Manche Teams funktionieren gut und man spürt richtig ihre Freude an der eigenen Produktivität. Andere kommen nicht vom Fleck und haken müde ihre ToDo-Listen ab. Für die Management-Rollen in Projekten (Projektleiter, Product Owner, Scrum Master - wie auch immer sie heißen) stellt die "Teamenergie" ein zentrales Konzept (und oft auch ein zentrales Problem) dar. Sie irgendwie objektiv zu "messen" halte ich für fast unmöglich. Aber für die Visualisierung verwende ich seit einiger Zeit ein Mustertableau, das ich hier an einem praktischen Beispiel vorführen will.
Besonderheit "Teilzeit-Projekte"
Das Projekt ist eines zur Einführung von Dokumentenmanagement-Software ("E-Akte" in Verwaltungssprache) in einer norddeutschen Universität. Die Art der Verwaltung und auch das konkrete Thema spielen aber fast keine Rolle bei unserer Frage nach der Teamenergie. Wichtig ist hingegen: es ist ein "Teilzeitprojekt". Das heißt, es "passt nicht" zu dem Setting, auf das hin Jeff Sutherland und Ken Schwaber ihr Scrum-Framework entwickelt haben: "6 Leute arbeiten 40 Stunden die Woche an einem Thema." Sondern Teilzeitprojekt heißt: 6 bis 8 Leute arbeiten mit verschiedenen Zeitressourcen (1/2 bis 3 Tage pro Woche) in einem Projekt zusammen. Aber fast jedes Teammitglied hat daneben oder sogar hauptsächlich noch andere Projekte oder haufenweise Routineaufgaben an der Backe.
Das Projekt läuft nicht wirklich gut. Vor knapp einem Jahr ist es gestartet und hat nach einiger Zeit richtig Fahrt aufgenommen. Aber in den letzten drei, vier Monaten hat sich die Produktivität deutlich verschlechtert und Hendrik Zobrist, der Product Owner, macht sich Sorgen. Die Bugrate bei den Customizing-Tasks hat sich erhöht und erfordert regelmäßig Nacharbeits-Schleifen in den Folgesprints. Oder Aufgaben werden von einzelnen Teammitgliedern gar nicht rechtzeitig erledigt, diese Stockungen auf dem Teamboard nicht transparent gemacht und der Stand auf den Stand-up-Meetings nicht richtig dargestellt. Insgesamt macht sich eine resignative Stimmung breit, dass das geplante nächste Release sowieso nicht zu schaffen ist. Das lähmt zusätzlich.
Nun ist es in Teilzeitprojekten - so meine Erfahrung - sowieso richtig schwierig, ein wirkliches Teamfeeling zu entwickeln. (Würde mich übrigens sehr interessieren, ob es dir - liebe Leserin, lieber Leser - in deinen Projekten auch so geht.) Deshalb habe ich für mich und zur Kommunikation im Projekt eine Visualisierungsform entwickelt, um mir erstmal selber mehr Klarheit über die Teamenergie zu verschaffen. Ich nenne das mein "Energietableau". Und so ein Tableau benutzt jetzt auch Hendrik Zobrist, um sich von den Ursachen des mangelnden Energielevels ein Bild zu machen.
Das Tableau in der folgenden Abbildung zeigt übrigens nur das Kernteam, das das Projekt den ganzen Zeitraum über begleitet. Hinzu kommen in jeder Phase, in der die E-Akte in eine Abteilung der Universität eingeführt wird, Vertreter von den dortigen künftigen Anwender:innen.
Das Teamtableau im Überblick
Um mit dem Tableau arbeiten zu können, muss man seinen Aufbau im Detail verstehen. Dazu erkläre ich am besten die drei Schritte, in denen ich dabei vorgehe.
Schritt 1: Zeitressourcen
Ich fange auf der Sachebene an, also ohne Bewertungen von Verhaltensweisen. Ich frage nur: "Wie viel Zeit hat Teammitglied A für das Projekt zur Verfügung?"
In die Mitte steht bei mir das "Team", nicht das "Projekt". Energie hat viel mit Beziehungen zu tun, weniger mit Commitment auf ein inhaltliches Projektziel (meine persönliche Projektbrille). Aber das kann ja jeder anpassen.
