Es war einmal... Rechtzeitig zur Geschichtensaison bringen 45 Autorinnen und Autoren ihre ganz persönliche Short Story heraus, wie es sie auf ihre "Mission Agile" verschlagen hat.
Dieses Kapitel ist mein Beitrag zu diesem Buch, auf das wir uns alle ganz besonders freuen. Zünden Sie sich die erste Kerze auf dem Adventskranz noch einmal an, schnappen Sie sich einen Tee, und dann viel Vergnügen bei dieser kleinen Kostprobe!
2008
Es ist 09:00 Uhr. Ich stehe an der Ballettbarre. Mein Kopf ist zur Seite gedreht. Ich blicke in den ungnädig ehrlichen Spiegel. Aus der Ferne untersuche ich das Röllchen, das sich an jener Stelle bildet, wo der Strumpfhosenbund sitzt. Das kann nur an der Tüte Haribo von gestern liegen. Meine Füße stehen nach außen gerichtet, gerade so, wie es meine Anatomie ermöglicht. Das Linoleum auf dem Fußboden ist hell und mit Markierungen überzogen.
Meine Ballettschläppchen haben das eigentümliche Rosa, das die Herzen aller Ballerinas sofort höher schlagen lässt. Meine Füße kippen leicht über die Innenkanten. Ich konzentriere mich darauf, den ganzen Fuß wie einen Saugnapf auf den Boden zu bekommen. Meine gesamte Beinmuskulatur gibt sich große Mühe. Ich atme etwas zu laut und etwas zu wehleidig, als ich trotz eingezogenem Bauch die Schulterblätter nach unten korrigiere und die dabei entstandene Spannung in den Armen wieder loslasse. Chantal, unsere Ballettlehrerin, wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Ich schüttle leicht den Kopf, um meinen Nacken noch einmal zu bewegen.
Also: Schultern runter, fallen lassen, Brustbein hoch, Rippenbögen geschlossen. Mein rechter Arm sitzt in locker gespanntem Bogen an meiner Hüfte, der linke ruht fest und dennoch entspannt auf der Barre. Tschakaaa. Eine Haarsträhne kitzelt mich an der Stirn.
Die Musikanlage knackt, die ersten Takte der üblichen klassischen Musik erklingen.
Preparation. Ein Pianist klimpert ein Intro, ich atme ein. Mein rechter Arm hebt sich mit der Atembewegung etwa 30 Zentimeter von der Hüfte weg, um mit dem Ausatmen wieder herabzusinken und mit einer Kreisbewegung die Hand an meinem Oberschenkel vorbei, hoch auf Höhe des Bauchnabels zu führen. Von dort hebt er sich hinaus, weg von der Stange, und kommt etwas unter Schulterhöhe links von meinem Körper zum Halt. Blick und Kopf folgen der Bewegung meiner Hand, die leicht gebeugte Form des Armes bleibt dieselbe, wenn sie auch atmet mit der Bewegung.
Die Übung beginnt. Routine. Jeden Morgen reihen wir Bewegung an Bewegung zu einer immer gleichen Kette aus Figuren, zusammengesetzt aus kleinsten Korrekturen: Füße auf den Boden, Gewicht auf den Fuß, gleichmäßig, nicht zur Seite kippen, alle Zehen belasten und wie liegt der Ballen auf? Die größere Bewegung ergibt sich aus vielen kleinen Informationen.
Demi Plié – die Füße drücken in der Kniebeuge auf den Boden, schieben ihn geradezu weg. Die Gesäßmus- kulatur spannt sich an, Knie nach außen. Knie über die Fußspitzen! Ich beuge sie wie gegen einen Widerstand und strecke sie zurück wie gegen eine Feder, die mich auf dem Boden hält. Grand Plié mit Armbewegung – der Kopf folgt, Knie wieder gerade. Dann streckt sich der Oberkörper, der vom Arm beschriebene Halbkreis wird nach oben verlängert und ich beuge den Oberkörper nach unten, bis meine Hand den Boden berührt, den Arm wieder zum Bogen geformt, und bis meine Nase an mein Knie stößt. Na bitte.
Mein Frühstücks-Latte-Macchiato gluckert gefährlich in meinem Magen und läuft Richtung Hals. Ich ärgere mich wie jeden Morgen, dass ich vor unserem dreistündigen Training Kaffee, Obst und Brötchen mit Käse und Mar- melade verdrückt habe. Ich denke beim Aufrichten an die Option, lieber gar nichts zu essen, wie viele meiner Kommilitonen. Hinter mir knurrt der Magen von Janis. Ich verwerfe den Gedanken.
