Auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt a. M. hat Anne M. Schüller mit ihrem Titel „Das Touchpoint-Unternehmen“ /1/ den Preis für das beste Managementbuch des Jahres gewonnen. In ihrem Buch fordert sie mehr „Möglichkeitsräume“ für die Mitarbeiter und eine Abschaffung von „Regelkorsetts“. /2/
Was könnte das z. B. konkret für die Software heißen, die unsere Unternehmen einsetzen? Welche Software unterstützt die Selbstorganisation von Teams? Und welche behindert sie eher?
Ich sagte: „Mir ist aufgefallen, dass immer weniger Leute gut mit den Möglichkeiten von Word und Excel umgehen können, um sich z. B. selbst Vorlagen zur Arbeitserleichterungen zu stricken. Bieten Sie den Mitarbeitern da Fortbildungen an?“
„Wo denken Sie hin“, sagte er, „auf keinen Fall. Wenn jemand ein Formular oder eine etwas komplexere Excel-Datei braucht, dann erledigen wir das für ihn. Er braucht uns nur die Anforderungen zu nennen, und dann kriegt er das gewünschte Template von uns geliefert.“
Ich wechselte das Thema. Ich wollte nicht fragen, wie viel Zeit draufgeht, bis der Mitarbeiter kriegt, was er braucht. Oder auch nicht kriegt, was er braucht, weil er sein Anliegen nur schlecht erklären konnte. Oder ganz auf das verzichtet, was er braucht, weil er schon drei Mal Erfahrungen gesammelt hat.
Der IT-Kollege handelte natürlich in bester Absicht: den Mitarbeitern das Leben erleichtern. Aber gleichzeitig entmachtet er sie ein gutes Teil.
Das Abteilungsteam (6 Mitglieder) hatte sich ein System ausgedacht, um den Überblick über seine vielfältigen Aufgaben zu behalten. Ein Kollege kam ins Schwärmen: „Wenn ich mich auf die wöchentliche Teamsitzung vorbereite, filtere ich einfach über mich selbst in der Spalte ‚Wer?‘ und über ‚aktiv‘ in der Spalte ‚Status‘, und gleich habe ich meine laufenden Aufgaben.“
Die Abteilungsleiterin ergänzte: „Wenn ich dem Chef berichten soll, was wir letzten Monat gemacht haben, filtere ich einfach über den Termin und ein ‚erledigt‘ in der Spalte Status, und schon kann ich mündlich vortragen. Ohne lange Vorbereitung und Sucherei.“
Was war nötig an Excel-Kenntnissen dafür? Wenig. Ich muss wissen, wie ich filtere. Ich muss Excel-Arbeitsmappen freigeben können, damit mehrere Leute gleichzeitig in der Tabelle arbeiten können. Und eventuell sollte ich noch eine Gültigkeitsprüfung in der Spalte „Wer?“ vornehmen, damit sich niemand beim Eintragen des Namens vertippt.
Wäre die Abteilung mit so einem Anliegen zur IT gegangen? Wäre sie überhaupt auf die Idee gekommen, es könnte so eine Excel-Mappe geben – ohne das Wissen, dass man Excel-Tabellen filtern kann?
So aber behält das Team die volle Kontrolle über sein Werkzeug.
Ich ging zum Serviceschalter und trug mein Anliegen vor. „Haben wir gleich“, meinte die freundliche Angestellte (da war sie noch frisch und hoffnungsvoll). Sie holte sich meine Kreditkartendaten auf den Bildschirm. Sie klickte ein paar Mal mit der Maus und runzelte die Stirn. Der hoffnungsvolle Blick machte Zweifel Platz. Sie murmelte etwas von „komisch“ und murmelte etwas von „ausgeblendet“. Dann ging sie zum Nachbarschalter und holte eine Kollegin. Zwei Stirnen mit Runzeln. Weitere Klicks: „da musst du die Seite aufrufen – ach nee, gips doch nicht – auch ausgeblendet“. Das Feld „Postversand“, in das man nur ein Häkchen setzen musste, war gesperrt und damit unklickbar.
„Das ist unsere Banksoftware“, sagte die zweite Kollegin erklärend. (Für jeden modernen Menschen ist das eine Erklärung.) Am Ende vom Lied gab es keine Lösung, sondern eine „Eskalationsmeldung“ an die Supersuper-Kennerin der Software. Die aber hat ihr Büro unter dem Dach und ist heute nicht da.
Was war passiert?
Eigentlich liegt hinter dem Formular eine Liste mit Kundendaten, nicht so viel anders als eine Excel-Tabelle. Vielleicht so:
Der Zugang zum Formular ist aber nicht direkt möglich, sondern nur über ein Formular. Das Formular ist wieder Arbeitserleichterung und Entmündigung zugleich:
Durch das Formular erhält der Anwender aus der Fülle der Daten nur die angezeigt, die er gerade braucht. Aber er hat keine Möglichkeit – auch nicht im Bedarfsfall, auch nicht im wirklich wichtigen Bedarfsfall - direkt auf die Tabelle unter dem Formular zuzugreifen.
„Regelkorsett“ nennt das Frau Schüller in ihrem Buch und hat Recht damit. Warum werden die Bankmitarbeiter daran gehindert, auch mal am Formular vorbei auf die Daten zuzugreifen?
Nur die herrschende Angst- und Misstrauenskultur: Was könnten die dort alles anrichten …!
Was könnte das z. B. konkret für die Software heißen, die unsere Unternehmen einsetzen? Welche Software unterstützt die Selbstorganisation von Teams? Und welche behindert sie eher?
