Direkt zum Hauptbereich

Autonomie vs. Führung - wie halten wir das Gleichgewicht?

"Ohne die Annahme der eigenen Grenzen ist kein Loslassen möglich." /1/

Ernst Ferstl (*1955), österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker

 

Wann führen und wann loslassen?

Immer wieder kann man in Unternehmen beobachten, wie ein Spagat vollzogen wird zwischen der "langen" und der "kurzen" Leine. Es wird darum gerungen, wann wer welche Vorgaben machen sollte oder muss und wann Führung losgelassen werden muss, um Teams die Chance auf Eigenorganisation zu geben. Dazu tauschte ich mich einmal mit einem Kollegen aus.

Tanz auf der Gauß-Kurve

Wir sprachen darüber, dass man als Teamcoach, als der wir beide (in unterschiedlichen Teams aus einem Bereich) arbeiteten, häufig austarieren muss zwischen zwei verschiedenen Polen. Ich persönlich nenne das gern das "Tanzen auf der Gauß-Kurve": Man kann sich, bildlich gesprochen, nicht gemütlich an einem Ende niederlassen, an einem der Extrempole, und sich dort nicht mehr rühren, sondern man muss stets auf dem Scheitelpunkt der Kurve balancieren und versuchen, dort das Gleichgewicht zu halten. Es ist weder zuträglich, völlige Autonomie zu gewähren, weil dann Chaos entsteht, noch strikte Vorgaben von oben auszugeben, denn diese ersticken nicht nur Kreativität, sondern auch den Spaß bei der Arbeit. Man muss sich irgendwo dazwischen halten und herausfinden, wie man das macht.

Hohe Autonomie ist wünschenswert, aber nicht hinreichend

Im Umfeld meines Kollegen und mir wurde einst (weit vor unserer Zeit) im Zuge einer agilen Initaitive den Teams, die unterschiedliche fachliche Funktionen einer gemeinsamen Software entwickeln sollten, eine hohe Autonomie zugestanden, indem ihnen selbst überlassen wurde, wie sie sich organisieren, um ihren Teil zu liefern. (Aus diesem Grund wurde auch nicht von Scrum gesprochen, weil nicht unbedingt immer alle Elemente davon zu finden waren, teils auch nicht so sinnvoll aufeinander abgestimmt, wie Scrum das vorsieht.)

Im Gespräch mit meinem Kollegen ging es um das Austarieren von Autonomie in den Teams und Führung durch bestimmte Grundfeste. In Konstrukten wie dem unsrigen zeigt sich dessen Schwachstelle nämlich schnell dann, wenn Fragen oder Themen aufkommen, die über das, was ein einzelnes Team bearbeitet, hinausgehen. Wer ist dafür zuständig? Wer bestimmt, wie das Thema behandelt wird? Wer legt die Priorität dafür fest? Ein Beispiel: In querschnittlichen Funktionen fanden Bestrebungen statt, die bisher für alle verrichtete Arbeit wie z. B. Betreuung von Umgebungen oder ähnliche betriebsführungsnahe Tätigkeiten in die einzelnen Teams auszulagern, die dann - als "autonome Teams" - vollständig für ihre Ressourcen, Server und deren regelmäßige Wartung, die darauf laufende Software und ihre Releases dieser Software verantwortlich sein sollten.

Autonomie und Verantwortlichkeit

Gerne drehen sich alle Teams, die ein aufgekommenes Thema zunächst zumindest nicht offensichtlich betrifft, erst einmal weg, da meistens zu wenig Ressourcen vorhanden sind und sich noch nie ein Team über Langeweile beklagt hat. Im Gegenteil: Die Software wird nicht selten unter recht hohem Zeitdruck produziert, leider auch nicht immer ordentlich getestet und dann mit Ach und Krach durch teure Nacharbeit in Produktion gebracht. Dieses Muster ging in einer meiner Beauftragungen sogar so weit, dass die versierten und fähigen Kollegen bereits ein halbes Jahr vor geplanter großer Auslieferung wussten, dass das, was da produziert würde, nichts Gutes sei und nach dem Go Live von niemandem benutzt würde. Die Autonomie für das eigene Thema kann schnell zur Hintertür für das Abstreifen unerwünschter Verantwortung werden, wenn nämlich eine Fragestellung nicht direkt ins eigene Ressort fällt. "Das können ja die anderen machen, das ist nicht unsere Baustelle." So drehen sich dann wieder alle weg, obwohl sie sich eigentlich an einen Tisch setzen müssten.

