Jasmin Venini hat in einer Masterarbeit über die Anwendungsfelder agilen Unterrichts an Grundschulen nachgedacht. Die Masterarbeit hat sie an der Uni Basel in "Fachdidaktik Mathematik" verfasst; aber vor allem an der Hochschule für Agile Bildung(HfAB) in Zürich hat die Arbeit Wellen geschlagen.
In ihrer Arbeit hat Jasmin zum einen eine umfassende Literaturrecherche zum Basismysterium "Was ist eigentlich Agilität? Und wer äußert sich alles wie dazu?" durchgeführt. Und zum anderen hat sie eine erste Unterrichtssequenz für den Mathematikunterricht und hier speziell für das Thema "geometrische Symmetrie" entwickelt. Im Ergebnis kam sie auf "Fünf Prinzipien für den agilen Unterricht", über die seit einigen Wochen an der HfaB diskutiert und experimentiert wird.
Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Diskussion auch für uns interessant ist. Eng thematisch gefasst für diejenigen unter uns, die als Trainer oder auch als Moderatoren von Workshops arbeiten. Weiter gesehen aber für alle, die gerne ab und zu etwas gründlicher über Agilität nachdenken wollen und hier eine neue, frische Sichtweise kennen lernen.
Heinz Bayer und ich laden ein zu einem Online-Event „Impuls in der Mittagspause“ zu den 5 Prinzipien. Datum: Mittwoch, 18. September 2024, 12-12:55 Uhr. Bitte auf Eventbrite anmelden.
Die 5 wirksamen Prinzipien
Als erstes stelle ich die Prinzipien in ihrer Kurzfassung vor. Heinz Bayer von der HfaB hat seinen Freund, den etwas eigenbrötelnden Zeichner Otto Kraz aus Weit im Winkl im Schwarzwald, gebeten, jedes der Prinzipien zu visualisieren. Dabei wird jedes Prinzip durch eine Figur versinnbildlicht und erhält Körper. Diese Figuren - Flexi, Goaly, Teamy, Feedy und Framy - warten nur darauf, in aktuellen Situationen gerufen zu werden und sich eifrigst zu beteiligen.
Klar ist, dass wir diese Prinzipien uns zu eigen machen müssen, wollen wir sie in der Erwachsenenbildung praktizieren. Die Autorität der Trainerin nimmt einen anderen Charakter an als bei kleinen Kindern (die Publikationen von Gerhard Schwarz sind dafür eine Goldgrube). Aber schon im vorliegenden Kontext liefert uns der neue Ansatz eine Fülle neuer Gesichtspunkte.
Ein Beispiel
Was ist das Besondere an den "Prinzipien"? Meine Eindrücke dazu möchte ich an einer konkreten Situation in einem Team-Workshop in einem Lehrgang illustrieren. Der Lehrgang ist öffentlich, d.h. die Teilnehmer kommen aus verschiedenen Organisationen oder zumindest Abteilungen und findet einmal wöchentlich statt, über einen Zeitraum von mehreren Monaten. D.h. die Teilnehmer sollen sich bereits kennen.
Ich bin der Trainer heute. Es ist kurz vor dem Ende des Workshops und ich stelle die Hausaufgabe vor, die die Teilnehmer bis zur nächsten Woche bearbeiten sollen. Es handelt sich um eine Ist-Analyse der Kommunikationsgewohnheiten per E-Mail: Wie viele interne E-Mails werden von einem durchschnittlichen Kollegen versendet und empfangen? Was sagt das über die "E-Mail-Kultur" aus? Ein Teilnehmer, Claus, protestiert heftig. Er sehe den Nutzen einer solchen Ist-Analyse überhaupt nicht. Die Probleme seien doch allen bekannt, auch ohne aufwändige Mengenerhebungen. Er würde lieber gleich zu Lösungsempfehlungen kommen, das sei viel effizienter.
Was denke ich in dieser Sekunde als Trainer? Und über welche Reaktionsmöglichkeiten verfüge ich? Jedes der drei in Abbildung 1 dargestellten "Modelle" macht mir da ein eigenes, von den anderen beiden Modellen unterschiedenes Angebot.
Nichts von "Charakter", nichts von "Haltung"
Abbildung 6: Konkurrierende Denkraster
1. Objektbezug. Das Modell der 5 Charaktermerkmale ("Big Five") bietet mir an, den Charakter von Claus einzuschätzen. Es bezieht sich also immer auf eine einzelne Person. Und das auf eine statische Weise, eine Eigenschaftszuschreibung, der Art "Claus ist nicht offen für Neues".
Das Modell "Haltungen" lädt auch zur Interpretation des Individuums ein. Ist es "selbstorientiert-impulsiv" oder "eigenbestimmt-souverän"?
Das Modell "Prinzipien" hingegen adressiert die Situation: tangiert Claus mit seinem Verhalten eines der Prinzipien? Es geht darum, die Situation zu ändern, indem man sich neben sie stellt und versucht, quasi von außen auf sie draufzuschauen. Das Objekt des Handelns - das was man verändern will - ist die aktuelle Lage, der Kontext.
