Unter dem Titel „„Selbststeuerung als Lösungsansatz“ haben Prof. Dr. Michèle Morner von der Verwaltungsuni Speyer und Manuel Misgeld vom Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung einen Artikel über agile Methoden in öffentlichen Organisationen veröffentlicht. /1/ Schon diese Tatsache ist interessant, weil Agilität im deutschen Behörden noch überhaupt nicht verbreitet ist. Aber die Thesen des Artikels sind durchaus nicht einfach "agiler Mainstream", sondern vermitteln neue Ansätze.
Vertrackte Probleme sind lösungsresistent (zumindest sind keine einfachen Lösungen möglich). Denn es gibt nicht einen einzelnen Entscheider oder eine einzelne Gruppe von Führungskräften, die über das gesamte Wissen über die Problemstellung verfügt. Sondern eine ganze Bandbreite von Fachleuten und Betroffenen mit verschiedenem, teilweise widersprüchlichem Wissen muss in die Lösungssuche einbezogen werden.
In derartigen Fällen, so die Autoren, „empfiehlt sich der Ansatz der Selbststeuerung“. Selbststeuerung besteht darin, dass die Betroffenen Entscheidungskompetenzen übertragen bekommen, selbst Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Aufgabe des Öffentlichen Dienstes ist es dann, die Bedingungen dafür zu schaffen, „dass diese sich über ihre Verständnisse, Ziele, Perspektiven und Umsetzungsmöglichkeiten austauschen“ können.
Selbststeuernde Teams können dann kreativ arbeiten, wenn sie möglichst unterschiedliche Akteure umfassen, deren Perspektiven sich vielfältig ergänzen und überkreuzen. Das kann aber auch – vor allem, wenn die Vorgehensweise ungewohnt ist – zu Konflikten führen; also zu Missverständnissen aufgrund unterschiedlicher kultureller Hintergründe, zum Widerstreit verschiedener Interessen, zu persönlicher Ablehnung wegen fehlender geteilter Werte.
Was für mich ein ganz neuer, erfrischender Gedanke war, war der Hinweis, dass „vertrackte Probleme aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit auch eine wahrnehmungsseitige Komponente haben – darüber, ob überhaupt ein Problem vorliegt und wie dieses zu fassen ist.“
Die Versuchung bestehe darin, aus Scheu vor der Komplexität Probleme einfach umzudeuten. Zum Beispiel „die Feinstaubbelastung als eine rein technische, kaum gesundheitsgefährdende Herausforderung zu strenger Grenzwerte.“ Also eine Eskamotage, mit der das Problem fortdefiniert wird, um Handlungsnotwendigkeit abzuwehren.
Umgekehrt bedeutet das nach meinem Verständnis: Erst wenn ich etwas ändern will, erst wenn ich ein Problem beseitigen will – dann wird es komplex. Ein Tsunami zum Beispiel ist einfach eine große Welle, vor der ich mich retten kann oder in der ich ertrinke – aber erst mal „einfach“. Wenn ich aber sage: „Ich möchte etwas gegen die Tsunamigefahr tun“ – dann enthüllt sich der Tsunami plötzlich in seiner ganzen komplexen Wolkenkratzerhöhe. Auf einmal stellt sich ein ganzes Bündel von Teilfragen – von der Erdbebenvorhersage über Frühwarnsysteme hin zu öknomischen Ungleichgewichten zwischen den Weltgegenden.
Wir sind gerade im Reformationsjubiläum, schauen wir mal 500 Jahre zurück. War die Welt im Jahre 1517 weniger "volatil, unsicher, komplex und ambivalent" (VUKA, siehe /2/), als sie es heute ist? Amerika war gerade entdeckt und seine Plünderung in vollem Gange, Gold strömte nach Europa und ließ die Preise steigen, Hungersnöte und Revolten waren die Folge usw. usf. - nicht auch ziemlich VUKA?
Ist unsere Meinung, die wir so oft hinausgeschrieben haben, dass die Komplexität unserer Herausforderungen ständig zunehme und deshalb mehr Agilität in den Organisationen unumgänglich sei - ist diese Meinung aufrecht zu erhalten?
Vielleicht ist es ja auch anders. Vielleicht ist es ja auch so, dass nur wir mehr Bereitschaft zeigen, komplex zu handeln. Also nicht mehr einfache Lösungen zu suchen, die nie nachhaltig sein können, sondern uns auf den Weg nach tiefer gegründeten Lösungen machen wollen.