Vorgaben ohne Hebel

Dann gibt es außerdem auch noch IT-Architekten in den unterschiedlichen Bereichen, die - zumindest nach meinem Verständnis - sinnvolle Leitplanken für die Entwicklung vorgeben sollen, die übergreifend gültig sind und in deren Rahmen sich die Teams dann aber bei ihrer Software-Erstellung frei bewegen dürfen. Ich habe aber schon mehrfach erlebt, dass dieser wichtigen Position nur eine "beratende" Funktion zugesprochen wird. Der Architekt darf Empfehlungen aussprechen, die aber nicht bindend sind (vielleicht, weil man "Agilität" anders interpretiert, und wahrscheinlich auch, ohne sich explizit darüber ausgetauscht zu haben) und deswegen auch nicht umgesetzt werden, wenn das irgendwie zu unbequem ist. Ein unerwünschter Nebeneffekt besteht außerdem darin, dass man sich als Architekt in dieser Situation nicht als selbstwirksam erlebt, weil man das, was man als Experte oder Expertin als sinnvoll erkannt hat, nicht durchsetzen kann. Wenn ich in einer solchen Position wäre, würde ich mich dort aus eigenem Antrieb nicht allzu lange halten.

Das Gleichgewicht halten ist nicht leicht

Nach meinem Eindruck ist dieses Zusammenspiel aus "Leitplanken vorgeben" und "Autonomie gewähren" häufig ebenfalls nicht definiert und gelingt auch nur mäßig gut. Die übergreifenden Leitplanken fehlen, in den Teams wird daher, übertrieben gesprochen, Kraut und Rüben entwickelt, und da man mit dieser Vorgehensweise auf Probleme läuft, wird die Autonomie der Teams plötzlich wieder eingestampft, und es kommen wasserfallartige Vorgaben von oben. Auch mein eingangs erwähnter Kollege und ich hatten Anwandlungen dessen erlebt, als wir und einige weitere Teamcoach-Kollegen nach einer selbstorganisierten und aus unserer Sicht sinnvollen Initiative von einer "höheren Hierarchieebene" wieder eingebremst wurden.

Zwei Seiten, zwei Pole

Möglicherweise kann man die gemeinsame Arbeit der Teams an einer Software auch mit der gemeinsamen Arbeit an einer Liebesbeziehung vergleichen. In beiden Fällen sind Menschen am Werk, die sich aus bestimmten Gründen nicht aus dem Weg gehen können oder wollen und in einer gemeinsamen Richtung arbeiten sollen. ;-) In einer Beziehung braucht es wie in einem Arbeitsumfeld das gesunde Maß aus Autonomie und (Ver)Bindung, um reibungslos durch den Tag zu kommen. Niemand möchte über undiskutierte Vorgaben von anderen reglementiert werden - wir alle wissen, wie es dann mit der Identifikation mit den geforderten Arbeiten oder Verhaltensweisen steht. Hier passt ein Zitat aus der Arbeitswelt, das Steve Jobs zugeschrieben wird und beschreibt, wie zahlreiche konventionelle Unternehmen heute immer noch arbeiten: "Es macht keinen Sinn, kluge Leute einzustellen und ihnen zu sagen, was zu tun ist. Wir stellen kluge Leute ein, damit sie uns sagen können, was zu tun ist." /2/ Wir brauchen in unserer Freiheit jedoch auch Grundwerte, die uns und unser Handeln verbinden, das Handeln zu einem gemeinsamen Handeln machen. In einer Beziehung wie auch im Arbeitsumfeld sollte man über beides eine gemeinsame Sicht erzielt haben.

Daran arbeiten statt in der Auslaufzone dümpeln

Wir neigen häufig dazu, es uns schnell bequem zu machen, wie eine zum Stillstand gekommene Murmel am Ende der Gauß-Kurve, in der Auslaufzone, aber das Leben besteht aus Bewegung da oben auf dem Scheitelpunkt der Kurve, da, wo es am höchsten ist und man sich anstrengen muss, um alles auszutarieren. Angeblich gibt es ein deutsches Sprichwort, das sehr einfach zusammenfasst: "Das Leben liebt das Gleichgewicht." /3/

Euch allen viel Erfolg dabei, dieses für Euer eigenes Setting herauszufinden.


