Senior zum Preis eines Juniors (Verlängerung)
Worin besteht der Unterschied in der Leistung der beiden? Ist es der Erfahrungswert?
Tabubruch im Lean Coffee: Sprechen über Tagessätze
Im heutigen Lean Coffee wurde auch ein typisch deutsches Tabu gebrochen, indem offen über Tagessätze (auch eigene) gesprochen wurde. Jemand fragt: "Was ist der Preis für einen Junior und einen Senior?" Antwort aus dem Publikum: 650 – 800€ All-in-Tagessatz für einen erfahrenen Scrum Master, bei einem Senior 1000€/Tag all in. Wie beweist man nun aber, dass man "senior" ist? Jemand sagt, als externer Scrum Master nehme er 1000€ / Tag, er kenne sogar Kollegen, die 1500 nehmen. Auf die rhetorische Frage, warum ihm sein Kunde das bezahle, antwortet er gleich selbst, das der ihn schon lange kenne, außerdem bringe er ein jahrzehnt als produktentwickler plus die Scrum Master-Erfahrung mit.
Was soll ein Scrum Master können?
Nach des Gastes Dafürhalten (klingt das nicht schön anachronistisch?) muss ein Scrum Master gut mit den Menschen umgehen können, egal, ob er oder sie senior oder junior ist. Es gehe um gewisse Fähigkeiten, unabhängig von der Erfahrung, die in der Person drinstecken (oder auch nicht...). Die "Beweispflicht" sei ein fürchterliches Thema, man komme in ein Unternehmen und müsse sich beweisen. Nach Sicht des Gastes habe man entweder Vertrauen, denn darauf basiere unsere Arbeit im agilen Kontext, oder man lasse es. Er glaubt, dass es sich erst mit der Arbeit ergeben wird, ob eine Person hineinpasst, für ihn sind diese Beweise (Zertifikate, Titel,...) daher nichts wert. "Der einzige Beweis ist, wenn jemand Ziele mit dem Team erreicht und das Team die Person mag."
Übrraschungseier unerwünscht - sich beizeiten wappnen
Eine Gästin hält dagegen, dass man als Unternehmen ein "reines Überraschungsei" aber nicht wolle, ein Unternehmen möchte nicht erst nach drei Monaten feststellen, dass jemand nicht passt. Um dies zu umgehen, könne eine Firma allerdings auch Fragen vorbereiten, sich einmal mit Kandidat:innen unterhalten, um beispielsweise herauszufinden, ob jemand nicht nur die Grundbegriffe kennt, sondern sich auch in Spannungsfedern positionieren kann, um Lösungen zu finden, und ob er/sie weiß, wann es Zeit ist, sich mit dem eigenen Netzwerk in Verbindung zu setzen. Dann sei diese Person ihr Geld wert.
Zum Thema "Beweise der Seniorität" fügt ein anderer hinzu, dass seiner Erfahrung nach selbst Empfehlungsschreiben nichts brächten, da jedes Umfeld anders aussehe, ein persönliches Empfehlungsnetzwerk funktioniere am besten.
Von gerechter(er) Bezahlung und dem Missverständnis über die "Funktion" eines Scrum Masters
Der Themengeber kommt auf sein Ausgangsthema zurück. Er bemängelt, dass ein Selbständiger von den Juniortagessätzen nicht leben könne. Die eigene Ernsthaftigkeit werde auch durch durch Qualifikationen untermauert, und dies müsse sich auch gehaltstechnisch niederschlagen. "Wenn ich Scrum Master auf Facilitator reduziere, habe ich nicht verstanden, was sein Job ist." Es wird ergänzt, dass es für diese Aufgaben Leute braucht, die auch bereit sind, sich selbst permanent weiterzuentwickeln.
Ein anderer berichtet von seiner Konzernerfahrung, nach der teilweise Junioren mit Zweitagesschulung als Vorbereitung relativ teuer verkauft wurden. Er bemüht die Analogie Krankenhaus: Ein AIP verdiene auch nicht das, was ein Chefarzt bekommt, "diese Gleichmacherei finde ich nicht fair." Als Glosse ergänzt der Gast noch einen weiteren Aspekt: "Wir haben die Junioren in unseren Projekten ausgebildet..." (So gesehen hätte eigentlich der Dienstleister etwas an den Konzern zahlen sollen ;-) - die Red.)
