Die Diskussion, ob Agilität ein „Hype“ war, der nun vorüber ist. Ob wir schon im „Post-agilen Zeitalter“ leben. Und wenn ja, wer dafür verantwortlich ist: diese Diskussion nehme ich jetzt schon seit etwa anderthalb Jahren wahr, und sie geht auch aktuell weiter.
In meiner Branche wird Agilität weiter gebraucht
Ich bin in der speziellen Situation, dass ich beruflich aus dem öffentlichen Dienst komme und auch seit meinem Ausscheiden vor 15 Jahren weiterhin vor allem Kunden im öffentlichen Bereich berate. Also auf einem Parkett, das normalerweise nicht mit den Anliegen des Agilen Manifests verbunden wird: der Produktion von Software für gewerbliche Kunden in einem unsicheren Umfeld.
Auf diesem scheinbar „exotischen“ Feld hat sich in den vergangenen sechs bis acht Jahren bei vielen Verwaltungen die Erkenntnis verbreitet, dass agile Vorgehensweisen bei den anstehenden Transformationen für sie sinnvoll sein können. Denn auch Projekte z.B. die „Digitalisierung der Verwaltung“ (ein völlig ungeeignetes Kofferwort, in das gewaltsam 100 verschiedene Aufgaben hineingestopft werden, die in Wahrheit ganz verschiedene Lösungsansätze brauchen) bergen Unsicherheit in verschiedener Hinsicht.
Unsicherheiten in diesen Projekten:
- Der Weg, wie wir zu einem künftigen digitalen Arbeiten in einer Verwaltung kommen können, ist unklar. Wie beschaffen wir ein Dokumentenmanagementsystem? Was machen wir mit den Kilometern an Papierakten, die noch nicht vernichtet werden dürfen? Und 50 weitere Fragen.
- Das Ziel ist überhaupt ganz unklar. Der Spruch, dass ein Scheißprozess, den wir digitalisieren, dann eben ein digitaler Scheißprozess sei, ist in der Verwaltung durchaus verbreitet (stammt aus honoriger Quelle, dem ehemaligen CEO der Deutschen Telekom, und gilt daher nicht als „anrüchig“). Aber was ist denn … mangelhaft an unseren Prozessen? Welche alten Zöpfe müssten oder könnten wir denn abschneiden, um aus den allseits beklagten Verwaltungsblockaden herauszukommen? Dar-über herrscht in den Führungsetagen der Verwaltung gar keine Einigkeit.
Also eigentlich ein ideales Umfeld für agiles Arbeiten: wir als externe Berater (Common Sense Team) starten zum Beispiel mit einer Stadtverwaltung ein Projekt zur Einführung von Dokumentenmanagement (also eines der 100 Digitalisierungsthemen). Dazu bilden wir ein Projektteam, in dem auf Kundenseite mehrere Sichten abgebildet sind (Sachbearbeiter von der „Kundenfront“, Führungskräfte, IT). Wir arbeiten iterativ, indem wir erste Module des Dokumentenmanagementsystems in ein, zwei Sachgebieten in Echtbetrieb nehmen. In der Praxis werden Erfahrungen gesammelt, damit die Verwaltung überhaupt erst einmal Ideen von der Leistungsfähigkeit und den möglichen Verbesserungen durch das neue System bekommt. Und dadurch kann sie sowohl das „Wie“ gleich in der Praxis klären (z.B. Umgang mit Papierdokumenten) als auch das „Was“ anpassen (ganz neue Sollprozesse entwerfen).
Die Differenz zwischen Kundennutzen und Unternehmensinteressen
Jetzt stoßen wir auf das Problem, das ich in der Überschrift angesprochen habe: nämlich auf den Unterschied zwischen Kundennutzen und unternehmerischem Denken.
Kundennutzen bedeutet: Ich will im Rahmen des Projektbudgets möglichst viel Outcome für den Kunden erzeugen. Also nicht den Output maximieren (im Sinne von messbaren Kennzahlen, „ausgerollte Lizenzen“ oder „eingescannte Regalmeter“), sondern den Outcome (eher schwer messbare Ergebnisse für den Kunden, wie „produktiver und stressfreier arbeitende Mitarbeiter und zufriedenere Bürger = Kunden meines Kunden“).
