Scrum verbreitet sich - und eigentlich doch wieder nicht. Von Kollegen, die Scrum-Trainings in Unternehmen durchführen, höre ich oft: „Schon im Seminar ist die Skepsis der Teilnehmer groß. Und wenn ich nach ein paar Wochen mal nachfrage: ‚Was habt ihr denn umgesetzt?‘, höre ich nicht ganz selten: ‚Null Komma Null‘."
Nicht sehr befriedigend, weder für die Teilnehmer noch für das beauftragende Unternehmen noch für die Trainer.Woran liegt’s?
Edgar Rodehack hat vor einigen Wochen hier einen sehr guten Artikel gepostet, in dem er auf den Zusammenhang von Kooperation und gemeinsamen Werten eingeht: Er schildert den Versuch zweier Unternehmen, eine Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen zu beginnen. Eigentlich eine klassische Win-Win-Situation. Aber dann scheitern die Verhandlungen an (scheinbaren) Kleinigkeiten, und Edgar nennt als wahren Grund: Die Werte der beiden Organisationen passten nicht zusammen.
„In Verhandlungen stehen zwar Bedingungen im Vordergrund, in Wirklichkeit aber wird ein gemeinsames Wertesystem ausgelotet, das das Fundament für die Zusammenarbeit ergibt und durch konkrete Regelungen sichtbar wird. Dieses System ist der eigentliche Motor jeder Geschäftsbeziehung. Denn es regelt, worauf der Fokus in der Zusammenarbeit liegt, also was alle Beteiligten als wichtig erachten.“ /1/
Ein Projekt, in einem Unternehmen Scrum einzuführen, zielt ja auch auf eine neue Form der Kooperation, diesmal zwischen Führungskräften und Mitarbeitern. Und es gibt (unterschwellig oder explizit) „Kooperationsverhandlungen“: Will das jede Gruppe wirklich? Wird jeder die neuen Spielregeln einhalten?
Und auch diese Verhandlungen scheitern, wenn die Werte nicht stimmen.
Scrum ist nicht einfach eine Arbeitstechnik
Scrum hat sehr viel mit Werten zu tun. Wenn ein Unternehmen seine Prozesse oder einen Teil auf Scrum umstellen will, muss es einen Übergang von der herkömmlichen „Vorgesetzter ordnet an – Mitarbeiter führen aus“-Methode hin zu selbstorganisierten Teams gehen. Das ist ein Wertewandel: weg vom Mikromanagement auf Seiten der Vorgesetzten und weg von einer „Dienst-nach-Vorgaben“-Mentalität auf Seiten der Mitarbeiter.Die „Scrum-Väter“ Jeff Sutherland und Ken Schwaber haben 5 wichtige Werte ausgewählt, die ihrer Meinung nach Voraussetzungen für Scrum sind (siehe Abbildung 1).
Was bei der Aufzählung auffällt, ist dass es sich durchweg um Verhaltensweisen handelt (früher sprach man auch von „Sekundärtugenden“). Mut zum Beispiel kann man auch gut brauchen, wenn man für eine schlechte Sache kämpft (ein feiger Bankräuber wird arm im Gefängnis sterben). Es ist schwierig, Menschen für Sekundärtugenden zu begeistern. Begeistern kann man Menschen für Ziele, die sie als mitreißend empfinden – dann stellen sich die dazu nötigen Verhaltensänderungen viel leichter ein.
Was sind Grundwerte?
Um den Unterschied zwischen Verhaltensweisen und Grundwerten klar zu machen, lassen Sie uns einen Blick auf die aktuellen Ereignisse (Europa eine Woche nach dem 7. Januar 2015) werfen. Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo sind Millionen von Menschen auf die Straße gegangen mit dem Slogan „Je suis Charlie“, in Paris und überall anderswo. Die Redakteure von Charlie Hebdo haben Mut bewiesen, Riesenmut, zweifellos – hat dieser Umstand die Menschen auf die Straßen gerufen? Nein. Der Erfinder der Parole „Je suis Charlie“ hat erklärt, die Formulierung sei ihm gekommen, weil er das Gefühl hatte, die Attentäter hätten auf ihn selbst geschossen. Weil die Charlie-Redaktion für einen Grundwert stand: die Meinungsfreiheit – und dafür Mut bewies.
Die Menschen in den Straßen von Paris und überall im alten Europa stehen für Grundwerte, die seit der Französischen Revolution in drei Worten lauten: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Der Bezug auf diese Grundwerte gibt Kraft und Mut und Commitment. Und auch die Gewissheit, diese Werte nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit anderen zu vertreten. Grundwerte sind nie individuell definiert, sondern immer Gruppenwerte („Tribal Values“, sagen Logan und Kollegen /3/).
Dagegen sind die von Sutherland und Schwaber genannten Werte individuelle Tugenden: Mut, Respekt usw. sind Verhaltensweisen von Einzelnen. Wenn man sie als wesentlichstes Merkmal darstellt, dann geht man weg von der Teamebene, die doch den Kern von Scrum ausmacht, und fällt zurück auf die individuelle Ebene.
Grundwerte von Scrum
Das einzelne Mitglied im Scrumteam muss Dinge tun, die im klassischen Paradigma Führungskräfte auszeichnen. Er muss sich selbst motivieren, wenn er die nächste Task aus dem Backlog zieht. Er muss andere motivieren. Er muss Blockaden überwinden, immer auf das gut verstandene Endziel hin, und dabei strategisches Denken beweisen. Er muss planen und es ertragen, dass seine schönen Pläne über den Haufen geworfen werden. Und dann trotzdem weitermachen. Und das gilt für Scrum Master und Product Owner ebenso.
Die grundlegenden Bilder von den Unterschieden zwischen „Führungskraft“ und „Mitarbeitern“, die unsere gesamte Arbeitskultur seit Jahrhunderten prägen, werden abgelöst durch neue Bilder. Scrum beruht auf einer Vorstellung fundamentaler Gleichheit aller Angehörigen einer Organisation.
Der Grundwert von Scrum ist ganz einfach:
Jeder und jede ist eine Führungskraft.
Es gibt keine „besonderen“ Tugenden von Führungskräften im Unterschied zum Fußvolk. Jeder Mensch muss führen – sich selbst und andere, immer im Wechsel, immer im Rollentausch, in einem komplexen Tanz, der unser Arbeitsleben ist.
Voraussetzungen für Scrum
Scrum sendet als Botschaft aus: Es geht auch anders, und es geht allen dann besser. Und es wird auch produktiver – und zwar um Größenordnungen.
Wer aber versucht, Scrum nur als Mittel der Produktivitätssteigerung zu verkaufen ohne die Notwendigkeit tiefgreifenden Wertewandels, unterstützt die Kultur des „Wasch mir den Pelz und mach mich nicht nass“, die den gegenwärtigen Zustand gerade kennzeichnet.
Die Erfinder von Scrum haben den Scrum-Guide bewusst auf die wesentlichen Punkte des Scrum-Frameworks beschränkt. Zum einen macht es die Benutzung des Scrum-Guides praktisch. Der Scrum-Guide wird aber der Bedeutung der Werte nicht gerecht. Das ist etwas schade.
Anmerkungen
- /1/ Edgar Rodehack : Mehr Wert schaffen, Teamworkblog, erschienen am 27. Oktober 2014, abrufbar unter http://www.teamworkblog.de/2014/10/mehr-wert-schaffen.html
- /2/ Die Abbildung entstammt dem Scrum-Pocket-Guide von Gunther Verheyen /4/
- /3/ Dave Logan, John King, Halee Fischer-Wright: Tribal Leadership. Leveraging Natural Groups to Build a Thriving Organization, Harper Business, 2008.
- /4/ Verheyen, Gunther: Scrum – A Pocket Guide. Poc. Zaltbommel, Netherlands: Van Haren, 2013.
Lieber Wolf,
AntwortenLöschenvielen Dank für diesen interessanten Artikel, indem du die auch aus meiner Sicht wichtigsten Punkte beim Namen nennst.
