Agile Methoden gehen von verschiedenen Erfahrungen aus dem Projektalltag aus. Eine dieser Erfahrungen aus dem klassischen Projektmanagement lautet: "Der Auftraggeber bekommt nie das, was er in Auftrag gegeben hat." So lang und detailliert unsere Anforderungslisten, Lastenhefte, Leistungsverzeichnisse ... in Wasserfallprojekten auch sein mögen - insbesondere beim Anschaffen oder Erstellen von Software sind die Ergebnisse oft ganz andere als erwartet.
Das glaubt einem aber keiner, vor allem kein IT-Mitarbeiter. "Ich brauche mich nur ein wenig anzustrengen, dann kann ich mich schon klar ausdrücken." Mit dieser Illusion räumt der Tangram-Dialog auf.
Das Tangram-Spiel
Tangram ist ein Set von Puzzleteilen aus Holz, die zusammen ein Quadrat ergeben.
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Abbildung 1: Unschuldig aussehendes Tangram-Set |
Sie können zu ganz anderen Formen zusammengesetzt werden - zu einem Haus, zu einer Katze usw. Wenn man ein Tangram-Spiel kauft, ist eine Anleitung mit verschiedenen Lösungsvorschlägen beigefügt.
Ein Experiment
In einem Projekt in der Abteilung "Gebäudemanagement" der TU München sprachen wir über User-Storys und andere agile Methoden, als auf einmal der Projektleiter, Herr Fredekamp, aufsprang und sagte: "Da hab' ich was. Das habe ich auf einem Führungskräfteworkshop kennengelernt", und er lief aus dem Zimmer und kam mit einem Tangram-Spiel wieder. Und dann ließ er mich, der ich als Externer dabei war, und einen anderen Projektteilnehmer, Herrn Großinger, den Tangram-Dialog führen. (Herr Großinger und ich schauten uns in die Augen und waren uns einig: "Das schaffen wir mit links." Herr Großinger ist Ingenieur, ich bin von Ausbildung Informatiker. So Leute schaffen sowas. Problemlos.)
Herr Großinger und ich setzten uns Rücken an Rücken. Herr Großinger bekam die Anleitung in die Hand, ich hatte das Puzzle vor mir. Keiner von uns konnte sehen, was der andere sah. Herr Fredekamp fungierte als Beobachter, der für die Einhaltung der Regeln sorgte.
"Nehmen Sie ein großes Dreieck", sagte Herr Großinger, "und legen Sie es so, dass eine spitze Ecke links oben liegt." Mach ich - dachte ich - no problem.
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Abbildung 2: Auf einem guten Weg |
"Dann", fuhr Herr Großinger fort, "legen Sie das zweite große Dreieck so an, dass eine seiner spitzen Ecken jetzt nach rechts unten zeigt." Sowas von easy - wir haben keine Verständigungsprobleme - dachte ich. Das Ergebnis:
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Abbildung 3: Der nächste Schritt - wir verstehen uns gut |
"Das ist jetzt ein Quadrat", sagte Herr Großinger. Häh? wie bitte? Verstohlen legte ich die Teile um: kann ja mal vorkommen, auch bei einem Profi. (Herr Großinger ist Ingenieur und drückt sich nicht so richtig exakt aus. Da zeigt sich der Vorteil der Informatikausbildung, dachte ich. Dafür hatte er gegen die Regeln verstoßen und eine Aussage über das Zwischenergebnis gemacht. Also richtig agil, denn "das Gewinnen eines Spiels ist wichtiger als die Einhaltung der Regeln", heißt es bekanntlich im Agilen Manifest. Oder so ähnlich. Oder auf jeden Fall so gemeint, da bin ich mir sicher!)
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Abbildung 4: Kleine Korrektur - kann ja mal vorkomme |
Die nächsten Anweisungen lauteten dann, jeweils mit ihren Zwischenergebnissen:
"Das mittlere Dreieck anfügen mit dem rechten Winkel nach oben."
"Die Raute anfügen mit einem spitzen Winkel links oben."
"An die Raute ein kleines Dreieck anfügen, so dass dessen spitze Ecke links oben liegt."
"Und dann unter dieses Dreieck das zweite kleine Dreieck einfügen, so dass die langen Kanten aneinander liegen."
"Jetzt noch das Quadrat unten an die kurze Seite des unteren kleinen Dreiecks anfügen."
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Abbildung 8: Die Lösung |
Damit waren die Puzzleteile aufgebraucht und eine wunderschöne Form als Lösung kam heraus. Es handelte sich dabei - das ergab sich nach einigem Überlegen - um eine Schlange, die sich ein großes Quadrat als ihre Beute einverleiben wollte und dabei auf Schluckprobleme stieß.
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Abbildung 9: Wer denkt sich denn sowas aus?? |
Dann zeigte mir Herr Großinger seine Vorlage, die ein klar strukturiertes Haus darstellte. Wir mussten schon heftig lachen, und das ganze Spiel - es hatte vielleicht drei, vier Minuten gedauert - hatte uns richtig Gaudi bereitet. Und Herr Fredekamp freute sich über den Aha-Effekt, den er uns bereitet hatte.
Agile Erfahrungen
Zum einen zeigt das Experiment, dass Feedback in kurzen Abständen Missverständnisse verringert. Hätte Herr Großinger nicht regelwidrig eine solche Zwischeninformation gegeben ("jetzt müsste es ein Quadrat sein"), wäre mein Bastelergebnis noch viel katastrophaler geworden.
Zum zweiten merkt man, wie wichtig es ist, dass der Auftragnehmer das Ziel des Auftraggebers kennt. Hätte mir Herr Großinger gesagt, dass er ein Haus bauen will, hätte ich bestimmt eine andere Form als in Abbildung 3 gewählt. Gerade agile Methoden tragen dafür Sorge, dass der "Entwickler" den Sinn (den Nutzen, die Vision) des Projektkunden kennt.
Darüber hinaus sieht man die absolute Überlegenheit von Visualisierung zu verbaler Beschreibung. Hätte Herr Großinger mir als "Entwickler" eine Skizze seines geplanten Hauses vorher gezeigt, wäre mir der Fehler wie in Abbildung 3 vielleicht nicht unterlaufen.
Schließlich kann man den Tangram-Dialog auch auf die Konstellation "Führungskraft - Mitarbeiter" anwenden. In diesem Spiel weiß Herr Großinger ganz genau, wie die Lösung auszusehen hat (die entnimmt er dem Blatt mit der Anleitung). In der Realität ist das meist nicht der Fall: die Führungskraft hat eine grobe Vision vom anzustrebenden Produkt ("Haus"). Sie hat eine noch gröbere Vorstellung vom "Wie" der Umsetzung, viel gröber als im Tangram-Dialog. Sie denkt aber, ihre Vorstellung sei unschlagbar präzise. Und sie muss es "nur" ihrem Mitarbeiter genauestens erklären: man muss den Mitarbeitern ja alles sagen, die haben ja überhaupt keinen Funken Kreativität - und wenn doch, dann nur in die falsche Richtung!
Das Experiment stößt uns mit der Nase darauf, wie guter Auftragsdialog funktionieren kann: "Bau mir ein Haus. Hier hast du die Ressourcen - mach was draus. Lass uns ab und zu über Zwischenergebnisse reden." Das Geheimnis effizienter Führung steckt in einem einzigen Wort: loslassen.
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