Was macht ein vollamtlicher Scrum Master den ganzen Tag?
Der Themengeber selbst leitet gleich auf interessante Weise ein: "Was er den ganzen Tag lang macht, ist nicht das Wichtige, was er für Ergebnisse erzielt, ist interessant. Welches sind seine Hauptaufgaben?"
Wieso braucht ein Unternehmen eigentlich einen Scrum Master (oder glaubt, ihn zu brauchen)?
Eine Teilnehmerin stellt sogleich die Gegenfrage, was man denn erreichen wolle, indem man (O-Ton) "den agilen Zinnober aufzieht". Meist käme als Antwort, „die Projekte laufen so schlecht“, und hier muss eingehakt werden: "aber woran merke ich es, dass sie besser laufen?" Die übliche agile Argumentation sei, dass es viel früher als in klassischen Umfeldern einen Abgleich beim Kunden gebe (auch genannt "Validierung"), wie helfe da aber ein Scrum Master weiter? (Der Einfachheit halber und weil die Redaktion z. B. die eingedeutschte Form "Scrum Masterin" nicht mag, verwenden wir hier den englischen Begriff und meinen damit Menschen aller möglicher Gschlechter!)
Der Nachteil der Nacharbeit
Sie zitiert einen anderen Stammteilnehmer der Runde: "Code schreiben ist billig, Code fixen ist teuer." Das Wissen darüber, wieviel Nacharbeit notwendig sei, müsse aufgebaut werden. Die Menge an nötiger Nacharbeit sollte über die Unterstützung eines Scrum Masters stetig sinken, bis am besten nur noch "die richtige Arbeit", das, was Wert schöpft, übrigbleibt (dieser Faden wird weiter unten nochmals mit anderen Facetten aufgegriffen - die Red.). Der Scrum Master coacht das Team menschlich, er kümmert sich beispielsweise um den nicht-inhaltlichen Aufbau von Testing und Automatisierung im Team, er führt PO-Coachings durch (wie funktioniert Validierung beim Kunden? O-Ton: "Wieviele brennende Feuerreifen muss ich durchspringen, bis ich beim Kunden bin und ein Feedback bekomme?").
Das Konzept der Hauptaufgabe eines Scrum Masters
Der Scrum Master hilft qua definitionem, Produktivitätshindernisse beiseitezuschaffen, und er vermittelt das dafür notwendige Wissen an das Team. Er ist ein Kaizen-Coach im Team und stellt Fragen wie: "Was wollt ihr heute verbessern? Was braucht Ihr dafür?" Er unterstützt sein Team dabei, dies selbst zu machen, inklusive Bearbeitung des Umfelds (nachgeschobener Kommentar aus dem Chat: "Ein guter Scrum Master kann zwei Teams betreuen, ein sehr guter nur eines ;-)"; siehe a. Literaturliste) Die Arbeit des Scrum Masters geht, wie hier ersichtlich, weit über das Abhalten von Meetings hinaus und erstreckt sich auf die gesamte Organisation - wenn man ihn lässt. Jemand fragt in den Raum: "Braucht das Team Coaching? Das Management?" Jeder, so der Gast, coache überwiegend das, was er gerne macht. Man müsse aber prüfen, ob es jeweils das sei, was in einem bestimmten Kontext auch benötigt werde.
Ergebnisanteile statt Tagessätzen
Ein Silberrücken resümiert, dass er sich über Jahrzehnte hinweg mit Tagessätzen verkauft habe, was aber Blödsinn sei: Ein guter externer Scrum Master, ob Junior oder Senior, bewegt etwas für das Unternehmen, hiernach müsse gefragt werden. Er selbst habe in seinen Projekten Millionen für das jeweilige Unternehmen bewegt. Jemand wirft ein, dass es sich auch um einen Kostenfaktor für das Unternehmen handele (gemeint wahrscheinlich: Gehalt bzw. Einstellung externer Dienstleister wie Scrum master - die Red.), denn dieses trage das Risiko. Mehrere aus der Runde liebäugeln mit der Idee, man könne auch wie bei Notaren und Rechtsanwälten verfahren: Das Gehalt errechnet sich aus einem festgelegten Prozentsatz des Kauf- oder Streitwertes von etwas.
