Es gibt zunehmend Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, die Dokumentenmanagementsysteme einführen. Die "DMS" sind längst aus ihrem Namen herausgewachsen - die guten Produkte unter ihnen "managen" nicht nur Dokumente, sondern Unternehmensinformationen aller Art. Und vor allem strukturieren sie sie so, dass sie auch die Vielzahl von Prozessen, Kontakten, Vorgängen, Notizen überschaubar halten. Es gab Vorschläge, die Bezeichnungen entsprechend zu ändern - ECM ("Enterprise Content Management") oder EIM ("Enterprise Information Management"). Aber keine hat sich so richtig durchgesetzt. Bleiben wir also bei DMS. Tendenziell ersetzt ein DMS Windows als allgegenwärtige Arbeitsoberfläche (oder besser: Arbeitsuntergrund).
Bei der Einführung von DMS spielen aber falsche Erwartungen der Entscheidungsträger eine große Rolle. Es werden große Hoffnungen gesetzt in Features, über die DMS nicht verfügen. Und auf der anderen Seite werden Dinge, die uns das Leben in unseren Büroprozessen wahnsinnig erleichtern könnten, nicht in den Blick genommen. Ich muss dabei immer an das legendäre Interview der "Digitalisierungsbeauftragten" der letzten Bundesregierung, Dorothee Bär, denken, das sie zu Beginn ihrer Amtszeit gab. Auf die Frage von Marietta Slomka im ZDF, was denn ihre Visionen seien, antwortete sie: "Habe ich die Möglichkeit, auch zum Beispiel mit einem Flugtaxi durch die Gegend zu kommen?" Den Breitbandausbau hingegen erklärte sie für langweiliges Pillepalle. Natürlich hat kein Flugtaxi abgehoben, aber beim Breitbandausbau liegen wir mittlerweile hinter Albanien. Und so ähnlich geht es vielen DMS-Projekten.
Die Versprechen der Lieferanten
Einige Workflows funktionieren
- Posteingangsverteilung
- Urlaubsanträge
- Dienstreiseanträge
- Spesenabrechnungen
- Eingangsrechnungs-Workflow
- Beschaffungsworkflow
- Personaleinstellungen
- Der Workflow ist an genau 1 Dokument und/oder 1 Record in der Datenbank gebunden:
- ein Datensatz mit Urlaubsangaben eines Mitarbeiters
- eine Spesenabrechnung usw.
- Es sind genaue Arbeitsschritte definiert, die mit dem Dokument oder dem Record verbunden sind:
- Urlaubstage eintragen,
- prüfen ob Resturlaub vorhanden,
- Zustimmung der Vertretung
- genehmigen durch Vorgesetzten
- Urlaubstage vom Resturlaub abziehen.
- Die Anzahl der Ja-Nein-Entscheidungen bzw. der Verzweigungen ist überschaubar:
- nicht genug Resturlaub
- Vertretung lehnt Urlaub ab
- Vorgesetzter lehnt Urlaub ab.
- Jede Nein-Entscheidung an einem dieser Knotenpunkte führt zum Abbruch des Workflows: "Urlaub abgelehnt".
Komplexe Prozesse und das Workflow-Problem
- Normalerweise ist das immer der Antragsteller der Beschaffung, weil nur der kann ja beurteilen, ob die richtige Ware geliefert wurde.
- Wenn es aber eine IT-Beschaffung ist, dann noch Herr Y von der EDV-Abteilung. Denn da übersehen die Endanwender so oft fehlerhafte Details.
- Wenn es eine Beschaffung aus einem Projekt ist und der Wert liegt über 20.000 €, muss auch der Projektleiter die Zuordnung zum Kostenträger bestätigen.
- Wenn der Wert über 250.000 € liegt, muss nach dem Vier-Augen-Prinzip der Bereichsleiter des Antragstellers mitzeichnen.