Unternehmerisches Denken bedeutet: für mein Beratungsunternehmen (Common Sense Team) möglichst viel Umsatz machen, damit wir als Firma gut leben oder zumindest überleben.
Ich in meiner Rolle als externer agiler Coach kann eventuell in ein Dilemma kommen.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein Kunde wollte unbedingt am Anfang eines Dokumentenmanagementprojekts einen „Aktenplan“ erstellen. Ich versuchte, ihm das auszureden. Ich argumentierte, dass ein Aktenplan kein Minimal Viable Product im Sinne unserer iterativ-inkrementellen Arbeitsweise sei, das man in der Praxis testen könne. Sondern eine tote Excel-Tabelle mit mindestens 500 „Aktenzeichen“, mit der man praktisch nichts anfangen könne. Und ich würde immer im Verlaufe des Projekts, immer wenn wir einen bestimmten Prozess in der neuen Software abbilden würden, dann auch die zugehörigen Aktenzeichen ausdenken. So dass der gesamte Aktenplan ganz am Ende des Projekts fertig wäre, aber keinesfalls am Anfang.
Ich spürte, dass das eine Sollbruchstelle war. Die Führungskraft beim Kunden war fest von der Richtigkeit ihres Vorgehens überzeugt. Ich wusste aus anderen Projekten, dass es ein Irrweg war, der viel Geld und Zeit kosten würde mit einem wertlosen Teilprodukt (denn ein solcher am grünen Tisch entworfener Plan wird sowieso im Projekt über den Haufen geworfen). Und dass wir das Projektbudget sicher sprengen würden.
Aufgrund dieses Konflikts endete unsere Zusammenarbeit, bevor sie richtig begonnen hatte. Die Verwaltung besorgte sich einen anderen Berater, der mit ihr in fünf Jahren mit Workshops in 35 Abteilungen einen Aktenplan entwarf – eine Exceldatei mit einer dreistelligen Zahl von Arbeitsblättern. (Ich durfte dieses Ergebnis sehen, als nämlich die Verwaltung die Zusammenarbeit auch mit dem anderen Berater kündigte und uns wieder ins Boot holte. Aber das ist natürlich ein Zufall, der ganz selten vorkommt.)
Das Dilemma in meinem Beispiel rührt von einem systematischen Problem her
Ich versuche das mal zu „theoretisch“ darzustellen:
Die Abbildung zeigt eine typische Situation für agile Projekte (es gibt auch andere Strukturen!). Ein agiler Dienstleister erstellt ein Produkt für einen Kunden. Dieses Produkt kann
- klassisch eine Software sein, die der Dienstleister für den Kunden erstellt;
- es kann eine Standardsoftware sein, die der DL dem Kunden liefert und für ihn customized;
- es kann eine Beratung sein, wenn der Kunde selbst agil arbeiten will und dafür Trainings und Coaching haben möchte.
Das operative Projektgeschäft wird von einem crossfunktionalen Team geleistet. In diesem Team sind auf jeden Fall Vertreter des DL-Unternehmens wie des Kunden dabei – je nach Konstellation
- kommen fast alle Teammitglieder vom Dienstleister und nur ein oder zwei vom Kunden
- oder es ist ein Kundenteam, das nur von einem Berater des Auftragnehmers trainiert und gecoacht wird (das war bei meinem Beispiel der Fall).
Auf jeden Fall kommen die Vertreter des DL-Unternehmens im Team sehr oft in ein Dilemma: orientieren sie sich mehr an den Interessen ihres Unternehmens an Umsatz und Gewinn? Oder wollen sie mehr dem Kunden einen Nutzen bringen, auch wenn das den Profit ihres Unternehmens schmälert?