Ein Beispiel aus der Öffentlichen Verwaltung. Das Thema Flüchtlingsmigration spaltet die deutsche Gesellschaft. Zwei einfache Lösungen behaupten sich im öffentlichen Diskurs: Abschottung ("Obergrenze") und undifferenzierte Aufnahme ("Willkommenskultur"). Beide diffamieren sich gegenseitig als "fremdenfeindlich" oder "blauäugiges Gutmenschentum" und stabilisieren sich so wechselweise. Von keiner der beiden Positionen ist mir ein detailliertes, nach Migrantengruppen differenziertes Konzept bekannt, wie wertemäßige, bildungsmäßige, ökonomische, kulturelle und soziale Aufnahme einer großen Anzahl von Migranten zu organisieren ist. Erst wenn wir uns dieser Herausforderung stellen (und dem Öffentlichen Dienst kommt hier eine wichtige Position zu - aus seiner Expertenposition heraus wie auch aus seiner Aufgabe, einen stabilen sozialen Rahmen zu gestalten), realisieren wir konkret, was VUKA heißt.
Das Interesse an mehr Agilität in unserem Handeln (in Verwaltungen wie Unternehmen wie Non-Profit-Organisationen) wäre dann ein Widerschein der Bereitschaft zu mehr nachhaltiger Verantwortung und nicht einfach ein Reflex "objektiver" Entwicklungstendenzen. Also ein ganz hoffnungsvolles Signal.
(Dieser Artikel erschien zuerst auf www.agile-verwaltung.org)
/2/ Vertrackte Probleme werden in der agilen Literatur oft mit sogenannten „VUKA“-Umgebungen (englisch VUCA) verknüpft: Das sind "Welten", die durch Volatilität (d.h. starke Schwankungen, englisch: volatility), Unsicherheit (uncertainity), Komplexität (complexity) und Ambivalenz (englisch ambiguity) gekennzeichnet sind. In dieser Welt – so die Definition - gibt es keine festen Regeln, keine Gewissheiten und klar zu erkennenden Zusammenhänge mehr.
Herausforderung: „Vertrackte Probleme“
Der Public Service, so Morner und Misgeld, wird zunehmend mit „vertrackten Problemen“ /2/ konfrontiert. Beispiele sind die hohe Zahl aufzunehmender Flüchtlinge, die Bedrohungen der inneren Sicherheit durch islamistischen oder rechtsradikalen Terror oder die Luftbelastung in den Großstädten.
Vertrackte Probleme sind lösungsresistent (zumindest sind keine einfachen Lösungen möglich). Denn es gibt nicht einen einzelnen Entscheider oder eine einzelne Gruppe von Führungskräften, die über das gesamte Wissen über die Problemstellung verfügt. Sondern eine ganze Bandbreite von Fachleuten und Betroffenen mit verschiedenem, teilweise widersprüchlichem Wissen muss in die Lösungssuche einbezogen werden.
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Abbildung: die Herausforderung „VUCA“ und die Antwort, auch „VUCA“ |
Selbststeuernde Teams können dann kreativ arbeiten, wenn sie möglichst unterschiedliche Akteure umfassen, deren Perspektiven sich vielfältig ergänzen und überkreuzen. Das kann aber auch – vor allem, wenn die Vorgehensweise ungewohnt ist – zu Konflikten führen; also zu Missverständnissen aufgrund unterschiedlicher kultureller Hintergründe, zum Widerstreit verschiedener Interessen, zu persönlicher Ablehnung wegen fehlender geteilter Werte.
Komplex ist, wenn wir handeln wollen
Soweit weicht der Artikel noch nicht von anderen Publikationen aus der agilen Diskussion ab (wobei: das Wörtchen „agil“ fällt nur an einer einzigen, unscheinbaren Stelle des Textes. Das ist sehr angenehm und nur ein Beispiel für den unmissionarischen Ton der Autoren.)Was für mich ein ganz neuer, erfrischender Gedanke war, war der Hinweis, dass „vertrackte Probleme aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit auch eine wahrnehmungsseitige Komponente haben – darüber, ob überhaupt ein Problem vorliegt und wie dieses zu fassen ist.“
Die Versuchung bestehe darin, aus Scheu vor der Komplexität Probleme einfach umzudeuten. Zum Beispiel „die Feinstaubbelastung als eine rein technische, kaum gesundheitsgefährdende Herausforderung zu strenger Grenzwerte.“ Also eine Eskamotage, mit der das Problem fortdefiniert wird, um Handlungsnotwendigkeit abzuwehren.