Quellen:

/1/ https://www.aphorismen.de/zitat/33459

/2/ https://www.businessinsider.de/karriere/arbeitsleben/steve-jobs-erklaerte-was-viele-unternehmen-bei-besten-angestellten-falsch-machen-r3/

/3/ https://www.aphorismen.de/zitat/9596

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Agile Sternbilder: Die Entdeckung kosmischer Agilitäts-Superkräfte

Hast du dich je gefragt, ob dein Sternzeichen deine Fähigkeiten in einer agilen Arbeitsumgebung beeinflusst? In diesem Blogpost tauchen wir ein in die faszinierende Welt der Astrologie und ihre mögliche Verbindung zu modernen Arbeitsweisen. Entdecke, wie die Sterne deine agilen Stärken prägen könnten. Ob überzeugter Agilist oder neugieriger Sternzeichenliebhaber – dieser Artikel kann dir neue Perspektiven eröffnen und vielleicht sogar dein nächstes Teamprojekt inspirieren!

Den passenden Job finden

Hier teile ich, wie ich daran arbeite, endlich den richtigen Job zu finden. Kleingedrucktes: Dieser Artikel richtet sich (natürlich) an jene, die gerade in der luxuriösen Position sind, dass sie nicht jedes Angebot annehmen müssen. Anstatt von Engagement zu Engagement zu hetzen und frustriert zu sein über Konzernstrukturen, fehlende Ausrichtung und die Erkenntnis, dass in einem selbst beständig die Hintergrundfrage nagt, ob es das ist, womit man seine immer knapper werdende Lebenszeit wirklich verbringen möchte, gibt es manchmal auch die Möglichkeit, die nächste berufliche Station etwas nachhaltiger auszusuchen - auch, um tatsächlich (etwas) mehr beitragen zu können.

Die Microsoft Teams-Not-To-Do-Liste

Viele hoffen, dass es  für die Einrichtung von Microsoft Teams  den Königsweg gibt, den perfekten Plan – doch den gibt es leider (oder glücklicherweise?) nicht. Genauso wenig, wie es jemals einen Masterplan für die Organisation von Gruppenlaufwerken gab, gibt oder je geben wird. Was gut und vernünftig ist hängt von vielen Faktoren und ganz besonders den Unternehmensprozessen ab. Sicher ist nur eines: Von alleine entsteht keine vernünftige Struktur und schon gar keine Ordnung. Dafür braucht es klare Entscheidungen.

Agilität ist tot. Ausgerechnet jetzt?

Agilität wird zurückgefahren, Hierarchien kehren zurück. Doch ist das wirklich der richtige Weg in einer Welt, die immer unberechenbarer wird? Oder erleben wir gerade eine riskante Rolle rückwärts?

Wie beschreibt man einen Workshop für eine Konferenz?

Konferenzen bieten immer ein gutes Forum, um sein Wissen und seine Erfahrungen zu teilen. Was für die Vortragenden selbstverständlich scheint, ist für die Besucher:innen oft unverständlich. Wie können Vortragende ihren Workshop in 2-3 Sätzen beschreiben, damit die Besucher:innen schnell einschätzen können, er sich für sie lohnt?

Gemeinsam eine Anwenderdokumentation erstellen

Unternehmenssoftware ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Anwenderinnen und Anwendern, den Unternehmensprozessen und den Ergebnissen. Normalerweise schreibt der Hersteller der Software die Dokumentation für diejenigen, die die Software benutzen. Wenn die Software allerdings stark angepasst wurde, muss die Dokumentation von denen kommen, die die Prozessmaschine am besten verstehen - den Anwenderinnen und Anwendern. Wie könnte man das praktisch machen?

Der Softwareeisberg, die Softwarepyramide - Wie sprechen wir über neue Software?

Software ist aus den Geschäftsprozessen vieler Unternehmen nicht mehr wegzudenken. Sie verwaltet Kunden- und Produktdaten. Sie automatisiert Abläufe und verhindert Fehler. Aber Software veraltet. Was machen wir, wenn wir Unternehmenssoftware erneuern müssen? Von den ersten Konzepten bis zum ersten Release ist es ein weiter Weg, mit vielen Entscheidungen. Wie sprechen wir über diese Entscheidungen?