2. Adressat und Handlungsorientierung. Die Prinzipien adressieren nicht das Individuum, sondern das Team. Zwar hat "die Lehrperson" eine besondere Rolle inne - besonders "besonders", weil es sich um Kinder und nicht Erwachsene handelt. Aber die Überprüfung, ob ein Prinzip verletzt wurde oder nicht und die Einleitung von allfälligen Maßnahmen kann das Team vornehmen, nicht allein "die Lehrperson". - Das unterscheidet die Prinzipien von den Konzepten "Mindset" und "Haltung", die beide derzeit alle Diskussionskanäle überschwemmen. Und sie sind handlungsorientiert - verkörpert durch Goaly, Feedy und die anderen drei, die man befragen kann, was denn jetzt zu tun wäre.
Weder die Big Five noch die Haltung des "Haltung entscheidet" führen zu Handlungsempfehlungen, zum konkreten Tun im Hier und Jetzt. Den Charakter kann ich sowieso kaum ändern, und die merkwürdige Praxisabstinzenz der psychologischen Deutung ist einer der Hauptkritikpunkte an den Big Five.
3. Gleichheit. Bei den Big Five genauso wie beim Haltungsmodell fühle ich mich als Interpret der anderen Person behaglich. Ich nehme die Rolle des Beurteilenden ein, insofern schreibe ich mir selbst eine Position der Überlegenheit zu. Das Geniale an der Selbstvermarktungsstrategie z.B. von Martin Permantier mit seinen sechs Haltungsstufen ist ja, dass er selbst auf Stufe sieben sein muss - sonst könnte er das gesamte Feld ja gar nicht überblicken.
Jasmin Veninis Vorgehensmodell nimmt auch Autorität in Anspruch, aber ohne manipulative Influencerei. Es ist die Subtilität der Einladung an das Team, ob man nicht bitte dies oder jenes überdenken sollte. Zum Beispiel, ob uns die Einwände von Claus weiterbringen, weil sie uns vielleicht Umwege ersparen. Oder eher das Gegenteil.
Das Team ist gefordert, alle sind beteiligt, prinzipiell wird auf niemanden der Scheinwerfer gerichtet. Die Prinzipien adressieren immer die Situation, aber immer ein bisschen en biais, niemals tout droit, straight on oder feste druff.
Berührung zur "Haltung"
Die fünf "Prinzipien" berühren sich im übrigen doch
mit dem Konzept der Haltung. Wenn wir mit tätiger Unterstützung durch Goaly im
Workshop den Widerspruch von Claus gegen meine Hausaufgabe diskutiere, sind
verschiedene Ausgänge denkbar. Zum Beispiel kann ich meine Auffassung über den
Nutzen der Hausaufgabe revidieren und sie reformulieren oder ganz streichen.
Auf der Beziehungsebene würde sich meine Haltung Claus gegenüber ändern, der
mich spontan mit seinen grundlosen Einwänden kurz vor Feierabend nur genervt
hatte und der mir nun ein paar Milligramm Umdenken abgetrotzt hat. Und bei
allen anderen Beteiligten im Triangel Claus/Team/Trainer würden ähnlich subtile
Haltungsänderungen wirksam.
Will sagen: an die Stelle allgemeiner Predigten über
mangelhaft ausgebildete Mindsets allerorten, gegossen in die Gefäße
zahlungspflichtiger Seminare und immer von der oberen Kathederposition nach
unten gerichtet, tritt hier die Haltungs-Umübung im wirklichen Leben. Was man
so Praxis nennt.
Unterschiedliche Haltungen haben Menschen ja wirklich, und
die einen mögen gemeinschaftsverträglicher sein als andere. Aber in einer guten
Teamsituation können wir einander erreichen /Anmerkung 1/ und situativ
Haltungen ändern, weil wir den Gruppenflow als mitreißender erleben als unsere
intrinsischen Beharrungskräfte. Und wenn das häufig genug geschieht, mögen sie
auch zu tieferen Änderungen führen.
All dies funktioniert über das Teamerlebnis. Die gängigen
Vorträge hingegen tun das Gegenteil, sie verstärken die Vereinzelung. Die
Haltungsänderung soll der Einzelne sich antrainieren wie die Fitness für einen
Marathon. Aber der Geist der Selbstoptimierung ist ja gerade eines der Übel,
die uns in den gegenwärtigen Schlamassel gebracht haben.
Hingegen hat Jasmin uns ein schönes agiles Gericht gekocht,
das nicht in moralinsaurer Mindset-Sauce ertränkt wird. Das war jetzt wirklich
mal an der Zeit.
Anmerkungen
/1/ Mit Ausnahme der Angehörigen der Dunklen Triade, vermute
ich. Also der Menschen mit starken narzisstischen, machiavellistischen und
soziopathischen Persönlichkeitsmerkmalen, die von Anderen nicht erreicht werden
können.
Quellen
Ein erster Post zur
Vorstellung der Prinzipien: https://hfab.ch/2024/04/11/korkies-oder-die-wirksamen-fuenf/
Ein weiterer Post von Christof Arn von der HfaB: https://hfab.ch/2024/04/16/die-wirksamen-fuenf-mein-persoenliches-unterrichtsweiterentwicklungsteam/
Viele Artikel zu den einzelnen Prinzipien und ersten
Erfahrungen mit ihrer Anwendung auf dem Blog der Hochschule für agile Bildung: https://hfab.ch/#blog
Ein Filmchen von Otto Kraz zur Vorstellung Flexi, Goaly,
Teamy, Feedy und Framy auf Youtube: https://youtu.be/W9pcOypq86s?si=J-8Wt6uAtJtVcazb
Schließlich die Arbeit von Jasmin Venini selbst: https://hfab.ch/wp-content/uploads/2024/02/MA_280823_Venini-Jasmin.pdf
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