Am Freitag, dem Dreizehnten April, fand in Hannover das dritte Freiräume-Camp statt. Neben einigen anderen anregenden Referaten gab es auch eine Keynote von Gerhard Wohland, aus der ich für mich Anregungen zum Nachdenken mitgenommen habe. Eine wichtige war die Verlagerung von Entscheidungen aus dem Unternehmenszentrum an die Peripherie.
Auf den neuen, globalisierten (und deshalb engen, überfüllten) Märkten funktioniert das nicht mehr. Die Entscheidungswege sind viel zu lang. Ein Konzern, der heute noch eine 10-Jahres-Strategie aufstellen und dann auch starr umsetzen wollte, braucht heute schon nach fünf Jahren gar keine Strategie mehr. Stattdessen, so Gerhard Wohland, müssen die Entscheidungen an die Peripherie verlagert werden, die viel flexibler und schneller reagieren kann - im Monatsrhythmus, wenn es not tut.
Das bedeutet für Führungskräfte in Unternehmen eine völlig Umkrempelung herkömmlicher Vorstellungen von der Rollenverteilung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Bevor ich jetzt aber mit theoretischen Erklärungen weitermache, möchte ich lieber ein historisches Beispiel erzählen. Es entstammt nicht dem Vortrag von Wohalnd; seine eigentliche Bedeutung ist mir anhand seines Vortrags klarer geworden.
Das historische Beispiel handelt es von der Präsidentschaft John F. Kennedys und ihren beiden Hauptereignissen: der Schweinebucht-Invasion und der Kuba-Krise. /2/ Und die Bedeutung dieser Geschichte für die heutige Unternehmenswelt springt sofort ins Auge.
1961 plante die gerade ins Amt gekommene Kennedy-Administration den Sturz Fidel Castros. Dazu wurden ca. 1.300 Exilkubaner militärisch ausgebildet, in einem geheimen Lager in Guatemala (die USA sollten im Hintergrund bleiben). Der Beraterkreis um den Präsidenten, mit vielen missionarischen Ideen und unter Abgrenzung vom Rest der Washingtoner Elite, pflegte eine missonarische Kultur: sie fühlte sich wie eine marschierende Kompanie in Feindesland, die Reihen eng geschlossen, mit Loyalität zum Präsidenten als oberstes Gebot.
Die geplante Invasion (die vom Vorgänge Eisenhower übernommen wurde und deren moralische Qualität mich hier ausnahmsweise nicht interessiert) stand unter keinem guten Stern. Ein paar Wochen vor dem Startschuss veröffentlichte die New York Times den Bericht eines Reporters, der zufällig in Guatemala auf das Camp gestoßen war und nun öffentlich spekulierte, ob wohl ein Angriff auf Kuba bevorstehe. Der Präsident und seine Berater diskutierten, ob man die Aktion abbrechen müsse: Lasen die kubanischen Revolutionäre die NYT? Wenn ja, würden die erraten, was die US-Absichten waren? Wie groß war das Risiko?
Ein oder zwei wortstarke Berater vertraten die Meinung: das Risiko sei minimal. „Wir machen weiter.“ Und wenn tatsächlich die Kubaner die Invasoren angreifen sollten, könnten die sich immer noch in das Escambray-Gebirge zurückziehen, das rd. 130 km vom Landungsplatz lag.
Die Invasion wurde durchgeführt. Die 1.300 Exilkubaner wurden nach der Landung in der Schweinebucht sofort von 20.000 Regierungssoldaten umzingelt. Zwei Tage später waren alle Angreifer tot oder gefangen. In die Cordilleren kam kein einziger.
Etwa anderthalb Jahre später, im Oktober 1962, begann die Kubakrise. Die Regierung der Sowjetunion unter Chrustschow begann im Verborgenen, Atomraketen auf Kuba vor der amerikanischen Küste zu stationieren. Dadurch würde das amerikanische Festland in die Reichweite der russischen Raketen geraten. Die Kennedy-Adminsitration war sich einig, diese Bedrohung auf keinen Fall zu tolerieren. Die Frage war: Was tun?
Die Frage war aber auch: Wie entscheiden? Das Desaster der Schweinebucht durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Es musste um jeden Preis vermieden werden, dass Risiken unentdeckt blieben. Denn diesmal war der Einsatz, der auf dem Spiel stand, ungleich höher als „nur“ der Sturz einer unliebsamen Regierung: es ging um die Vermeidung eines Dritten Weltkriegs.
Das Beraterteam um Kennedy beschloss ein völlig neues Vorgehen. Kritik im Team an der Meinung eines anderen Temmitglieds – und sei es auch der Präsident selbst – sollte nicht mehr als Verletzung der Gruppeneinheit gelten, sondern im Gegenteil als absolute Pflicht. Niemand, der auch nur den leisesten Zweifel an einer vorgeschlagenen Vorgehensweise hegte oder der ein Risiko sah, das die anderen nicht sahen, musste sich laut bemerkbar machen. Das Bild der marschierenden Kompanie, die eng die Reihen geschlossen hielt, wurde abgelöst von einer ganz anderen Gestalt: dem aufgefächert ausschwärmenden Spähertrupp, der alle Gefahren im Raum in den Blick nahm. Und wer den Löwen verborgen sah im hohen Gras, musste die anderen laut warnen.
Und noch etwas anderes wurde im neuen Verhaltenscode geändert: die Sprache. Prognosen über zu erwartende Entwicklungen („Die russischen Schiffe werden die Blockade nicht zu durchbrechen suchen“) mussten mit einer Wahrscheinlichkeit versehen werden. „Ich schätze diese Chance auf 70%“ (oder auf 60% oder auf 90). Ein solcher Satz beinhaltet nämlich implizit den zweiten Satz „… und ich befürchte zu 30%, mich zu irren“ (oder zu 40 oder zu 10%). Die Aufnahme des Zweifels in die eigene Meinung zwingt mich in einen inneren Dialog mit meinem verdoppelten Selbst – ich mobilisiere die Intelligenz des Schwarms, aus dem ich selbst ja auch immer bestehe. Und ich signalisiere den Anderen meine Einsicht von der eigenen Fehlbarkeit.
Der Präsident als agiler Leader avant le mot lockte so die Schwarmintelligenz seines Teams hervor. Er beförderte die Kultur der vielfachen Sichten, gekoppelt mit einer positiven Bewertung des Zweifels als Grundhaltung. So gelang es der amerikanischen Administration, eine der gefährlichsten Krisen des vergangenen Jahrehunderts zu meistern.
/2/ Die Geschichte habe ich gelesen in Philip E. Tetlock, Dan Gardner: Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose, S. Fischer Verlag, 2016, S. 206-210
Entscheidungen können nicht mehr im Zentrum getroffen werden
Früher, in den Zeiten von Massenmärkten und (weitgehend) nationalen Märkten, gab es eine Arbeitsteilung zwischen dem Zentrum eines Unternehmens (Geschäftsleitung, Vorstand) und der Peripherie (Vertrieb, Produktion, Montage): Das Zentrum traf die Entscheidungen, die Peripherie führte aus. Voraussetzung dafür war ein Berichtswesen von außen nach innen, in dem bestimmte Daten, die außen - beim Kunden, auf dem Markt - aufgenommen wurden, von der Peripherie ins Zentrum weitergeleitet wurden. Auf dieser Grundlage traf dann das Zentrum Entscheidungen über Strategie, Jahresziele und Budgets. Das Mitdenken oder gar die Beteiligung der Mitarbeiter an der Auswertung dieser Daten, an der Ausarbeitung von Handlungsoptionen, am Treffen von Entscheidungen, war nicht gewünscht. Es wurde aktiv unterbunden.Auf den neuen, globalisierten (und deshalb engen, überfüllten) Märkten funktioniert das nicht mehr. Die Entscheidungswege sind viel zu lang. Ein Konzern, der heute noch eine 10-Jahres-Strategie aufstellen und dann auch starr umsetzen wollte, braucht heute schon nach fünf Jahren gar keine Strategie mehr. Stattdessen, so Gerhard Wohland, müssen die Entscheidungen an die Peripherie verlagert werden, die viel flexibler und schneller reagieren kann - im Monatsrhythmus, wenn es not tut.
Das bedeutet für Führungskräfte in Unternehmen eine völlig Umkrempelung herkömmlicher Vorstellungen von der Rollenverteilung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Bevor ich jetzt aber mit theoretischen Erklärungen weitermache, möchte ich lieber ein historisches Beispiel erzählen. Es entstammt nicht dem Vortrag von Wohalnd; seine eigentliche Bedeutung ist mir anhand seines Vortrags klarer geworden.
Das historische Beispiel handelt es von der Präsidentschaft John F. Kennedys und ihren beiden Hauptereignissen: der Schweinebucht-Invasion und der Kuba-Krise. /2/ Und die Bedeutung dieser Geschichte für die heutige Unternehmenswelt springt sofort ins Auge.
Kennedys Team in der Schweinebucht-Invasion
Beide Ereignisse unterschieden sich fundamental: die Schweinebucht-Invasion endete als Katastrophe, die Kuba-Krise gilt einhellig als historischer Erfolg. Beides – Katstrophe und Erfolg – wurden vom gleichen Beraterkreis verantwortet (es gab unter Kennedy kaum Fluktuation). Was sich änderte, waren Vorgehensweise und „Spirit“.1961 plante die gerade ins Amt gekommene Kennedy-Administration den Sturz Fidel Castros. Dazu wurden ca. 1.300 Exilkubaner militärisch ausgebildet, in einem geheimen Lager in Guatemala (die USA sollten im Hintergrund bleiben). Der Beraterkreis um den Präsidenten, mit vielen missionarischen Ideen und unter Abgrenzung vom Rest der Washingtoner Elite, pflegte eine missonarische Kultur: sie fühlte sich wie eine marschierende Kompanie in Feindesland, die Reihen eng geschlossen, mit Loyalität zum Präsidenten als oberstes Gebot.