Ob meiner Frühstückserwägungen war ich unaufmerksam in der Aufrichtung. Mein Kopf ist wieder zur Seite ge- dreht, mein Arm im Rund nach oben gestreckt, die Finger leicht gefächert. Aber meine Wirbelsäule ist nicht gut ge- nug für die Rückwärtsbeuge aufgerichtet. Ich strecke mich noch ein wenig nach oben, lasse die Schulterblätter trotz erhobenen Arms nach unten gleiten und stütze den Arm von der Seitenmuskulatur aus. Aber ich bin nun zu spät. Ich lehne mich nach hinten und stoße gegen den Arm von Janis, der seinen Arm schon wieder nach vorn und weiter nach unten führt für die nächste Preparation.
»Alise! Good Morning! Bist du erwacht?« Chantal entgeht aber auch nichts. Sie steht neben mir, die kurzen Lo- cken mit einem Tuch zurückgebunden, und sieht mich verständnislos aus 1,55 Meter Höhe an. Ich gucke zurück, entschuldigend. Vor mir drehen sich vier meiner Kameraden mit der Musik an der Stange um, um die Übung in die andere Richtung durchzuführen. Ich seufze und drehe mich so elegant es noch geht.
Noch einmal von vorn. Ich bin aus dem Tritt gekommen und konzentriere mich wieder auf die Basics.
Es ist mühsam.
Während wir Musicalschüler Tag für Tag die gleichen Bewegungsabläufe wiederholen, beschleichen uns alle dann und wann ähnliche Zweifel: Was, wenn ich überhaupt nicht Ballett tanzen möchte? Ich bin Sänger, wofür die Plage, ich werde nie so viel tanzen wie Alma! Muss ich den Arm jetzt genau so halten wie Hanna? Bin ich etwa hier, um Standard zu sein? Wann kann ich meinen eigenen Stil zeigen? Was, wenn ich etwas ganz anderes tanzen möchte? Was ich damals noch nicht wirklich verstand: Es ging nicht darum, Ballett zu lernen. Ich sollte meinem Körper eine solide Basis antrainieren, damit ich meine Bewegungen aus Gewohnheit gesund führe. Es ging darum zu lernen, wie ich mit meinem Instrument bei jeglicher Art von Tanz und Choreographie umgehen kann, ohne mich zu verletzen. Ziel der Ausbildung war nicht, aus mir eine Ballerina zu machen. Ziel der Ausbildung war, mir das Rüstzeug für alle Eventualitäten auf der Bühne mitzugeben, damit ich Situationen, Bewegungen, Verbesserungen undVerletzungen selbst beurteilen kann und handlungsfähig bin.
Die Technik und die Grundlagen für einen gesunden Umgang mit dem Körper beruhen auf Erfahrung und lang erarbeitetem Wissen. Ich muss das nicht neu erfinden. Vielleicht ist das im Moment nicht mein Tanzstil, aber wenn ich die korrekten, vernünftigen Abläufe verinnerlicht habe, kann ich meinen eigenen Stil nden und umsetzen, im Einklang mit dem Instrument.
Genauso geht es nicht darum, Scrum zu machen oder agil zu arbeiten. Es geht darum, ein System so aufzustellen, dass es exibel und reaktionsfähig bleiben kann. Es geht darum, Strukturen und Rituale zu nden, die beim Meistern des Alltags und bei der Bewältigung von Unvorhergesehenem helfen. Wir kennen die neue Choreographie noch nicht, aber wir wissen, wie unser Team als Instrument der Verwirklichung arbeiten kann. Und wir wissen, dass wir zur Bewältigung einer neuen Situation oder Bewegung immer wieder neue Strategien erlernen können, die auf dem starken Fundament unserer Erfahrungen stehen.
Die Anlage beschallt uns weiter mit Klaviermusik. Ruhe kehrt in die trainierende Gruppe ein. Die nächste Folge ist gut bekannt, die Bewegungen haben wir lange geübt. Na, vielleicht klappt das doch noch. Die Beine schnellen über den Boden, setzten wieder auf. Alles geschieht wie in einen Atemzug. Für einen Moment ist alles im Fluss. Durch das sorgfältige Üben der Details jeder Bewegung kann ich mich voll und ganz auf die Flughöhe meiner Flunken konzentrieren. Jetzt macht es Spaß! Wie kriege ich mein Bein im Schwung eigentlich noch höher, ohne dass es mich von meinem Standbein haut? Das würde ich jetzt gerne mal wissen.