Die verschiedenen Zeitressourcen, die jemand zur Verfügung hat, stelle ich als Distanz zum Team dar (also nicht als Größe des Kästchens der Person). Einfach weil jemand, der vier Stunden pro Woche für das Projekt hat, weniger intensive Beziehungen zum Gesamtteam aufbauen kann, als jemand, der drei Tage im Projekt ist. Daraus ergeben sich drei konzentrische Zonen um das Team im Mittelpunkt. Was hohe, mittlere und geringe Zeitressourcen genau bedeuten, hängt vom konkreten Projekt ab.
Schritt 2: Haltungen zum Projekt
Dann gehe ich zur subjektiven Bewertung über. Das heißt, ich versuche die Haltungen der einzelnen Teammitglieder zum Team zu bewerten, und zwar "aus dem Bauch heraus". Das ist nicht unproblematisch, weil Sympathie und Antipathien das Bild verfälschen können. Aber eine andere Vorgehensweise ist mir bislang nicht eingefallen.
Ich unterscheide "Gebende", "Nehmende" und "Wägende". Das sind nach meiner Vorstellung persönliche Verhaltensmuster, also relativ unabhängig von den Zeitressourcen, die jemand in ein Projekt einbringen kann. Gebende sind Leute, denen es wichtig ist, die Teamkollegen und damit die Projektziele zu unterstützen, auch wenn sie keinen persönlichen Nutzen daraus ziehen. Dann gibt es die "Nehmenden", die umgekehrt nur etwas tun, wenn dabei etwas für sie herausspringt (Anerkennung, besonders durch Vorgesetzte, Karrierechancen usw.). Und dann gibt es die Wägenden, die schauen, dass Leistung und Belohnung in der Waage bleiben.
Diese drei Verhaltensmuster bilde ich durch Färbung der Rautenformen ab, die jeweils eine Person darstellen. Darüberhinaus unterscheide ich verschiedene Bindungsstärken der Teammitglieder zum Projekt durch unterschiedliche Strichformen. Oft geht die Haltung "Nehmen" mit schwacher Projektbindung einher, aber durchaus nicht immer. Die Größen sind korreliert, aber nicht identisch.
Schritt 3: Die Projektumgebung
Gerade Teilzeitprojekte sind in hohem Maße von ihrer Umgebung abhängig. Die Projektbeteiligten stehen in Macht- und Loyalitätsbeziehungen zur Linienorganisation oder auch zu externen Unternehmen.
Das ganze Bild
Was sehe ich - mit diesen Symboliken im Hintergrund - im Gesamtschema?
Zuerst einmal fällt auf, wie ungünstig die Energiebilanz im Ganzen ist: drei gebenden Mitgliedern ("Energiequellen") stehen zwei nehmende ("Energiesenken") gegenüber. Und dann gibt es noch zwei wägende Mitglieder, die ordentlich arbeiten, aber nicht sehr viel zur Teamenergie beitragen. Besonders ins Gewicht fällt, dass der Scrum Master, der ja speziell dafür da ist, dem Team Hindernisse aus dem Weg zu räumen und der eigentlich auf die Teamenergie besonders zu achten hätte - dass dieser Scrum Master selbst Teil des Problems ist.
Wenn es nicht gelingt, hier zu ganz gewichtigen Verbesserungen zu gelangen, ist das Projekt stark gefährdet. Es wird zu einem Kaugummiprojekt, das sich über Jahre hinschleppt, und von dem schon in ein paar Monaten niemand aus der Verwaltung mehr etwas hören mag. Eine große Herausforderung in OE-Projekten besteht darin, dafür zu sorgen, dass das Projekt im Laufe der Zeit immer mehr Energie gewinnt. Das es aus den eigenen Erfolgen Kraft zieht und Fahrt aufnimmt.
Was könnte man tun?
Ich erläutere eine mögliche Antwort an einem Beispiel, und zwar an einer personenbezogenen Intervention.
