Schon wieder (fast) zu spät? Schon wieder den Termin für zugesagte Tätigkeiten nur mit Müh und Not eingehalten? Es könnte am hier beschriebenen Phänomen liegen...
Kürzlich hatte ich wieder einmal das Vergnügen, wenn auch nur kurz, mit Jan zu telefonieren. Ich hatte mich per SMS gemeldet und noch kalkulierte zehn Minuten Zeit vor Aufbruch zu meiner Osteopathiestunde, als er zurückrief. Im Laufe des Gesprächs notierte Jan, ich solle doch JETZT gleich losfahren, denn das Gehirn komprimiere Zeiten bei der mentalen Vorstellung von geplanten Aktivitäten, das sei wissenschaftlich erwiesen. Ich bestätigte "ja, ja" (ich würde angeblich losfahren), und wir beendeten das Gespräch.
Das Hirn lässt mal wieder einfach weg...
Diese interessante Information erklärte mir nicht nur auf einen Schlag, was mein eigenes Problem seit Kindesbeinen an ist ("immer auf den letzten Drücker..."), sondern auch das vieler Projekte und Initiativen. Hintergrund ist eine Effizienzsteigerung bei der Verarbeitung von Informationen im Hirn, die aber leider manchmal aufs zeitliche oder auch ein anderes Glatteis führt. Um Ressourcen zu sparen, lässt das Gehirn bestimmte Informationen unter den Tisch fallen und füllt sie nur bei Bedarf aus anderer Quelle wieder auf. Bei der mentalen Repräsentation von zeitlichen Vorgängen scheint nach und nach so einiges wegzufallen, wenn man der Wissenschaft trauen darf.
Gedankliche zeitliche Komprimierung in Projekten und Initativen
Bei agilen Initiativen kennt man die Herausforderung bei den auf Wochenfrist heruntergebrochenen Arbeitsbrocken, diesen sogenannten User Stories: Ständig werden sie zu groß geschnitten, und hinterher, wenn am Sprintende, dem Ende des laufenden Entwicklungszeitraums, noch ganz viel Story übrig ist, merkt man, dass man sich da mit dem Aufwand irgendwie wieder getäuscht hat. Weil der zeitliche Aufwand der einzelnen Stories unterschätzt wird, nimmt man sich auch heraus, gleich am besten drei von ihnen anzufangen, weil man sich sicher ist, dass man sie im aktuellen Entwicklungszeitraum erledigen kann.
Burn down chart als Spiegel
Oder vielleicht wurde jeder, der einmal in einem typischen solchen Umfeld gearbeitet hat, auf die eine oder andere Art dazu gezwungen, wenigstens einmal einen Blick auf das in Jira bereitgestellte "burndown chart" zu werfen, eine grobe Orientierung des Abarbeitungsgrades im eigenen Team pro Zeiteinheit/Sprint mit der Arbeit auf der Y-Achse und dem Zeitverlauf auf der X-Achse. Meist handelt es sich zunächst um eine endlos lang waagerecht verlaufende Linie (= null Abarbeitung bzw. Fertigstellung, denn nur, was fertiggestellt und nutzbar ist, gilt nach diesem Konzept als "abgearbeitet"), die am Ende, wenn auch der Sprint endet, quasi senkrecht nach unten abstürzt. Eventuell, indem man einige Arbeitspakete, die diffus genug umrissen waren, noch schnell uminterpretiert hat. Im agilen Bilderbuch verläuft diese Linie selbstverständlich als eine sich etwa stetig diagonal der Zeitachse nähernde und diese am Sprintende treffende Kurve.
