Wenn wir von Informationen überflutet werden, werden wir tendenziell dümmer. Denn wir überprüfen weniger unsere Vorurteile und bleiben in alten Denkbahnen gefangen.
Wir Menschen sind klassifizierende Wesen. Dauernd sind wir dabei, Bilder und Töne anderen, in der Vergangenheit gefundenen Bildern und Tönen zuzuordnen und so auf Begriffe zu beziehen. "Das ist ein Tisch, das ist eine Pfeife - ach nein, das ist nur das Bild einer Pfeife -, das ist ein Kinderlied, das ist eine Alarmsirene."
Diese Klassifikationen werden von unserem Gehirn "automatisch" getroffen, ohne dass wir es in der Mehrzahl der Fälle bewusst wahrnehmen. Und, ganz wichtig, diese Zuordnungen sind mit (unbewussten) Entscheidungen verbunden. Sie beruhen auf Regeln, die ihrerseits das Konzentrat vergangener Erfahrungen darstellen. Und führen zu Wertungen, die mit diesen gespeicherten Begriffen verbunden sind: wichtig|unwichtig, gefährlich|harmlos, anziehend|abstoßend.
Wenn also Informationen uns bewusst werden, dann haben sie schon einen weiten Weg in unserem Wahrnehmungsapparat hinter sich. Damit wir in der Datenflut der Umgebung, die immer - ganz unabhängig von Smartphones und den Social Media - über uns hereinbricht, nicht untergehen, sondern auf ihr surfen - fällt unser Gehirn "für uns" Urteile über Dinge und Menschen, die uns als Teil der Information dargeboten werden. Der britische Neurowissenschaftler Christopher Frith spricht davon, dass wir nicht die Welt sehen, sondern das Modell der Welt, das unser Gehirn für uns konstruiert: "Tag für Tag befreit [Ihr Gehirn] Sie von Routineaufgaben wie der bewussten Wahrnehmung der Objekte und Geschehnisse um Sie herum sowie der Orientierung und Bewegung in der Welt, so dass Sie sich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben konzentrieren können: Freundschaften zu schließen, Beziehungen zu pflegen und Ideen auszutauschen." /1/
Die in den 1960er Jahren entwickelte These, wir Menschen bevorzugten immer bekannte Zusammenhänge gegenüber unbekannten ("confirmation bias"), wird zwar mittlerweile in dieser Rigorosität in Zweifel gezogen. /2/ Aber offenbar gibt es ein Streben nach Konformität, also nach Bestätigung von Klassifikationen, die von der eigenen Peer-Group geteilt werden.
Und damit sind wir bei den Vorurteilen.
Vorurteile sind Klassifikationen, die auf vorschnellen Verallgemeinerungen beruhen. Ich persönlich bin einmal von russischstämmigen jungen Erwachsenen auf der Straße massiv bedroht worden, und seitdem habe ich ein unangenehmes Gefühl, wenn z. B. in der Straßenbahn hinter meinem Rücken männliche Stimmen auf Russisch kommunizieren. Meine bewusste (voreilige) Selbstbebilderung "Ich bin kein Rassist - ich doch nicht!" wird von meinem Gehirn "... aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!" hinterhältig Lügen gestraft.
Solche Vorurteile und die entsprechenden neuronalen Netze mit neuen differenzierenden Informationen zu ergänzen, bedeutet richtig schwere Arbeit für das Gehirn. Ich muss mir das Gefühl "russisch männlich --> Vorsicht geboten!" ins Bewusstsein heben und möglichst objektiv die zugrundeliegende Erfahrung "überschreiben". Vielleicht so: "Junge männliche Erwachsene aus dem Milieu der Frustrierten, in einer Gruppe, in Testosteron-Haltung --> Gefahr". "Russische Sprache in anderen Zusammenhängen --> keine Gefahr".
Diese Überarbeitung gelingt nur, wenn wir selbst nicht unter dauerndem Informations-Verarbeitungs-Stress stehen. Der Biologe und Wissenschaftsautor Martin Korte drückt das so aus:
Und dass eine zweite Bedingung ist: einen Teil der gewonnenen Zeit
für bewusste Infragestellung unserer Klassifikationen zu nutzen.
Eine Art "Begriffs-Retrospektive", in der wir unsere Denkschamata aktiv in Frage stellen. Konfrontation mit fremden Meinungen - Feedback einholen von Leuten, die
wir nicht mögen - Lesen von Schriften, die unseren Auffassungen
zuwiderlaufen - solche Dinge eben. Aber schon eine Viertelstunde nichts
tun, nicht auf ein Ziel hin zu denken, Langeweile zulassen - hilft
enorm. Denn bestimmte, kreative Gehirnareale werden nur dann aktiviert, wenn wir nicht auf ein Ziel hin denken.
Dösen im Liegestuhl macht uns klug. Wenn das keine gute Ferienbotschaft ist!
/2/ Vgl. den Wikipedia-Eintrag "Bestätigungsfehler", https://de.wikipedia.org/wiki/Best%C3%A4tigungsfehler
/3/ Martin Korte: Unsere Kehrseite, Frankfurter Rundschau, 18. Juni 2019
Wir Menschen sind klassifizierende Wesen. Dauernd sind wir dabei, Bilder und Töne anderen, in der Vergangenheit gefundenen Bildern und Tönen zuzuordnen und so auf Begriffe zu beziehen. "Das ist ein Tisch, das ist eine Pfeife - ach nein, das ist nur das Bild einer Pfeife -, das ist ein Kinderlied, das ist eine Alarmsirene."