Die sieben Verschwendungsarten auf die agile Welt übertragen
Einer der anwesenden Moderatoren guckt auf die Uhr und sagt: "Wir wollen keine Zeit verschwenden...", fügt dann mit schelmischem Lächeln hinzu: "Ja, ok, ich werfe gleich was in die Wortspielkasse", Lachen in der Runde.
Der Themengeber leitet kurz ins Thma ein, dass die titelgebenden Verschwendungsarten vor ca. 40 Jahren zusammengestellt wurden, aber heute immer noch gelten. Er selbst habe für sich "Monozukuri" wiederentdeckt (siehe dazu die Literaturliste des letzten Lean Coffees - die Red.) und sei zu dem Schluss gekommen, dass man diese Verschwendungsarten öfter über Scrum-Teams heben sollte. Er möchte wissen, was wir von seiner Idee halten.
Antworten: gute Idee, man kann themenbezogene Retros mit den hieraus resultierenden Beobachtungen füttern, es ist ein Vorgehen in kleinen Schritten; man sieht, wo es im Prozess hakt, ob Teams z. B. zu viele Baustellen aufreißen.
Gold plating und Gewinnerzielungsabsicht
Man muss aber auch die Balance halten zwischen dem, was Leuten bei der Arbeit Spaß macht - das "gold plating" von Entwicklern, das diesen leuchtende Augen beschert - jedoch birgt eine Menge von Entwicklungsarbeit, die technisch Spaß macht, die Gefahr der Überproduktion (à la "Wollte ich schon immer mal ausprobieren", trägt aber leider nichts zu den Kundenwünschen bei - die Red.). Man bewegt sich also im Spannungsfeld, den Leuten einen Teil von ihrem Spaß bei der täglichen Arbeit zu lassen, aber nicht aus den Augen zu verlieren, dass bei aller Arbeit auch eine (O-Ton) "Gewinnerzielungsabsicht" im Hintergrund steht.
Auskömmlichkeit statt Kostenoptimierung
Ein anderer Gast ruft uns "Auskömmlichkeit" statt "ständige Kostenoptimierung" als Sinn hinter der Abschaffung der Verschwendungsarten in Unternehmen in Erinnerung, Zitat des Lean-Fans: "Denke wie ein Handwerker, nicht wie ein Kaufmann!" Jemand anderes bekundet, er frage häufig nicht "kann man das verwenden?", sondern eher "wie schafft man es, das zu verwenden?" Manchmal müsse man etwas verändern, damit es zum Team und zur Umgebung passe (konkrete Beispiele wurden nicht diskutiert). Verschwendung erhöhe Komplexität, was unerwünscht sei.
Experimentieren und Wissensammeln als "indirekter" Wert
Andererseits müsse man auch Dinge erkennen, z. B. im Bereich der Funktionsweise von Architekturen, man müsse etwas ausprobieren, um Wissen anzusammeln. Eine Teilnehmerin haut in dieselbe Kerbe: Indem man experimentiere, sammele man Know-how im Sinne eines IP-Sprints, möglicherweise könnte aus Prototypen und ähnlichen Elementen eine Sammlung wiederverwendbarer Komponenten geschaffen werden, auch wenn dadurch nicht direkt ein "Wert" für ein konkretes vorliegendes Produkt geschaffen werde. Es gehe quasi um eine "Auskömmlichkeit des Ausprobierens": nicht zu viel Spaß beim technischen Experimentieren nehmen, aber die Wirtschaftlichkeit allen Tuns im Auge behalten. Ein Gast bestätigt, dass man mit seiner Teamarbeit nicht immer nur einen direkten Wert am Produkt anreichert.
PMP (PMI) verlängern oder nicht?
Das ist das Schöne am Lean Coffee: Jede/r ist auch dazu eingeladen, Fragen zu stellen, die das eigene berufliche Leben betreffen. Hier wurde es getan, und wir danken für das Vertrauen. Die Frage des Teilnehmers bezieht sich auf eine auslaufende Zertifizierung. "Soll ich verlängern oder nicht?" Er fragt nach möglichen Wegen, die er einschlagen könne, "Abkürzungen", die ihm vielleicht noch nicht bekannt seien, denn die Re-Zertifizierung koste mindestens einen deutlich dreistelligen Betrag, und es sei auch nicht klar, ob die Gebühr vom Arbeitgeber übernommen würde.