Beide Interessen sind nur in Ausnahmefällen identisch. Die Behauptung der Neoliberalen, dass die Unternehmen sich letztlich auf dem Markt durchsetzen, die ihren Kunden den größten Nutzen stiften, ist ein frommes Märchen. (Ich habe kürzlich in einer Diskussion auf LinkedIn einen Kommentar gelesen mit dem Ausruf: „Scrum ist Kapitalismus pur!“ Und das war positiv gemeint, eben im Sinne von „kundenorientiert“ und „innovativ“. – Da fiel mir auf, wie tief die neoliberale Ideologie schon in die Köpfe eingewurzelt ist.)
Kleiner Exkurs: Unternehmertum und kapitalistisches Unternehmertum sind nicht das gleiche!
Unternehmen gibt es überall, wo es Marktwirtschaft gibt. Die Ureinwohner von Nordamerika hatten keine Marktwirtschaft, und dort gab es keine Unternehmer. Die Phönizier hatten schon Fernhandel, Geld und Marktwirtschaft und deshalb auch Unternehmer. Die Römer hatten „Villae“ (große Güter mit Sklaven), die für den Markt produzierten, und die Sklavenbesitzer waren Unternehmer.
Aber es gab praktisch kein Wirtschaftswachstum, sondern die Marktwirtschaften waren stationär. Deshalb gab es auch fast keinen Wettbewerb zwischen Unternehmern, niemand wollte den anderen vom Markt verdrängen (zumindest nicht mit wirtschaftlichen Methoden, sondern eher durch Heirat oder Mord). Es gab keine Innovationen.
Man muss also zwischen phönizischer, römischer, mittelalterlicher und heutiger (kapitalistischer) Markwirtschaft unterscheiden. In der heutigen Wirtschaft herrscht Wachstumszwang (Kapitalismus kann ohne Wachstum nicht existieren, deshalb tun wir uns mit dem Klimaschutz so schwer). Es gibt einen Verdrängungswettbewerb und eine Tendenz zur Unternehmenskonzentration: „Entweder ich wachse und schlucke meine Konkurrenten oder mein Konkurrent schluckt mich.“
Unter diesem Wettbewerbszwang ist der Kunde und sein Nutzen immer nur Mittel zum Zweck. Wenn ich dem Kunden, wie Steve Jobs es so unnachahmlich konnte, mein iPhone als Luxusware für Höchstpreise verkaufe, aber in chinesischen Kinderfabriken billigst für ein paar Dollar produzieren lasse – dann habe ich die Chance auf großen Erfolg. Wenn ich Apps fürs Handy meiner Kunden produziere und dabei Tricks einbaue, die die Kunden süchtig machen (süchtig nach Aufmerksamkeit, nach Likes usw.) – umso besser für meine Erfolgschancen. Wenn ich als DMS-Berater die Chance habe, meinem Kunden 90 eintägige Workshops zur Erstellung eines Aktenplans zu verkaufen, den er hinterher nicht verwenden kann – was sollte mich daran hindern?
Agiles Arbeiten bedeutet immer einen gewissen Konflikt zum Gewinninteresse
Und das ist – so meine Hypothese – warum agiles Arbeiten sehr sehr häufig in einen inneren Konflikt gerät. Das crossfunktionale Team umfasst entweder Kundenvertreter oder steht im dauernden Kontakt mit ihnen. Es muss gut mit ihnen zusammenarbeiten, sonst klappt das mit dem schnellen und inhaltsreichen Feedback nicht. Und das Team muss auch ständig die Zieldefinition überprüfen und mit dem Kunden gegebenenfalls überarbeiten. Und dann ist es ganz natürlich so, dass die Teammitglieder (auch der PO, falls er zum Dienstleisterunternehmen gehört) sich ganz spontan vorwiegend am Kundennutzen orientieren und das Interesse des eigenen Unternehmens dahinter zurücksteht.
