Am 15. September 2018 ist Prof. Karl Hayo Siemsen verstorben. Hier ein persönlicher Nachruf.
An alle Ehemaligen: Bitte an andere ehemalige Studierende und Diplomanden weiterleiten. Die Beerdigung findet am 24. September in Emden statt.
Prof. Siemsen hatte eine ganz besondere Art, uns Dinge beizubringen. Ihm war wichtig, dass wir in wesentlichen Begriffen ("Gestalten") sattelfest sind. Dazu hat er mechanische Analogien benutzt und sie - wenn es nötig war - mit Händen und Füßen vorgetragen, damit wir sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Dann hat er mit Fragen unser Wissen an den Rändern getestet, z. B. mit Fragen wie: "Kann man sich einen mm/s schneller als Lichtgeschwindigkeit bewegen?" Erst nachdem er sicher sein konnte, dass wir begriffen haben, was ihm wichtig war, ging er zu Formeln, Algorithmen oder zur nächsten Lektion weiter.
Alle Studierenden, die bei ihm Hausarbeiten oder Praktika machten, hatten einen festen Platz im Labor. Dieses Labor war von früh bis spät geöffnet. Wir mussten immer wieder unsere Texte vorlegen, damit Prof. Siemsen unser Denken nachvollziehen konnte. Wenn er unsere Ausführungen nicht verstand, wurde man zum Gespräch gebeten. Dabei ging es weniger um Rechtschreibfehler oder Ausdrucksmängel. Vielmehr wurde durch unsere Texte deutlich, dass oft gar nichts klar war: wir vermengten verschiedene Begriffe. Unser Vorgehen war zu unkonkret oder wir standen vor unerklärlichen Hindernissen. Herr Siemsen hat uns nicht einfach korrigiert. Stattdessen hat er uns durch Fragen und Nachbohren dazu gebracht, unsere Denkblockaden selbst zu finden und zu entfernen. Das war nicht unbedingt eine angenehme Erfahrung. Sie war aber nötig, um voran zu kommen.
Prof. Siemsen handelte nicht intuitiv. Hinter seinen Ausbildungsmethoden stand eine besondere Pädagogik, die er selbst nach und nach wieder entdeckte. Er wurde direkt nach seinem Studium mit einer Aufgabe betraut, um die Lehre zu verbessern. Als er anfing, Daten zu sammeln, stellte er fest, dass der geplante Ansatz keine Wirkung zeigte. Er machte sich auf die Suche danach, was überhaupt funktionierte und kam so zu der Arbeit von Ernst Mach, einem wichtigen Physiker aus dem 19. Jahrhundert.
Ernst Mach brachte viele einzelne Ansätze, die bereits bekannt waren, zusammen, um Leute auszubilden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Arbeit von Ernst Mach und der Tatsache, dass viele Nobelpreisträger Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Kulturraum kamen. Albert Einstein hatte eine Nachruf auf Ernst Mach veröffentlicht /1, 2/.
Freie Wissenschaft und Diktaturen vertragen sich nicht. Deshalb sind viele bekannte Wissenschaftler in der Zeit von 1933 - 1945 ins Ausland gegangen - und nicht zurückgekommen. Das war insofern von Bedeutung, weil keiner mehr die besondere Pädagogik von Ernst Mach in Deutschland benutzt hat und erklären konnte.
Es ist der besondere Verdienst von Prof. Siemsen und seinem Sohn Hayo, dass sie dieses Wissen wieder entdeckt und geordnet haben. Vieles der Mach'schen Ausbildung widerspricht der üblichen Herangehensweise an Hochschulen (z. B. das Aussieben, komplizierte Sprache, Hyperspezialisierung). Man kann sich vorstellen, dass man sich damit im Wissenschaftsbetrieb nicht gerade beliebt macht.
Prof. Siemsen war die Freiheit der Lehre und die Vielfalt von Ansichten sehr wichtig. Er hat sich stets für seine Studierenden eingesetzt. Auch die scheinbar hoffnungslosen Fälle hat er mit viel Geduld betreut, bis die Blockaden im Kopf geknackt wurden.