Diese Klassifikationen werden von unserem Gehirn "automatisch" getroffen, ohne dass wir es in der Mehrzahl der Fälle bewusst wahrnehmen. Und, ganz wichtig, diese Zuordnungen sind mit (unbewussten) Entscheidungen verbunden. Sie beruhen auf Regeln, die ihrerseits das Konzentrat vergangener Erfahrungen darstellen. Und führen zu Wertungen, die mit diesen gespeicherten Begriffen verbunden sind: wichtig|unwichtig, gefährlich|harmlos, anziehend|abstoßend.
Wenn also Informationen uns bewusst werden, dann haben sie schon einen weiten Weg in unserem Wahrnehmungsapparat hinter sich. Damit wir in der Datenflut der Umgebung, die immer - ganz unabhängig von Smartphones und den Social Media - über uns hereinbricht, nicht untergehen, sondern auf ihr surfen - fällt unser Gehirn "für uns" Urteile über Dinge und Menschen, die uns als Teil der Information dargeboten werden. Der britische Neurowissenschaftler Christopher Frith spricht davon, dass wir nicht die Welt sehen, sondern das Modell der Welt, das unser Gehirn für uns konstruiert: "Tag für Tag befreit [Ihr Gehirn] Sie von Routineaufgaben wie der bewussten Wahrnehmung der Objekte und Geschehnisse um Sie herum sowie der Orientierung und Bewegung in der Welt, so dass Sie sich auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben konzentrieren können: Freundschaften zu schließen, Beziehungen zu pflegen und Ideen auszutauschen." /1/
Die unbewusste Einordnung von Informationen und ihre darauf beruhende Filterung entscheidet darüber, ob etwas unsere Aufmerksamkeit verdient oder nicht. Wenn diese Einordnung gelingt ("alles schon bekannt"), so hat das etwas Beruhigendes, während etwas Neues, Überraschendes, Ungewohntes uns erst einmal ein Stück sicheren Bodens entzieht. Das Bestätigen unserer Urteile ist uns angenehmer als ihre Infragestellung. Das ist einer der Gründe, warum wir uns so schwer tun, Vorurteile über Bord zu werfen.
Neuronale Netze im Gehirn strukturieren unsere Wahrnehmung (Bild von John Hain auf pixabay) |
Und damit sind wir bei den Vorurteilen.
Vorurteile sind Klassifikationen, die auf vorschnellen Verallgemeinerungen beruhen. Ich persönlich bin einmal von russischstämmigen jungen Erwachsenen auf der Straße massiv bedroht worden, und seitdem habe ich ein unangenehmes Gefühl, wenn z. B. in der Straßenbahn hinter meinem Rücken männliche Stimmen auf Russisch kommunizieren. Meine bewusste (voreilige) Selbstbebilderung "Ich bin kein Rassist - ich doch nicht!" wird von meinem Gehirn "... aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!" hinterhältig Lügen gestraft.
Solche Vorurteile und die entsprechenden neuronalen Netze mit neuen differenzierenden Informationen zu ergänzen, bedeutet richtig schwere Arbeit für das Gehirn. Ich muss mir das Gefühl "russisch männlich --> Vorsicht geboten!" ins Bewusstsein heben und möglichst objektiv die zugrundeliegende Erfahrung "überschreiben". Vielleicht so: "Junge männliche Erwachsene aus dem Milieu der Frustrierten, in einer Gruppe, in Testosteron-Haltung --> Gefahr". "Russische Sprache in anderen Zusammenhängen --> keine Gefahr".
Diese Überarbeitung gelingt nur, wenn wir selbst nicht unter dauerndem Informations-Verarbeitungs-Stress stehen. Der Biologe und Wissenschaftsautor Martin Korte drückt das so aus:
"Es gehört zu den Paradoxien unseres modernen Lebensstils, dass wir versuchen, immer mehr Informationen pro Zeiteinheit zu prozessieren, was uns dann aber weniger offen macht für neue Sachverhalte und neue Informationen, da das Gehirn nur auf die Zusammenhänge schaut, die es schon zu kennen meint. Dieser „information overflow“ macht uns sogar weniger offen für Neues. Was wir entwickeln müssen, ist also eine Antenne dafür, wie wichtig und wertvoll neue Informationen sind (die nicht den bestehenden Stereotypien entsprechen) und wie wir diese in den Raum unseres vorhandenen Wissens einbauen können, so dass dieser Wissensraum sich auch in seiner Struktur und nicht nur in seiner Ausdehnung ändern kann." /3/Es spricht also einiges dafür, dass Eindämmung der Informationsflut eine Bedingung dafür darstellt, unsere Bewusstheit, gedankliche Klarheit und Klugheit zu entwickeln. Also uns.
Toolkit zur Erweiterung unserer Urteilsfähigkeit (Bild von Annalise Batista auf pixabay) |
Dösen im Liegestuhl macht uns klug. Wenn das keine gute Ferienbotschaft ist!
Anmerkungen
/1/ Chris Frith: Wie unser Gehirn die Welt erschafft,
Spektrum Akademischer Verlag, 2010
/2/ Vgl. den Wikipedia-Eintrag "Bestätigungsfehler", https://de.wikipedia.org/wiki/Best%C3%A4tigungsfehler
/3/ Martin Korte: Unsere Kehrseite, Frankfurter Rundschau, 18. Juni 2019
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