Umgekehrt bedeutet das nach meinem Verständnis: Erst wenn ich etwas ändern will, erst wenn ich ein Problem beseitigen will – dann wird es komplex. Ein Tsunami zum Beispiel ist einfach eine große Welle, vor der ich mich retten kann oder in der ich ertrinke – aber erst mal „einfach“. Wenn ich aber sage: „Ich möchte etwas gegen die Tsunamigefahr tun“ – dann enthüllt sich der Tsunami plötzlich in seiner ganzen komplexen Wolkenkratzerhöhe. Auf einmal stellt sich ein ganzes Bündel von Teilfragen – von der Erdbebenvorhersage über Frühwarnsysteme hin zu öknomischen Ungleichgewichten zwischen den Weltgegenden.
Nimmt die Komplexität der Welt zu? Oder ändert sich "nur" unsere Wahrnehmung?
Diese Frage stellt sich, wenn man den Gedanken von Morner und Misgeld weiterspinnt.Wir sind gerade im Reformationsjubiläum, schauen wir mal 500 Jahre zurück. War die Welt im Jahre 1517 weniger "volatil, unsicher, komplex und ambivalent" (VUKA, siehe /2/), als sie es heute ist? Amerika war gerade entdeckt und seine Plünderung in vollem Gange, Gold strömte nach Europa und ließ die Preise steigen, Hungersnöte und Revolten waren die Folge usw. usf. - nicht auch ziemlich VUKA?
Ist unsere Meinung, die wir so oft hinausgeschrieben haben, dass die Komplexität unserer Herausforderungen ständig zunehme und deshalb mehr Agilität in den Organisationen unumgänglich sei - ist diese Meinung aufrecht zu erhalten?
Vielleicht ist es ja auch anders. Vielleicht ist es ja auch so, dass nur wir mehr Bereitschaft zeigen, komplex zu handeln. Also nicht mehr einfache Lösungen zu suchen, die nie nachhaltig sein können, sondern uns auf den Weg nach tiefer gegründeten Lösungen machen wollen.
Ein Beispiel aus der Öffentlichen Verwaltung. Das Thema Flüchtlingsmigration spaltet die deutsche Gesellschaft. Zwei einfache Lösungen behaupten sich im öffentlichen Diskurs: Abschottung ("Obergrenze") und undifferenzierte Aufnahme ("Willkommenskultur"). Beide diffamieren sich gegenseitig als "fremdenfeindlich" oder "blauäugiges Gutmenschentum" und stabilisieren sich so wechselweise. Von keiner der beiden Positionen ist mir ein detailliertes, nach Migrantengruppen differenziertes Konzept bekannt, wie wertemäßige, bildungsmäßige, ökonomische, kulturelle und soziale Aufnahme einer großen Anzahl von Migranten zu organisieren ist. Erst wenn wir uns dieser Herausforderung stellen (und dem Öffentlichen Dienst kommt hier eine wichtige Position zu - aus seiner Expertenposition heraus wie auch aus seiner Aufgabe, einen stabilen sozialen Rahmen zu gestalten), realisieren wir konkret, was VUKA heißt.
Das Interesse an mehr Agilität in unserem Handeln (in Verwaltungen wie Unternehmen wie Non-Profit-Organisationen) wäre dann ein Widerschein der Bereitschaft zu mehr nachhaltiger Verantwortung und nicht einfach ein Reflex "objektiver" Entwicklungstendenzen. Also ein ganz hoffnungsvolles Signal.
(Dieser Artikel erschien zuerst auf www.agile-verwaltung.org)
Anmerkungen
/1/ Prof. Dr. Michèle Morner, Manuel Misgeld: „Selbststeuerung als Lösungsansatz“, Innovative Verwaltung 7-8/2017, S. 10-12. Den folgenden Link hat die Zeitschrift "Innovative Verwaltung" dankenswerter Weise für die Leser dieses Posts freigeschaltet. Er gilt 14 Tage ab 2. November 2017./2/ Vertrackte Probleme werden in der agilen Literatur oft mit sogenannten „VUKA“-Umgebungen (englisch VUCA) verknüpft: Das sind "Welten", die durch Volatilität (d.h. starke Schwankungen, englisch: volatility), Unsicherheit (uncertainity), Komplexität (complexity) und Ambivalenz (englisch ambiguity) gekennzeichnet sind. In dieser Welt – so die Definition - gibt es keine festen Regeln, keine Gewissheiten und klar zu erkennenden Zusammenhänge mehr.
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