Bereits am 6. April starb auch sein Sohn Hayo Siemsen. Hayo hat nach seinem Studium und einer Phase in der Wirtschaft die Forschung seines Vaters weitergeführt.
Bei der Auswertung einer PISA-Studie haben Hayo und sein Vater festgestellt, dass die Notenverteilung in Finnland von der üblichen Normalverteilung abwich. Da sie ähnliche Notenverteilungen aus ihren eigenen Vorlesungen kannten, haben die beiden sich auf den Weg nach Finnland gemacht. Ihre Annahme war, dass es eine Person gab, die den naturwissenschaftlichen Unterricht besonders geprägt hat. Schnell haben sie diese Person gefunden, Kaarle Kurki-Suonio. In der Zeit vor der ersten PISA-Studie hat er damit begonnen, ca. 700 Physiklehrer (ein Drittel alle finnischen Physiklehrer) auszubilden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat er die Ideen von Mach verwendet. Hayo und sein Vater haben ihn ermuntert, in alten Aufzeichnungen und Briefen danach zu suchen, die er auch zu seiner Überraschung fand.
Diese Erfahrung hat beide ermuntert, nach weiteren Leuten zu suchen, die aus pädagogischer Sicht besonders aufgefallen sind. Im November 2012 hat Hayo mit anderen zusammen den Kongress "Neue Formen der Lehre und des Lernens" an der HTW in Saarbrücken organisiert, um Leute wie Kaarle Kurki-Suonio zusammenzubringen und um ihre Erkenntnisse auszutauschen /3/.
Im Juni 2016 wurde an der Uni Wien zum hundertsten Todestag von Ernst Mach eine Konferenz mit Hayos Mithilfe organisiert. Dort haben Hayo und auch sein Vater in Vorträgen ihren Forschungsstand vorgestellt. Prof. Siemsen schrieb mir später, dass diese Konferenz die Krönung seines Lebenswerks war.
Mit beiden verlieren Peter und ich unsere wichtigsten Mentoren, was Ausbildung und Lehre angeht.
Aber auch für die Wissenschaftsgeschichte ist dieser Verlust schmerzhaft. Beide haben unermüdlich geforscht, um besser zu verstehen, wie Ernst Mach und von ihm geprägte Menschen andere ausgebildet haben. Hayo hat in den letzten Jahren viele Informationen für seine Habilitierungsschrift zusammengetragen. Er starb zwei Wochen vor der Verteidigung für seine Habilitation.
An alle Ehemaligen: Bitte an andere ehemalige Studierende und Diplomanden weiterleiten. Die Beerdigung findet am 24. September in Emden statt.
Karl Hayo Siemsen (1944-2018)
Karl Hayo Siemsen war Professor im Bereich Elektrotechnik und Informatik der Fachhochschule in Emden. Im Rahmen meines Studiums habe ich mehrere Vorlesungen und Praktika bei ihm besucht. Er hat mehrere von meinen Hausarbeiten und schließlich meine Diplomarbeit betreut.Prof. Siemsen hatte eine ganz besondere Art, uns Dinge beizubringen. Ihm war wichtig, dass wir in wesentlichen Begriffen ("Gestalten") sattelfest sind. Dazu hat er mechanische Analogien benutzt und sie - wenn es nötig war - mit Händen und Füßen vorgetragen, damit wir sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Dann hat er mit Fragen unser Wissen an den Rändern getestet, z. B. mit Fragen wie: "Kann man sich einen mm/s schneller als Lichtgeschwindigkeit bewegen?" Erst nachdem er sicher sein konnte, dass wir begriffen haben, was ihm wichtig war, ging er zu Formeln, Algorithmen oder zur nächsten Lektion weiter.
