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Holokratie fürs (Agile Coach-)Volk

Mit Holokratie könnte es sich so ähnlich wie mit "Marmite", dem britischen Brotaufstrich aus Hefe, verhalten: Man liebt oder hasst sie. Im vorliegenden Artikel breche ich eine Lanze für diese Art zu arbeiten - in manchen Kontexten hilft sie halt einfach...

Es war einmal ein Herrscher, der von agiler Arbeitsweise träumte...

Es begab sich aber zu einer Zeit (zahlreiche Monde vor heute), als ein Unternehmensfürst für seinen Unternehmensbereich eine bestimmte Art von Personen zusammenrief - für jede Gruppe von Arbeitenden in seinem Unternehmensbereich eine von diesen Personen -, die alsdann dazu angehalten wurden, jegliche Art von Hemmnis für die Arbeit, sei es gruppenintern oder -extern, von den Arbeitsgruppen, modern auch "Teams" genannt, fernzuhalten und diese Teams ferner darin zu unterweisen, die oben genannten Fähigkeiten auch zunehmend aus sich selbst heraus zu entwickeln und bei der Arbeit anzuwenden. So wurde, bildlich gesprochen, vor jeden Karren ein Ochse gespannt. Dabei handelte es sich z. T. auch um Leih-Ochsen, um die der Unternehmensfürst seine zahlreichen Verbündeten ersucht hatte.

Effizienzsteigerung als Auslöser temporärer Ineffizienz

Was haben nun metaphorische (Leih-)Ochsen mit der Überschrift dieses Artikels zu tun? Kurz übergeleitet, wurde der aktuelle Arbeitsmodus in einem Unternehmensbereich, nämlich je eine Spezialperson (in meinem Kontext wurde sie "Agile Teamcoach/ATC" oder auch schlicht "Teamcoach" genannt) pro Team, infolge geplanter Effizienzsteigerungsmaßnahmen - bzw. noch unsexier: Kosteneinsparmaßnahmen - auf den Prüfstand gestellt. Dabei fiel ins Auge, dass die ursprünglich eingeführte agile Unternehmensstruktur nie explizit diese 1:1-Beziehung vorgesehen hatte. Das Setting hatte sich vielmehr stillschweigend eingebürgert und war bis dato nicht hinterfragt worden. Zum Vergleich: In anderen Unternehmensteilen außerhalb Deutschlands begleiteten schon lange nur eine Handvoll Agile Teamcoaches eine dreistellige Anzahl von Personen, aufgeteilt auf eine Vielzahl von Teams. Eine solche "Verteilung" erfordert ein ganz anderes Arbeiten und natürlich auch andere Entscheidungsprozesse, Stichwort "Priorisierung".

Die Freiheit der Wahl...

Wir, die Teamcoaches eines Bereiches, ein knappes Dutzend Personen, wurden dazu aufgefordert, uns selbst einen neuen Arbeitsmodus zu geben, da sich bereits abzeichnete, dass (durch welche Umstände auch immer) wegfallende Coach-Stellen nicht nachbesetzt werden würden und es schon bald keine 1:1-Beziehung für Coaches und Teams mehr geben würde. Grundsätzlich eine weise Entscheidung, wie ich finde, denn dann wird jede/r dazu gezwungen, sehr konsequent zu priorisieren und erhält nebenbei auch die einmalige Chance, sich eventuell eingeschlichen habende sog. "Anti-Patterns" der Rolle "Teamcoach" abzustreifen. (Sobald eine solche Umstellung aber dazu führt, dass jemand immer mehr Teams begleiten soll, womöglich nicht einmal in Vollzeit, sieht das natürlich wieder anders aus. Hier passt der Spruch, den ich so hasse und den man in agilen Kreisen nicht selten hört, wenn man eine konkrete Antwort auf eine Frage haben möchte: "Es kommt darauf an...")

... wird zum Tauziehen um die richtige Wahl

Was dann aber folgte, war ein unerwartet zähes Tauziehen, und das ausgerechnet bei Leuten, die anderen Impulse für "effizientes" und/oder "effektives" Arbeiten geben und Teams am besten innerhalb von wenigen Tagen (ich übertreibe hier absichtlich) zu arbeitstechnischen Höchstleistungen führen sollen. In Spitzenzeiten ein Kreis aus fast zehn Personen, aus meiner Sicht alle überdurchschnittlich extrovertiert und überzeugend (und ich schätze sie alle!), jede/r mit eigenen Vorstellungen über die geeignetste Art zu arbeiten, randvoll mit Methodenwissen und Erfahrungen aus unterschiedlichen beruflichen Stationen - und über etliche Wochen nicht dazu in der Lage, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen!

Holokratie - wat is dat dann?

Unser Weg ins Licht...

In die Zeit, während wir um unsere kleine neue Welt rangen, fiel auch ein dazugehöriger Vor-Ort-Kickoff für unseren Bereich, den ein Kollege und ich organisiert hatten. Dieser Kollege nun brachte die Idee ein, uns allen in diesem Workshop Holokratie als Weg ins gemeinsame Glück vorzuschlagen. Er selbst hatte bereits praktische Erfahrung damit und auch mit der Einführung von holokratischen Strukturen gesammelt. Ich selbst war davon noch gänzlich unbeleckt und begegnete dem Vorschlag unvoreingenommen. Un-agil, wie ich mich allerdings in diesem Augenblick zeigte, wünschte ich mir - aus der bisherigen Erfahrung mit uns allen heraus - ledigich einen Plan B für den Fall, dass auch dieser Vorschlag nicht durchkäme. Der Kollege und ich einigten uns, dass bei Ablehnung ein valider Gegenvorschlag unterbreitet (und angenommen) werden müsse. Damit hätten wir eine direkt umsetzbare Alternative in der Hinterhand.