Scrum ist auch (!) eine Projektmanagementmethode. In allererster Linie ist Scrum aber eine Methode, Zusammenarbeit so zu gestalten, dass sich alle Beteiligten voll einbringen. Und zwar mit ihrem ganzen Können, ihrem ganzen Wollen und ihrer ganzen Verantwortung.
DAS ist tatsächlich der große Paradigmenwechsel. Es bedeutet nämlich für Inhaber, Führungskräfte, Mitarbeiter und Auftraggeber, vertrauensvoll Kontrolle und Verantwortung dorthin abzugeben, wo es sinnvoll ist: z.B. an die Menschen, die die Anforderungen für ein Produkt am besten definieren können (i.d.R. Kunden und Spezialisten), und an die, die wissen, wie die Anforderungen am besten umzusetzen sind (i.d.R. Spezialisten, Programmierer, Ingenieure, meinetwegen auch ein bisschen die Betriebswirte).
Scrum bedeutet die absolut radikale Abkehr von den bisherigen unternehmerischen Führungs- und Organisationsformen. Und die sind eben aufgrund unserer Geschichte militärisch geprägt, auf Befehl, Ausführung, Kontrolle und Bestrafen basierend - das napoleonische Frankreich und Preußen lassen grüßen. In Unternehmen diese jahrhundertealte Denke und Praxis zu überwinden, ist eine sehr sehr große Aufgabe, weil sie eben auf Werten basiert. Das kann nur gelingen, wenn es eine möglichst breite Bereitschaft gibt, radikal umzudenken. Dazu ist nötig, auf allen Ebenen liebgewordene (auch ideologische) Rollen- und Verhaltensmuster abzulegen: Alle müssen raus aus einer Schuld- und Opferhaltung und müssen echte Verantwortung für Ihre Entscheidungen und ihr Tun übernehmen. Mit allem, was dazu gehört. Ausflüchte wie "Ich würde ja, wenn ich nur könnte..." sind dann nicht mehr drin!
Das bedeutet dann, sich in Projekten im besten Sinne ergebnisoffen zu verhalten und das auch auszuhalten. Dazu gehört dann, zu akzeptieren, dass Ergebnisse anders aussehen können, als man sich das vielleicht zu Beginn gedacht hat. Dazu gehört auch, darauf zu vertrauen und zu akzeptieren, dass das Ergebnis trotzdem gut wird und egal, wie das fertige Produkt aussieht, es das Beste ist, was die Gruppe erarbeiten kann.
Und dazu gehört vor allem, dem Zwang abzuschwören und Vertrauen in die Gruppenprozesse zu fassen. Es gehört dazu, den Sonntagsreden Taten folgen zu lassen, indem man die wertschätzenden Werte, die man darin predigt, zu leben beginnt.
Lieber Wolf, auch ich bin überzeugt: Wenn dieser Wertewandel in einer Organisation gelingt, dann gibt es eine riesengroße Produktivitätssteigerung.
Moin zusammen,
AntwortenLöschenich will nochmal darauf hinweisen, dass der Kontext wichtig ist. Es gibt Situationen, bei denen Mikromanagement und wenig Vertrauen erst einmal sinnvoll sind.
In den Situationen, in denen Scrum gut funktioniert, ist aber der Kontext so, dass ich hohe Unsicherheit habe. Das bedeutet, wir brauchen jede Idee und müssen ganz viele Dinge testen. Mir gefällt das Menschenbild hinter Scrum. Aber hier ist die Situation so, dass es anders gar nicht ginge.
Wir brauchen eine kontextabhängige Organisationsform.
LG, Jan
Lieber Jan,
AntwortenLöschenwäre aus motivationspsychologischer und eventuell auch Prozesskosten-Sicht vielleicht auch die Formulierung zulässig, dass es auch Situationen gibt, in welchen Mikromanagement und wenig Vertrauen am wenigsten Unheil anrichten?
:)
Beste Grüße,
Edgar