Alle Studierenden, die bei ihm Hausarbeiten oder Praktika machten, hatten einen festen Platz im Labor. Dieses Labor war von früh bis spät geöffnet. Wir mussten immer wieder unsere Texte vorlegen, damit Prof. Siemsen unser Denken nachvollziehen konnte. Wenn er unsere Ausführungen nicht verstand, wurde man zum Gespräch gebeten. Dabei ging es weniger um Rechtschreibfehler oder Ausdrucksmängel. Vielmehr wurde durch unsere Texte deutlich, dass oft gar nichts klar war: wir vermengten verschiedene Begriffe. Unser Vorgehen war zu unkonkret oder wir standen vor unerklärlichen Hindernissen. Herr Siemsen hat uns nicht einfach korrigiert. Stattdessen hat er uns durch Fragen und Nachbohren dazu gebracht, unsere Denkblockaden selbst zu finden und zu entfernen. Das war nicht unbedingt eine angenehme Erfahrung. Sie war aber nötig, um voran zu kommen.
Prof. Siemsen handelte nicht intuitiv. Hinter seinen Ausbildungsmethoden stand eine besondere Pädagogik, die er selbst nach und nach wieder entdeckte. Er wurde direkt nach seinem Studium mit einer Aufgabe betraut, um die Lehre zu verbessern. Als er anfing, Daten zu sammeln, stellte er fest, dass der geplante Ansatz keine Wirkung zeigte. Er machte sich auf die Suche danach, was überhaupt funktionierte und kam so zu der Arbeit von Ernst Mach, einem wichtigen Physiker aus dem 19. Jahrhundert.
Ernst Mach brachte viele einzelne Ansätze, die bereits bekannt waren, zusammen, um Leute auszubilden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Arbeit von Ernst Mach und der Tatsache, dass viele Nobelpreisträger Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Kulturraum kamen. Albert Einstein hatte eine Nachruf auf Ernst Mach veröffentlicht /1, 2/.
Freie Wissenschaft und Diktaturen vertragen sich nicht. Deshalb sind viele bekannte Wissenschaftler in der Zeit von 1933 - 1945 ins Ausland gegangen - und nicht zurückgekommen. Das war insofern von Bedeutung, weil keiner mehr die besondere Pädagogik von Ernst Mach in Deutschland benutzt hat und erklären konnte.
Es ist der besondere Verdienst von Prof. Siemsen und seinem Sohn Hayo, dass sie dieses Wissen wieder entdeckt und geordnet haben. Vieles der Mach'schen Ausbildung widerspricht der üblichen Herangehensweise an Hochschulen (z. B. das Aussieben, komplizierte Sprache, Hyperspezialisierung). Man kann sich vorstellen, dass man sich damit im Wissenschaftsbetrieb nicht gerade beliebt macht.
Prof. Siemsen war die Freiheit der Lehre und die Vielfalt von Ansichten sehr wichtig. Er hat sich stets für seine Studierenden eingesetzt. Auch die scheinbar hoffnungslosen Fälle hat er mit viel Geduld betreut, bis die Blockaden im Kopf geknackt wurden.
Hayo Siemsen (1970-2018)
Bereits am 6. April starb auch sein Sohn Hayo Siemsen. Hayo hat nach seinem Studium und einer Phase in der Wirtschaft die Forschung seines Vaters weitergeführt.
Bei der Auswertung einer PISA-Studie haben Hayo und sein Vater festgestellt, dass die Notenverteilung in Finnland von der üblichen Normalverteilung abwich. Da sie ähnliche Notenverteilungen aus ihren eigenen Vorlesungen kannten, haben die beiden sich auf den Weg nach Finnland gemacht. Ihre Annahme war, dass es eine Person gab, die den naturwissenschaftlichen Unterricht besonders geprägt hat. Schnell haben sie diese Person gefunden, Kaarle Kurki-Suonio. In der Zeit vor der ersten PISA-Studie hat er damit begonnen, ca. 700 Physiklehrer (ein Drittel alle finnischen Physiklehrer) auszubilden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat er die Ideen von Mach verwendet. Hayo und sein Vater haben ihn ermuntert, in alten Aufzeichnungen und Briefen danach zu suchen, die er auch zu seiner Überraschung fand.