Holokratie noch nicht mal in a nutshell

Schon mehrfach hatte ich in meinem beruflichen Netzwerk eine eher ablehnende Haltung gegenüber Holokratie wahrgenommen, ohne zu wissen, warum. Inzwischen glaube ich, den Grund zu verstehen: Holokratie ist ein eng gestecktes Terrain, man könnte auch sagen, ein "Korsett", in dem sehr viel vordefiniert ist und strikten Regeln folgt. Holokratie stellt Rollen für bestimmte Aufgabenpakete bereit, ferner eine konsequente und strukturierte Abarbeitung der Aufgaben inklusive Transparenz über deren Fortschritt, und in Reinform der Holokratie werden die aktuellen Rolleninhaber:innen nur noch mit ihren Funktionen, also z. B. "Notar:in" oder "Repräsentant:in" angesprochen; individuelle Namen sind störendes Beiwerk und lenken nur unnötig vom Rahmenwerk und der zu erledigenden Arbeit ab.

Wir gaben uns selbst ein Korsett

Mag sich nun so manche/r denken, "bah, wie unflexibel", so war dieses Korsett in der beschriebenen Situation doch genau das, was wir brauchten. Als "Facilitator:in" begleitet man moderierend alle durch das "Tactical", d. h. den Termin, in dem die aktuellen Arbeiten, Hemmnisse und Unterstützungsgesuche besprochen werden, und priorisiert dabei nach bestem Wissen und Gewissen (und wiederum einigen kleinen Grundregeln) die Themen, die auf der Agenda stehen. Auch wenn jemand anderes damit temporär Magengrimmen haben sollte: Holokratie weist jeder Rolle glasklare Verantwortlichkeiten zu, und sollte jemand nach Meiung aller anderen z. B. bei der Priorisierung der Themen permanent danebenhauen, gibt es immer noch die Möglichkeit, im "Governance"-Meeting, dem zweiten Regeltermin, die Wahl einer anderen Besetzung einer Rolle anzustoßen. Apropos Wahl: Diese läuft selbstverständlich ebenfalls nach einem festen Drehbuch ab, aber wenn Beteiligte eines Kreises sich darauf verständigt haben, gemeinsam nach holokratischen Strukturen arbeiten zu wollen, würgt diese Strukturiertheit ausufernde Diskussionen und Interpretationen ab. Solche sollen in agilen Runden unter Scrum Mastern, Agile Coaches und ähnlichen Rollen ja gerne mal vorkommen.

Struktur vs. Inhalte

Und noch ein Wort zum eventuellen Urteil "unflexibel": In meinen Augen ist Holokratie das überhaupt nicht. Die Struktur ist ein eng geschnürtes Korsett, das schon, dafür kann man seine Agilität und Flexibilität und Kreativität (was immer das alles für die einzelnen sei) problemlos in den Inhalten, also in der eigentlichen Arbeit, ausleben. Wenn ich die Welt mit einer grandiosen Idee aus den Angeln heben möchte, hält mich niemand davon ab, diese Idee im Tactical zu platzieren (irgendwann wird sie besprochen werden, mindestens, wenn ich selbst dranbleibe und das Thema aufrechterhalte) und mir dafür die Unterstützung der anderen zu holen, die ich für die Umsetzung benötige.

Holokratie bedeutet nicht Ausschalten der Empathie

Wenn aufgrund der Ressourcenlage bei den Coaches ein Engpass bei der Themenabarbeitung besteht, wird durch den/die Facilitator:in priorisiert, was zuerst behandelt werden muss. Gesunder Menschenverstand hilft auch hier, etwa, nicht selbst überall "hier" für eine Umsetzung zu schreien. Sollte man einmal betriebsblind sein, helfen einem auch die übrigen Mitglieder, damit niemand bei der Abarbeitung von Aufgaben überbucht wird (à la "der X hat jetzt schon vier Aufgaben bis übernächste Woche, wann soll der denn die alle machen?").

Anreicherung der Grundstruktur durch Methoden

Sollte es dann noch Fragen darüber geben, welche notwendigen Entscheidungen für die Bearbeitung einer Aufgabe getroffen werden müssen und in wessen Verantwortungsbereich diese Entscheidungen fallen, kann eine holokratische Arbeitsstruktur natürlich problemlos durch gängige Methoden der Entscheidungsfindung, wie etwa den Klassiker "Delegation Poker", angereichert werden (natürlich grundsätzlich auch durch beliebige andere Methoden). Auch das haben wir in unserem Bereich getan (und ich bin dem Kollegen, der sich immer wieder dafür einsetzte, bis es tatsächlich zu einer solchen Session kam, sehr dankbar), aber das ist eine andere Geschichte - die ich mir vielleicht für einen anderen Artikel aufhebe. ;-)

Schlusswort

Alle Schilderungen beruhen auf meiner persönlichen Erfahrung mit Holokratie in einem konkreten Arbeitskontext. Da ich hier wohl noch eine offizielle Quelle benötige, um meinem Artikel einen seriöseren Anstrich zu geben, verweise ich an dieser Stelle auf eine "offizielle" Darstellung von Holokratie auf Wikipedia /1/, zum Selbststudium durch geneigte Leser:innen.

Aus der beschriebenen Begegnung mit Holokratie habe ich (mal wieder) gelernt, dass doch nichts über eigene Erfahrung geht und dass immer viele Wege nach Rom führen - bzw., dass bestimmte Wege dorthin gar nicht so schrecklich sind, wie andere ihnen nachsagen.

 

Quellen:

/1/ Wikipedia am 18.04.2024 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Holokratie







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