Die geplante Invasion (die vom Vorgänge Eisenhower übernommen wurde und deren moralische Qualität mich hier ausnahmsweise nicht interessiert) stand unter keinem guten Stern. Ein paar Wochen vor dem Startschuss veröffentlichte die New York Times den Bericht eines Reporters, der zufällig in Guatemala auf das Camp gestoßen war und nun öffentlich spekulierte, ob wohl ein Angriff auf Kuba bevorstehe. Der Präsident und seine Berater diskutierten, ob man die Aktion abbrechen müsse: Lasen die kubanischen Revolutionäre die NYT? Wenn ja, würden die erraten, was die US-Absichten waren? Wie groß war das Risiko?
Ein oder zwei wortstarke Berater vertraten die Meinung: das Risiko sei minimal. „Wir machen weiter.“ Und wenn tatsächlich die Kubaner die Invasoren angreifen sollten, könnten die sich immer noch in das Escambray-Gebirge zurückziehen, das rd. 130 km vom Landungsplatz lag.
Die Invasion wurde durchgeführt. Die 1.300 Exilkubaner wurden nach der Landung in der Schweinebucht sofort von 20.000 Regierungssoldaten umzingelt. Zwei Tage später waren alle Angreifer tot oder gefangen. In die Cordilleren kam kein einziger.
Die Kuba-Krise: Das gleiche Team, 18 Monate später
Etwa anderthalb Jahre später, im Oktober 1962, begann die Kubakrise. Die Regierung der Sowjetunion unter Chrustschow begann im Verborgenen, Atomraketen auf Kuba vor der amerikanischen Küste zu stationieren. Dadurch würde das amerikanische Festland in die Reichweite der russischen Raketen geraten. Die Kennedy-Adminsitration war sich einig, diese Bedrohung auf keinen Fall zu tolerieren. Die Frage war: Was tun?
Die Frage war aber auch: Wie entscheiden? Das Desaster der Schweinebucht durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Es musste um jeden Preis vermieden werden, dass Risiken unentdeckt blieben. Denn diesmal war der Einsatz, der auf dem Spiel stand, ungleich höher als „nur“ der Sturz einer unliebsamen Regierung: es ging um die Vermeidung eines Dritten Weltkriegs.
Das Beraterteam um Kennedy beschloss ein völlig neues Vorgehen. Kritik im Team an der Meinung eines anderen Temmitglieds – und sei es auch der Präsident selbst – sollte nicht mehr als Verletzung der Gruppeneinheit gelten, sondern im Gegenteil als absolute Pflicht. Niemand, der auch nur den leisesten Zweifel an einer vorgeschlagenen Vorgehensweise hegte oder der ein Risiko sah, das die anderen nicht sahen, musste sich laut bemerkbar machen. Das Bild der marschierenden Kompanie, die eng die Reihen geschlossen hielt, wurde abgelöst von einer ganz anderen Gestalt: dem aufgefächert ausschwärmenden Spähertrupp, der alle Gefahren im Raum in den Blick nahm. Und wer den Löwen verborgen sah im hohen Gras, musste die anderen laut warnen.
Und noch etwas anderes wurde im neuen Verhaltenscode geändert: die Sprache. Prognosen über zu erwartende Entwicklungen („Die russischen Schiffe werden die Blockade nicht zu durchbrechen suchen“) mussten mit einer Wahrscheinlichkeit versehen werden. „Ich schätze diese Chance auf 70%“ (oder auf 60% oder auf 90). Ein solcher Satz beinhaltet nämlich implizit den zweiten Satz „… und ich befürchte zu 30%, mich zu irren“ (oder zu 40 oder zu 10%). Die Aufnahme des Zweifels in die eigene Meinung zwingt mich in einen inneren Dialog mit meinem verdoppelten Selbst – ich mobilisiere die Intelligenz des Schwarms, aus dem ich selbst ja auch immer bestehe. Und ich signalisiere den Anderen meine Einsicht von der eigenen Fehlbarkeit.
Der Präsident als agiler Leader avant le mot lockte so die Schwarmintelligenz seines Teams hervor. Er beförderte die Kultur der vielfachen Sichten, gekoppelt mit einer positiven Bewertung des Zweifels als Grundhaltung. So gelang es der amerikanischen Administration, eine der gefährlichsten Krisen des vergangenen Jahrehunderts zu meistern.
Anmerkungen
/1/ Lesenwert ist das Buch: Gerhard Wohland, Matthias Wiemeyer: Denkwerkzeuge der Höchstleister, Murmann Verlag, 2007/2/ Die Geschichte habe ich gelesen in Philip E. Tetlock, Dan Gardner: Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose, S. Fischer Verlag, 2016, S. 206-210
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