Unsicherheit der beruflichen Zukunft - Wahl von Weiterbildungsmaßnahmen
Weiterhin befindet sich der Fragesteller in seiner persönlichen VUCA-Welt, den es ist auch nicht klar, ob der derzeitige Arbeitgeber auch mittel- oder längerfristig der zukünftige bleiben wird. Hinzu kommt, dass, wenn sich der Teilnehmer für die Re-Zertifizierug entscheidet, größere Aufwände in Form von z. B. einer Veröffentlichung anfallen. Er überlegt auch, dass, wenn er das Unternehmen wechseln sollte, es schlecht aussehen könnte, wen er die Zertifizierung nicht verlängert habe.
Jemand fragt, ob bei der Zertifizierung Inhalt dabei sei, der den Themengeber weiterbringe, etwa in Form von weiteren PDUs (zur Def. siehe Literaturliste). Weitere Fragen: "Hilft es Dir beim aktuellen oder beim zukünftigen Arbeitgeber?" Der Fragesteller empfiehlt, mit der Re-Zertifizierung weiterzumachen, wenn aus Sicht des Themengebers
inhaltlich etwas für ihn Interessantes dabei ist und dabei auch noch die
erwähnten Gummipunkte (PDUs) gesammelt werden können. Dieser Teilnehmer hat von jemandem, mit dem er selbst eine Weiterbildung gemacht hatte, kürzlich erfahren, dass "der neue Guide viel schlimmer als der alte" sei, nochmals in eine Prüfung gehen würde der Gast deshalb nicht.
Nach dem Bauch gehen vs. wirtschaftlich handeln
Danach kommt der Vorschlag, der Themengeber solle eher nach seinem Bauchgefühl gehen, da es sowieso unklar sei, was ein eventuell künftiger Arbeitgeber für Zertifizierungen sehen wolle. Der Themengeber solle sich ggf. überlegen, ob er weiterhin in der klassischen oder lieber in der agilen oder in beiden Welten weiterarbeiten möchte, bevor er in "irgendetwas" investiert. Eine Gästin widerspricht und begründet damit, dass sowohl der zeitliche als auch der finanzielle Aufwand für eine Re-Zertifizierung viel geringer sei, als noch einmal eine neue vollständige Prüfung abzulegen, wenn erst alles verfallen sei.
Was mer hat, hat mer
Als Schlusssatz tönt noch eine Aussage durch den virtuellen Raum, die man eher in der klassischen Welt verorten würde: "Was man hat, hat man - es ist auch eine Absicherung." Es sei auch für Agilisten immer gut, wenn sie die andere Welt kennen. Da ist natürlich was dran. Wir haben, so kommt am Ende heraus, dem Themengeber dabei geholfen, sein gedankliches Ei auszubrüten, er bekennt, dass er gewisse Aussagen auch für sich schon so erkannt habe. Die Bestätigung aus der Runde und die verschiedenen Sichten haben ihm geholfen, ein klareres Bild zu gewinnen.
Themen im Überblick
Literaturempfehlungen des Tages
https://de.wikipedia.org/wiki/The_Market_for_Lemons
https://www.it-agile.de/fileadmin/agile_review/einzelartikel/Was-Macht-Der-Scrum-Master-Den-Ganzen-Tag_Artikel-agile-review-2015-01-hw.pdf
https://www.inspectandadapt.de/wie-viele-teams-pro-scrum-master/
https://kanbanize.com/de/lean-management-de/wert-verschwendung/7-arten-der-verschwendung-nach-lean
https://agile-verwaltung.org/2022/06/30/verbesserungspoteniale-finden-unnotiges-weglassen/
https://www.lean.org/lexicon-terms/muda-mura-muri/
Zum Einlesen in Lean: Lean auf gut Deutsch https://www.lean-auf-gut-deutsch.de/Buch
https://www.pmi.org/certifications
https://www.pmi.org/certifications/certification-resources/maintain/pdu (nicht aus der Veranstaltung, nachgereicht - die Red.)
Und zum Schluss noch etwas Werbung in eigener Sache, für die, die es noch nicht endeckt und heute Abend noch Zeit haben: https://www.xing.com/events/selbstorganisation-3994909 (Lean Coffee-Spezialtermin heute Abend, 19.07.2022)
Wir sagen danke an alle, die ihre Themen beigesteuert und mitdiskutiert haben, und wünschen allen Leserinnen und Lesern eine angenehme Woche!
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