Anekdote 1: Der wohlwollende IT-Kollege
Kürzlich sprach ich mit dem Teamleiter einer IT-Abteilung, der auch große Software-Projekte seines Unternehmens steuert. Es ging um Dokumentenmanagement und dabei um die Verwaltung von Word-Formularen und Excel-Vorlagen.Ich sagte: „Mir ist aufgefallen, dass immer weniger Leute gut mit den Möglichkeiten von Word und Excel umgehen können, um sich z. B. selbst Vorlagen zur Arbeitserleichterungen zu stricken. Bieten Sie den Mitarbeitern da Fortbildungen an?“
„Wo denken Sie hin“, sagte er, „auf keinen Fall. Wenn jemand ein Formular oder eine etwas komplexere Excel-Datei braucht, dann erledigen wir das für ihn. Er braucht uns nur die Anforderungen zu nennen, und dann kriegt er das gewünschte Template von uns geliefert.“
Ich wechselte das Thema. Ich wollte nicht fragen, wie viel Zeit draufgeht, bis der Mitarbeiter kriegt, was er braucht. Oder auch nicht kriegt, was er braucht, weil er sein Anliegen nur schlecht erklären konnte. Oder ganz auf das verzichtet, was er braucht, weil er schon drei Mal Erfahrungen gesammelt hat.
Der IT-Kollege handelte natürlich in bester Absicht: den Mitarbeitern das Leben erleichtern. Aber gleichzeitig entmachtet er sie ein gutes Teil.
Anekdote 2: Das selbstorganisierte Team
Als Berater lernt man am meisten von seinen Kunden. Kürzlich kam ich in einem Workshop in einer Orga-Abteilung auf das Thema „Zeitmanagement“ zu sprechen. Und da sagte die Abteilungsleiterin: „Och, das ist eigentlich ganz einfach. Da haben wir unsere Vorgangsliste.“ Ich antwortete mit einem deutlichen „???“, worauf sie den Papierausdruck einer Excel-Liste aus ihrer Mappe zog. So sah die aus:Abbildung 1: Eine selbstgestrickte Vorgangsliste |
Die Abteilungsleiterin ergänzte: „Wenn ich dem Chef berichten soll, was wir letzten Monat gemacht haben, filtere ich einfach über den Termin und ein ‚erledigt‘ in der Spalte Status, und schon kann ich mündlich vortragen. Ohne lange Vorbereitung und Sucherei.“
Was war nötig an Excel-Kenntnissen dafür? Wenig. Ich muss wissen, wie ich filtere. Ich muss Excel-Arbeitsmappen freigeben können, damit mehrere Leute gleichzeitig in der Tabelle arbeiten können. Und eventuell sollte ich noch eine Gültigkeitsprüfung in der Spalte „Wer?“ vornehmen, damit sich niemand beim Eintragen des Namens vertippt.
Wäre die Abteilung mit so einem Anliegen zur IT gegangen? Wäre sie überhaupt auf die Idee gekommen, es könnte so eine Excel-Mappe geben – ohne das Wissen, dass man Excel-Tabellen filtern kann?
So aber behält das Team die volle Kontrolle über sein Werkzeug.
Anekdote 3: Hilflosigkeit am Helpdesk
Vorgestern war ich bei meiner Bank. Mein Anliegen: ich wollte die Auszüge für meine geschäftliche Kreditkarte künftig monatlich zugeschickt bekommen. Bis jetzt klappt das nur für meine „normalen“ Kontoauszüge. Für meine Kreditkarte klappt das – warum auch immer – nicht. Da muss ich immer selbst zum Auszugsdrucker laufen und sie selbst ausdrucken.Ich ging zum Serviceschalter und trug mein Anliegen vor. „Haben wir gleich“, meinte die freundliche Angestellte (da war sie noch frisch und hoffnungsvoll). Sie holte sich meine Kreditkartendaten auf den Bildschirm. Sie klickte ein paar Mal mit der Maus und runzelte die Stirn. Der hoffnungsvolle Blick machte Zweifel Platz. Sie murmelte etwas von „komisch“ und murmelte etwas von „ausgeblendet“. Dann ging sie zum Nachbarschalter und holte eine Kollegin. Zwei Stirnen mit Runzeln. Weitere Klicks: „da musst du die Seite aufrufen – ach nee, gips doch nicht – auch ausgeblendet“. Das Feld „Postversand“, in das man nur ein Häkchen setzen musste, war gesperrt und damit unklickbar.
„Das ist unsere Banksoftware“, sagte die zweite Kollegin erklärend. (Für jeden modernen Menschen ist das eine Erklärung.) Am Ende vom Lied gab es keine Lösung, sondern eine „Eskalationsmeldung“ an die Supersuper-Kennerin der Software. Die aber hat ihr Büro unter dem Dach und ist heute nicht da.
Was war passiert?
Eigentlich liegt hinter dem Formular eine Liste mit Kundendaten, nicht so viel anders als eine Excel-Tabelle. Vielleicht so:
Abbildung 2: Eine Liste mit Stammdaten von Bankkunden … |
Abbildung 3: … mit einem übersichtlichen Formular.
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„Regelkorsett“ nennt das Frau Schüller in ihrem Buch und hat Recht damit. Warum werden die Bankmitarbeiter daran gehindert, auch mal am Formular vorbei auf die Daten zuzugreifen?
Nur die herrschende Angst- und Misstrauenskultur: Was könnten die dort alles anrichten …!
Anmerkungen
- /1/ Anne M. Schüler: Das Touchpoint-Unternehmen. Mitarbeiterführung in unserer neuen Businesswelt, GABAL-Verlag, 2014, ISBN 978-3-86936-550-3.
- /2/ Seite 29.
Danke Wolf, für diesen erhellenden Artikel. Ich mache ganz ähnliche Beobachtungen. Besonders die Anekdote 2 finde ich spannend! Darf ich die in dem Buch zitieren, das ich gerade schreibe?
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