- Wenn die Ware oder ein Teil von ihr magaziniert wird (z.B. Toner oder andere Kleinprodukte), dann ist sowieso der Leiter des Magazins zuständig.
- Wenn aber die Assistenz des GF die Ware bestellt hat, dann geht es immer direkt an sie, denn sie muss niemals die Zustimmung von jemand anderem einholen.
- Und im Werk Itzehohe machen die das ganz anders, weil die sind ja erst vor vier Jahren zu uns gekommen.
Diese Antworten gibt Frau Müllerschön natürlich nicht so, wie ich sie hier aufgeschrieben habe. Sondern diese Entscheidungsregeln zur Frage "wer ist zuständig für die sachliche Richtigzeichnung?" äußert sie stückchenweise, verteilt auf mehrere Workshops. Warum kennt sie denn "ihren Prozess" so schlecht? Was ist los mit Frau Müllerschön?
Die Antwort ist einfach. Frau Müllerschön handelt (wie wir alle) situativ. Was sie wann zu tun hat, entscheidet sie situativ und sinn-orientiert. Die Regeln dafür kennt sie nicht bewusst. Sie hat sie im Laufe der Zeit im Unternehmen gelernt, wie wir als Kinder unsere Muttersprache gelernt haben - unbewusst ins limbische System integriert. Natürlich gehorcht eine Sprache einer Grammatik, hat sie Regeln - aber kein Kind kennt die Grammatik seiner Sprache und es bedarf gehöriger Anstrengungen, sie zu lernen. Deshalb ist der Aufwand für BPM-Workshops so hoch (vgl. dazu auch das Buch von Gigerenzer: "Bauchentscheidungen").
Im Ergebnis sind die Regeln zur Bestimmung des "Richtig-Zeichners" kompliziert. Sie differenzieren sich nach:
- zwei Produktarten (IT, Nicht-IT)
- zwei Arten von Beschaffern (Assistenz des GF, andere)
- magazinierte Produkte und andere
- drei Wertgrenzen (unter 20.000, über 250.000, dazwischen).
Und dann gibt es noch Itzehohe mit einer unbekannten Anzahl von Varianten.
Rein rechnerisch ergibt das 2 x 2 x 2 x 3 + x Varianten, also 24 + x. Sagen wir mal 30 Varianten, die jeweils unterschiedliche Workflow-Wege nach sich ziehen.
Das ist nur ein Kästchen im Flussdiagramm, das sich bei feingranularer Darstellung als 30 Varianten entpuppt. An anderen Stellen gibt es ähnliche Fälle, nicht ganz so aufwendig. Insgesamt komme ich im Überschlag auf etwa 85 Varianten für den Gesamtprozess "Rechnungseingang".
Ganz schön was zu customizen!
Das Programmieren 100%-iger Workflows ist komplett unökonomisch
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Eine andere Methode, ein anderer Geist
- Wir erstellen keine detaillierten Flussdiagramme, sondern begnügen uns mit grob-granularen Storymaps. Zum Beispiel so ähnlich:
- In einer Storymap werden die Anwender-Aktivitäten in sog. Meilensteine gebündelt (M01 Bedarf anmelden, M02 Vorgang im DMS anlegen usw.). Darunter die Stellen, die in einen Meilenstein involviert sind. Und darunter die einzelnen Aktivitäten.
- Diese Aktivitäten werden in der Regel manuell ausgeführt. Nur innerhalb von Meilensteinen oder einzelnen Aktivitäten werden "kleine Workflows" angeboten. So zum Beispiel bei der Aktivität "Rechnung sachlich richtig zeichnen" Workflows für die 85%-Varianten:
- Es gibt Workflows, die an verschiedenen Stellen eingesetzt werden können, sog. Ad-hoc-Workflows (die werden von vielen DMS angeboten). D.h. ich kann als Anwender:in einen Workflow "Freigabe" starten, wenn irgendeine Entscheidung von immer den gleichen beiden Vorgesetzten abgesegnet werden muss.
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