Die Diskussion, ob Scrum und agiles Arbeiten auf einem absteigenden Ast sind, wurde letztes Jahr unter anderem von Simon Flossmann angestoßen. Er berichtete auf LinkedIn von einer Entlassungswelle von Agile Coaches bei dem US-Finanzdienstleister Capital One. Der hatte 1.100 Scrum-Master-Stellen gestrichen und das so begründet:
„Die agile Rolle in unserer Tech-Organisation war für unsere früheren Transformationsphasen von entscheidender Bedeutung, aber mit zunehmender Reife unserer Organisation ist der natürliche nächste Schritt die Integration agiler Lieferprozesse direkt in den Kern unserer Entwicklungspraktiken."
Hä? Ich "integriere" „natürlich“ „agile Lieferprozesse“ in den Was-auch-immer-Kern? Das Besondere an agilen Lieferungen ist ja gerade, dass es sich nicht um „Prozesse“ handelt (= standardisierte Abläufe), sondern um Projekte unter Unsicherheit. Aber Capital One will das agile Arbeiten wieder in den „Kern“ seiner „Praktiken“ zurückholen – das heißt einfach wieder in klassische Entwicklungspraktiken zurückdrehen. Kontrolle statt selbstorganisierte Teams.
Für mich hört sich das sehr nach Kulturkampf an – also Wiedereinführung autoritärer Führungspraktiken. Und nicht nach rationaler, empirisch basierter Abwägung: „die gekündigten Scrum Master haben unserem Unternehmen nichts gebracht.“ Überall, im Silicon Valley nur besonders sichtbar, erleben wir ein autoritäres Roll-Back in der Gesellschaft und auch in Unternehmen. Der Verdacht der Unternehmensspitzen, dass die agilen Teams mehr an den Kundennutzen denken als an den Profit des eigenen Konzerns („Make Capital One great again!“) , ist sehr wahrscheinlich begründet. Es mangelt diesen Teams (und den Scrum Mastern, und den PO’s) an „kapitalistischem Unternehmerdenken“.
Aber das Problem ist, dass man ihnen diesen „Mangel“ nicht abtrainieren kann. Sondern die Orientierung am Kundennutzen ist Kern der agilen DNA.
Das würde ich auch gerne weiter so halten. Und meine öffentlichen Verwaltungen als Kunden zu ihrem maximalen Nutzen führen – auch wenn wir dann ein bisschen weniger Umsatz machen als andere Unternehmen.
Quellen
In einem Post von 2024 liefert Simon Flossmann eine Interpretation der Massenentlassung von Scrum Mastern bei Capital One und empfiehlt Scrum Mastern, stärker unternehmerisch zu denken: https://www.linkedin.com/pulse/entlassungswelle-bei-agile-coaches-so-nutzt-du-als-scrum-flossmann-bljre/
Dass die kapitalistische Marktwirtschaft (im Unterschied zu anderen Marktwirtschaften) nur überleben kann, indem sie exponentielles Wachstum bewirkt, wird von verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Büchern der letzten Zeit dargestellt. Das Buch von Ulrike Herrmann:
"Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden" habe ich gern gelesen, weil es diese "theoretische" Frage auf ihre aktuellen praktischen Konsequenzen hin ausleuchtet.
Die Auswirkungen auf unser Leben und Denken sind exemplarisch dargestellt im Buch von Hartmut Rosa, Professor an der Uni Jena: "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne", Suhrkamp Verlag. Es ist schon 2005 erschienen, aber immer noch sehr aktuell. Das Buch liefert hintergründige Einsichten in den Zeitdruck, der in unserer Arbeitswelt wie ein Naturgesetz herrscht und dem sich alle anzupassen hätten.
Den aktuellen Anlass für meinen Post bildet der Podcast von Thomas von "No bullshit agile", der in Folge 70 die Frage stellt: "Leben wir in einer 'Post Agilen' Welt?": https://no-bullshit-agile.de/nba70-post-agile.html Er betont den Unterschied zwischen Outcome (für den Kunden) und Output (für das eigene Unternehmen) und verweist auf die wertemäßige Grundlage des Agilen Manifests, das seinen Schwerpunkt mehr auf gute Produkte für den Kunden statt auf Gewinnorientierung gelegt habe.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen