den Scrum-Werten auseinandersetzt.
Wie kommt es, dass die Verfechter von Scrum, die stolz sind auf ihre empirische Arbeitsweise, die Werte anscheinend ganz aus ihrer Empirie ausschließen? Ich vermute, dass die „Werte“ in der Praxis der alltäglichen Projekte überhaupt keine Rolle spielen. Sie laden natürlich dazu ein, die Haltungen einzelner Personen zu adressieren: „Jens-Malte ist aber nicht besonders offen und neugierig.“ Aber das wird in der Realität weniger Projekt-öffentlich - also in z.B. in Retrospektiven - passieren, sondern eher auf dem Flur, wenn man über Jens-Malte spricht und nicht mit ihm.
Das würde, ketzerisch formuliert, den Werten in Scrum zwei Funktionen zuweisen:
- Die Kanzelansprache. Ich predige Kunden oder Seminarteilnehmern die Scrum-Werte, und das schafft immer ein Gefälle von oben nach unten: Ich als Prediger kenne diese Werte, praktiziere sie natürlich ausnahmslos. Und ihr müsst jetzt schauen, dass ihr auch in meine Höhen steigt. Oder
- Die Drohung mit tendenziellem Ausschluss aus dem Team. „So wenig offen wie Jens-Malte ist, tut er sich schwer, mit uns anderen mitzuhalten.“ Da die Ausschlussdrohung eine der existentiell wirksamsten beim Menschen ist, entfalten die Werte so eine tendenziell disziplinierende Wirkung auf die Einzelnen. Also das Gegenteil von psychologischer Sicherheit.
Vorhang auf zur Diskussion
Und das ist ein weiterer wichtiger Grund für meine Einladung, Jasmin Veninis Ansatz kennenzulernen. Ich habe die Vermutung, dass man damit strukturiert zu mehr psychologischer Sicherheit im Team beitragen kann. Unser Meinungsaustausch wird bestimmt interessant und - na, sagen wir mal: lehrreich.
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