Diese Erfahrung hat beide ermuntert, nach weiteren Leuten zu suchen, die aus pädagogischer Sicht besonders aufgefallen sind. Im November 2012 hat Hayo mit anderen zusammen den Kongress "Neue Formen der Lehre und des Lernens" an der HTW in Saarbrücken organisiert, um Leute wie Kaarle Kurki-Suonio zusammenzubringen und um ihre Erkenntnisse auszutauschen /3/.
Im Juni 2016 wurde an der Uni Wien zum hundertsten Todestag von Ernst Mach eine Konferenz mit Hayos Mithilfe organisiert. Dort haben Hayo und auch sein Vater in Vorträgen ihren Forschungsstand vorgestellt. Prof. Siemsen schrieb mir später, dass diese Konferenz die Krönung seines Lebenswerks war.
Abb. 1: Hayo Siemsen (ganz links) und sein Vater Karl Hayo Siemsen (ganz rechts) in Wien im Juni 2016 |
Aber auch für die Wissenschaftsgeschichte ist dieser Verlust schmerzhaft. Beide haben unermüdlich geforscht, um besser zu verstehen, wie Ernst Mach und von ihm geprägte Menschen andere ausgebildet haben. Hayo hat in den letzten Jahren viele Informationen für seine Habilitierungsschrift zusammengetragen. Er starb zwei Wochen vor der Verteidigung für seine Habilitation.
Anmerkungen
- /1/ Von Irene Meichsner: Ernst Mach - der Schallgeschwindigkeit auf der Spur, Deutschlandfunk Kalenderblatt/Vor 100 Jahren gestorben, ausgestrahlt am 19.02.2016, abrufbar unter https://www.deutschlandfunk.de/vor-100-jahren-gestorben-ernst-mach-der.871.de.html?dram:article_id=346013
- /2/ Einsteins Nachruf auf Ernst Mach, erschienen in der Physikalischen Zeitschrift, 17. Jahrgang, 1916, Heft 7, Kopie beim MPI, siehe http://projectweb.mpiwg-berlin.mpg.de/einsteinausstellung/VEA/SC-1816523987_MOD355385129_SEQ-1995633991_SL1224646756_de.html
- /3/ Internationaler Kongress "Neue Formen der Lehre und des Lernens", https://www.htwsaar.de/htw/hochschule/organisation/hochschulleitung/Hochschulkommunikation/pressemitteilungen/Archiv/archiv-2012/kongress
Schön geschrieben Jan. Auch mich hat Siemsen am meisten geprägt und seine Vorlesungen war fast das einzige was wirklich nachher im Beruf sinnvoll zu gebrauchen war.
AntwortenLöschenIch habe erst durch meinen Vater mit großer Betroffenheit vom Tod Herrn Siemsens erfahren, leider zu spät, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Von 1986 bis zur Diplomarbeit, die er ebenfalls betreut hatte, habe ich viele Vorlesungen bei ihm gehört und im legendären Labor für parallele Prozesse manche (gemeinsame) Abende verbracht. Ich werde Karl-Hayo Siemsen als einen der wenigen Lehrer in meinem Leben, der den Mut hatte kompromisslos querzudenken und Althergebrachtes, auch gegen den Widerstand seiner Kollegen, nicht nur in Frage zu stellen, sondern auch entsprechend zu handeln, in respekt- und liebevoller Erinnerung behalten. Nicht zuletzt habe ich es ihm und seinem Wirken auf mich zu verdanken, dass ich mich entschlossen hatte, an der Universität weiterzustudieren und auch zu promovieren. Danke für die gemeinsame Zeit und das Nahebringen wertvoller Ausbildungs- und Denkmethoden, danke für das Lösen _meiner_ Denkblockaden.
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