Traumvorstellung und Realität
Als ich nun also das Haus verließ, um mit dem Fahrrad zu meinem Termin zu fahren, zeigte mir das Schicksal auch sogleich einen lebhaften Beweis dessen, was ich gerade erfahren hatte. Zugegebenermaßen war ich ohnehin schon wieder auf den letzten Drücker unterwegs, weil ich - am 31.01. - "noch schnell" meine Zeiten im System des Kunden gebucht hatte, um nicht nach meiner Rückkehr am frühen Abend nochmals dienstlich an den Rechner zurückzumüssen. Mir bot sich ein hervorragendes Delta zwischen meiner Vorstellung der Fahrt und der Realität. In meiner Vorstellung war ich einfach in die Garage gerast, um mein Fahrrad zu schnappen und loszufegen. In Realität stand ich da und musste mein Fahrzeug erst einmal freilegen, weil es unerwarteterweise durch zwei Fremdräder zugeparkt war, der Durchgang war dadurch kaum noch begehbar, und natürlich blieb ich auch mehrfach irgendwo hängen. Aus der in meinem Geiste rasanten und sportlichen Fahrt zur Osteopathiepraxis wurde in Wahrheit ein Ausbremsmanöver, bei dem ich bereits auf dem ersten Streckenabschnitt bergab meinen bis dahin aufgebauten Schwung verlor, weil es fast unmerklich nieselte und ich den deutschen Autofahrern, die allesamt ständig auf der Bremse standen, mit meinem Fahrrad mehrfach fast in den Kofferraum fuhr. Acht Minuten später kam ich mit hängender Zunge an der Praxis an und war wiedermal gerade noch rechtzeitig.
Komprimierte Lernfähigkeit?
Immerhin war meine Hirnleistung nicht so komprimiert, als dass ich mich nicht darüber gewundert hätte, dass ich ja die Wahrnehmung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse in meinem Leben schon unzählige Male gehabt, daraus aber trotzdem bis heute nicht gelernt habe. (Ich werde eine empirische Studie starten, ob das Bewusstsein der wahren Hintergründe für ständige Fast-Verspätungen in terminreichem Leben etwas zum Besseren wendet.) Immerhin war mir vor so mancher Abreise immer mal schon gedämmert, dass ich früher als gedacht losfahren sollte, weil ja z. B. auch ein Müllwagen das Fortkommen behindern könnte. (Mir ist es tatsächlich auch schon passiert, dass ich bereits unter Zeitdruck in einer Straße mit dem Auto weder vor noch zurück kam, dazu verdammt, die Müllabfuhr mit ihrem ausladenden Wagen vor mir dabei zu beobachten, wie sie in aller Seelenruhe an der Straße stehende Mülltonnen entleerte.)
Puffer sind wahrscheinlich gerechtfertigter als gedacht
Nach dem Gespräch mit Jan erkannte ich auch, dass häufig hinter vorgehaltener Hand vollzogene Projektaktivitäten - ob in klassischen oder agilen Projekten, ist dabei völlig egal - den genannten Erkenntnissen wahrscheinlich Rechnung tragen. Wer kennt sie nicht, die subtil gerümpften Nasen, wenn man bekennt, dass man bei der Aufwandsschätzung für eine Tätigkeit noch einen kleinen Puffer eingebaut hat? Schnell wird man womöglich abgestempelt als Faulpelz, der sich mit einer Mondschätzung für Nasebohren selbst den Rücken freihalten will, und man gerät in einen unheilvollen Rechtfertigungsstrudel - aber sollten wir aufgrund dieser nicht bewussten zeitlichen Komprimierung von Vorgängen, die unser Hirn vornimmt, nicht viel häufiger völlig selbstbewusst diesen kleinen Puffer einrechnen, wenn wir jemandem eine Aufwandsschätzung für unsere Tätigkeiten geben?
Von ungetaner Arbeit, die hätte getan werden sollen
Vielleicht würde das Projekt dann teurer, ziemlich sicher sogar, aber es gäbe auch nicht diese bösen Überraschungen, wenn am Ende des (ersten) bewilligten Budgets plötzlich noch so viel ungetane Arbeit übrig ist, und wir reden hier nicht von der "ungetanen Arbeit, die maximiert werden sollte" aus dem agilen Sprichwort, sondern von der, die eigentlich hätte getan werden müssen.
Die wissenschaftliche Erkenntnis sollte uns allen helfen, unsere eigenen Aus-dem-Bauch-Schätzungen noch einmal gründlich zu hinterfragen und nach Stellen zu fahnden, die unser Hirn aus Effizienzgründen einfach "weggeöscht" haben könnte. Oder im richtigen Moment an einen verhältnismäßigen zeitlichen Puffer zu denken...
Verwendete Quelle:
https://www.dzne.de/im-fokus/meldungen/2022/warum-uns-unser-gedaechtnis-manchmal-taeuscht/
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