Sybille Fernau wurde von der IuK-Abteilung in das Projekt entsendet. Ihre Expertise besteht in der technischen Administration der DMS-Software. Dafür hat sie ca. 1 Tag pro Woche zur Verfügung. Sie ist erfahren im Customizing von Fachverfahren und hätte durchaus die Fähigkeiten, sich auch in die neue DMS-Software schnell und tief einzuarbeiten. Das tut sie aber nicht. Sie verhält sich als "Nehmende".
Warum?
Alles was jetzt kommt, ist Spekulation - oder vornehmer: "eine Hypothese". Sie wird im Tableau nicht dargestellt. Das Tableau (plus eine 10monatige Projekterfahrung regt den Product Owner nur an, systematisch solche Hypothesen zu entwickeln.
Sie hat eine starke Bindung zur IuK-Abteilung. Sie würde dort gerne anspruchsvollere Aufgaben wahrnehmen, z.B. in der strategischen Produktentwicklung. Ihre (Teil-)Abordnung in Richtung DMS empfindet sie als Abwertung: bloß Sachen umsetzen, die inhaltlich von PO und Anwendervertrertern im Projekt festgelegt werden? Außerdem steht der Leiter der IuK-Abteilung, Fabian Maurer, der ganzen E-Akte eher ablehnend gegenüber, weil er ein Verfechter der Silo-Organisation ist. Sybille Fernau hat also nichts zu befürchten, wenn sie im Projekt nur widerwillig arbeitet.
Im Gegenteil. Von den drei Motivationsfaktoren des dreibeinigen Trampolins von Heinz Bayer /Anmerkung 2/ kann sie Autonomie am besten durch Verweigerung erzielen: "Ich lasse mich nicht zu Aufgaben zwingen, die mich herabstufen." Und auch ihr Streben nach Teilhabe gilt eher ihrer Linienabteilung und fast gar nicht dem Projektteam. Kompetenz beweist sie im Projekt zwar nicht, die bescheinigt sie sich nur in ihrer Phantasie: "Ich bin eigentlich zu ganz anderem berufen." Sybille ist also gar nicht unmotiviert (auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag). Sie ist motiviert zur Nicht-Kollaboration. Und dass das so bei ihr funktioniert, hält mit einem grundlegenden Nehmenden-Muster zusammen, das sie auch schon in anderen Kontexten praktiiert hat.
Jetzt kann Hendrik Zobrist als PO Interventionen planen, um zu Änderungen zu kommen. Kann er Sybille dafür gewinnen, ihre Haltung zu modifizieren? Wenn nicht, muss er sich von ihr im Projekt trennen. Woher könnte Ersatz kommen? Usw.
Für solche Überlegungen bietet das Energietableau eine Systematik an. Das heißt, der PO kann Person für Person durchgehen und überlegen, wie er die Energiebilanz des Gesamtsystems stärken kann, indem er mit dem jeweiligen Teammitglied in den Dialog geht.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf www.agile-verwaltung.org publiziert.
Anmerkungen
/1/ Die Begriffe "Nehmende", "Gebende" und "Wägende" habe ich von Adam Grant übernommen. Siehe zum Beispiel seinen TED-Vortrag https://www.ted.com/talks/adam_grant_are_you_a_giver_or_a_taker
/2/ Siehe zum Beispiel den Beitrag von Heinz http://agile-verwaltung.org/2020/03/19/der-blick-auf-agile-ablaeufe-durch-die-brille-des-dreibeinigen-trampolins/
Total spannender Artikel! Gerade auch die ganzen Tableau-Darstellungen machen das Thema super anschaulich. Wir im Verein haben begonnen, uns stärker mit dem Teamgefüge zu beschäftigen, und haben schon einige Dinge umgesetzt. Unser Blogbeitrag kratzt noch an der Oberfläche (Für einen groben Überblick zu finden unter https://intouch-consult.de/teamwork-das-perfekte-team/), aber euer Artikel dröselt gerade das Team in einem Beraterteam nochmal hervorragend auf. Was ich mich jetzt frage: Habt ihr ein Verfahren, in dem man ein Team zwischenmenschlich "testen" kann und sich Erfolgschancen auf ein funktionierendes Gefüge ausmalen kann? Wir gehen bei unserer Projektbesetzung noch stark nach Kompetenzen und möchten das gerne ändern.
AntwortenLöschenVielen Dank und liebe Grüße!