In meiner Arbeit als Agile Coach sehe ich mich regelmäßig mit Widersprüchen konfrontiert: Autonomie vs. Alignment, Kontrolle vs. Vertrauen, Offenheit vs. Vertraulichkeit. Ich dachte, lange Zeit, ich müsste diese Widersprüche im Team auflösen. Mittlerweile glaube ich, dass es nicht darum geht, gegen diese Paradoxien zu arbeiten, sondern sie produktiv zu nutzen. Seitdem gehe ich entspannter und spielerischer mit Widersprüchen um – und ebenso meine Teams. Aber fangen wir beim Anfang an.
Autonomie vs. Alignment
„Aber die Teams sind doch autonom!“, erwiderte mir Flo enttäuscht, als wir das Alignment Meeting verließen. Flo war Product Owner eines Scrum Teams in einem skalierten Umfeld. In dem Alignment Meeting stimmten die Teams sich dazu ab, wie sie bestmöglich die Ziele für die nächste Iteration erreichen können. Im Meeting hatte sich abgezeichnet, dass Flos Team seinen ursprünglichen Plan verwerfen musste. Eines der anderen Teams musste ein wichtiges Produktziel erreichen und brauchte ihre Unterstützung. Die Enttäuschung des Product Owners, dass seine Vorstellung von Autonomie nicht verwirklicht werden konnte, war groß.
Nach dem Termin führten wir ein intensives Gespräch über Autonomie und Alignment, über Widersprüche und konkurrierende Ansprüche in der Arbeitswelt und wie man produktiv damit umgehen kann. Flos Enttäuschung und das darauffolgende Gespräch sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben und haben meine Arbeit als Agile Coach beeinflusst.Das Praktische an Paradoxien
Tatsächlich sind wir im Rahmen von (komplexer) Arbeit ständig mit Widersprüchen konfrontiert. Wir spüren unbewusst, wie sie an uns ziehen und zerren. Doch nur selten benennen wir sie explizit bei unseren Forderungen nach Autonomie, Transparenz, Offenheit und ähnlichem. Wenn wir Paradoxien entdecken, entsteht schnell der Wunsch, diese Widersprüche aufzulösen. Am besten ein für allemal, damit sie uns in Zukunft nicht erneut stören. Darin liegt ein großes Missverständnis, das zu Konflikten, Unzufriedenheit und misslungener Kommunikation führen kann. Denn diese Paradoxien sind nicht final auflösbar.
Stattdessen liegt unsere Aufgabe darin, Widersprüche produktiv zu bearbeiten. Das bedeutet, für relevante Paradoxien zu verhandeln, wo wir uns auf dem Kontinuum zwischen den beiden Polen verorten wollen. Um das zu erreichen, hilft es, sich in einem ersten Schritt über die relevanten Paradoxien bewusst zu werden und sie explizit zu benennen.
Einen hilfreichen Vorschlag zur Beschreibung dieser Widersprüche bringen die Autoren Timm Richter und Torsten Groth ein /1/. Sie schlagen dazu die Definition von „Wertequadraten“ vor. Als Beispiele nennen sie: Misstrauen – Kontrolle – Vertrauen – Leichtgläubigkeit. Um ein Wertequadrat zu bilden, identifizieren wir zunächst konkurrierende Wertpaare. Kontrolle und Vertrauen in dem obigen Beispiel. In einem zweiten Schritt ergänzen wir das Wertpaar um ihre extremen, häufig negativ erlebten Ausprägungen. Zu viel Kontrolle führt zu Misstrauen. Zu viel Vertrauen führt zu Leichtgläubigkeit.
Mit dem Wertequadrat als Grundlage können wir in einem zweiten Schritt klären, wie wir in der gegebenen Situation mit dem Widerspruch umgehen möchten. Dazu nutzen wir Fragen, die auf die Handlungsebene abzielen. Nehmen wir als Beispiel, den häufig geäußerten Wunsch nach mehr oder sogar maximaler Transparenz. Der zweite Teil des Wertepaares könnte in diesem Fall Diskretion sein. Wenn wir Diskretion ins Negative treiben, landen wir bei Information Hiding. Auf der anderen Seite könnte Weißes Rauschen stehen. Damit ist ein überforderndes Maß an Informationen gemeint. Unser Wertequadrat lautet demnach: Information Hiding – Diskretion – Transparenz – Weißes Rauschen.
Weitere Fragen können nun helfen, konkrete Handlungen abzuleiten: Wer genau braucht (mehr) Transparenz? Worüber? Um was damit zu erreichen? Wie häufig? In welcher Form und Menge? Woran würden wir merken, dass wir zu wenig Informationen oder ein überforderndes Maß an Informationen haben?
Jede Situation hat ihren eigenen Widerspruch
Anhand dieser Fragen wird deutlich: es ist nicht möglich oder hilfreich, pauschal und „für alle Zeit“ festzulegen, wie eine Paradoxie zu lösen ist. Unterschiedliche Situationen, unterschiedliche Produkte, unterschiedliche Teams und unterschiedliche Anforderungen erfordern einen jeweils anderen Umgang mit Widersprüchen. Eine gewisse Tendenz zeigt sich dennoch häufig in Organisationen. Diese ergibt sich einerseits aus dem spezifischen Kontext der Organisation, z. B. durch die Branche oder relevante Gesetze. Andererseits hat die jeweilige Kultur der Organisation einen prägenden Einfluss. Diese Tendenz in der Bearbeitung von Paradoxien ist wertvoll. Ein häufiges Hin- und Herspringen auf relevanten Kontinuen kann als Willkür wahrgenommen werden. Dies mindert die Orientierung von Mitarbeitern und Teams und beeinträchtigt ihre Handlungsfähigkeit. Ungewöhnliche – genauer ungewohnte – Entscheidungen können im Einzelfall zwar sinnvoll und hilfreich sein, bedürfen aber verstärkter Kommunikation und Einordnung.
Widersprüche bearbeiten
Paradoxien gehören zum Alltag. Dass wir mit Widersprüchen konfrontiert sind, ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Dies gilt insbesondere für komplexe Wissensarbeit. Sie produktiv zu bearbeiten und zu verhandeln, birgt große Chancen für Teams. Scrum Master:innen und Führungskräfte können dabei unterstützen. Sie können die Widersprüche aufzeigen und helfen, sie zu benennen. Durch geschickte Fragen erforschen sie mit Teams, wie sie mit Widersprüchen konkret umgehen wollen. Das erhöht gemeinsames Verständnis, schafft Orientierung und verbessert die Kommunikation.
Wer tiefer in eine systemtheoretische Betrachtungsweise von Führung eintauchen möchte, der kann ich das Buch „Wirksam führen mit Systemtheorie“ von Timm Richter und Torsten Groth empfehlen.
Quellenangaben
/1/ Richter, Timm; Torsten, Groth: „Wirksam führen mit Systemtheorie. Kernideen für die Praxis“. 2023, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg, https://www.carl-auer.de/wirksam-fuhren-mit-systemtheorie
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