Ich bekomme einen Tritt von Janis. Chantal guckt entnervt. Janis verzieht das Gesicht zur Grimasse und korrigiert seine Position nach hinten.
2019
Ich bin zu Besuch in einer neuen eduScrum-Klasse.
Manchmal weiß ich selbst nicht genau, wie es mich hierher verschlagen hat.
Gerade hat es geklingelt. Schon vor dem Klingeln sind die ersten Schülerinnen und Schüler nach vorne zum Lehrertisch gekommen, um ihre eduScrum-Boards, die sogenannten Flaps, abzuholen, auf denen sie ihre Aufgaben planen werden. Nacheinander blättern sie durch eine große Mappe mit bunten Flipchartpapieren, die mit Arbeitskriterien, Teamvereinbarungenund den drei Kolumnen »Zu tun«, »In Arbeit« und »Fertig«versehen sind, beklebt mit Post-its, Umschlägen und Teamwappen. Wer das Flap für sein Team gefunden hat, läuft zum Teamtisch und hängt das Board gemeinsam mit den anderen an der Wand auf. Schülerinnen und Schüler recken sich und steigen auf Tische, um das Papier mit Magneten an einer Metallleiste zu fixieren. Sobald das Flap hängt, stehen die Teammitglieder zusammen und beraten kurz, was sie fertig bekommen haben und wie viel sie in der heutigen Stunde gemeinsam schaffen müssen. Post-its werden umgeklebt. Aufgrund der schieren Masse an kleinen Aufgaben wandern einige schon länger abgeschlossene ToDos in einen Sammelumschlag in der »Fertig«-Spalte.
Noch ist alles sehr unruhig. Der Lehrer hat sich viel Zeit genommen, um der Klasse zu erklären, warum er eduScrum verwenden möchte und was dabei für die Schüler rausspringt. Wofür wird jedes Meeting und jede Regel gebraucht?
eduScrum hat wenige feste Regeln, die dafür umso genauer eingehalten werden. Sie sind lang erprobt. Diese Leitplanken des Rahmenwerkes ermöglichen überhaupt erst die Flexibilität in der Zusammenarbeit der Teams und die Freiheit mitten im Chaos. Die neuen Praktiken sind das Sicherheitsnetz, das hält und auf das man sich im Zweifelsfall zurückfallen lassen kann. Innerhalb dieser Regeln sind die Schülerteams frei.
Bei einem Team kommt Unruhe im Standup auf. Die Jugendlichen trappeln vor ihrem Flap hin und her, gucken genervt in die Runde. Eines der Teammitglieder hat offensichtlich seinen vereinbarten Teil der Hausaufgaben nicht gemacht, also können die anderen Teammitglieder die Aufgaben nicht auf »Fertig« hängen. Natürlich hat das Team einen Schüler-Scrum-Master. Aber manchmal ist es schwer, gerade am Anfang, in diese Rolle hineinzufinden. Der Lehrer geht zum Team hinüber und sie fangen nochmal von vorne an. Das Team konzentriert sich zuerst darauf, was es wirklich abhaken kann. Okay, nächster Punkt: Was will das Team gemeinsam noch einmal überprüfen, um zu schauen, ob es jeder verstanden hat? Check. Jetzt bleibt tatsächlich mehr in der »In Arbeit«-Spalte, als er- hofft. Die Teammitglieder diskutieren eine Weile. Schließlich finden sie eine Lösung, wie sie weitermachen können. Und vor allem: Wie sie damit umgehen wollen, wenn ein Teammitglied sich nicht an die Absprachen hält. Sehr gut. Beim nächsten Mal wird es dem Team leichter fallen, selbst eine Lösung für einen Konflikt zu finden.
eduScrum an sich hilft nicht. Was hilft, ist das Tun mit eduScrum. Bis die Regeln zu Gewohnheiten werden, die das Team verinnerlicht hat und für sich variieren kann, wird es noch ein bisschen dauern. Aber das macht ja nichts. Neue Handlungsmuster aufzubauen braucht Zeit.
Wenn man aus dem Tritt kommt, helfen die solide Basis und die gesammelte Erfahrung. Back to basics. Wie früher, beim Ballett.
Das komplette Buch "Agile Short Stories: 45 Autorinnen und Autoren erzählen ihre Geschichte" darf auf dem Wunschzettel für dieses Jahr natürlich nicht fehlen... Sie finden es in Kürze zum Beispiel hier bei Amazon.
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