Über die Schwierigkeit, in diesem skalierten Framework zu Potte zu kommen, und warum das offenbar doch nicht alles ganz allein meine Schuld ist
Vor einiger Zeit sprach ich über Zoom mal wieder mit einem meiner Kontakte. Wir tauschten uns aus über diverse mögliche und tatsächliche Engagements, und ich bekannte, dass ich inzwischen (mit sogar nur wenig Erfahrung in diesem Umfeld, aber die reichte aus) Schwierigkeiten damit habe, in einem bestimmten Framework zu arbeiten. Ein anderer Kontakt, erfahren u. a. in der Personalvermittlung, bezeichnete mir gegenüber die solchermaßen aufgebauten typischen Riesen-Initiativen einmal als "Energievernichtungsmaschine".
Richtiges Scrum
Mein Kontakt berichtete, dass er, wenn er SAFe angeboten bekäme, meist abwinke, "nein, er wolle richtiges Scrum machen", für ihn sei SAFe kein Scrum (Wasser auf meine Mühlen...). Seine Haltung leuchtete mir ohne weitere Erklärung sofort ein, aber gleichzeitig beschlich mich ein komisches Gefühl. Auf der anderen Seite wettern nämlich Teile der Branche über den zusätzlich geschaffenen Job "Agile Coach" - auch hier werden womöglich Glaubenskriege entfesselt - denn ursprünglich war es der Scrum Master, der die frohe Kunde über das agile Arbeiten in selbstoganisierten Teams und das Verständnis hierzu in die Organisationen tragen sollte. Inzwischen ist dieser teilweise auf die zu begleitenden Teams zurückgeworfen, während nicht selten der Agile Coach, die vermeintlich höherwertige Position, in den Chefetagen herumwuseln darf (oder ist "darf" hier vielleicht das falsche Wort? Kommt wahrscheinlich auf das Unternehmen an...).
Pipi Langstrumpf oder: Ich mach' mir die Welt, wie sie mir gefällt?
Alle jedenfalls, die den Scrum Guide kennen, wissen, dass der Scrum Master unter Anderem die Aufgabe hat, das gesamte Unternehmen zu lehren, agil zu arbeiten. Das kann man natürlich nicht nur bequem von seinen Teams aus. Wenn ich also abwinke, "nee, ich will kein SAFe", kneife ich dann nicht? Bin ich nicht vielleicht selbst dafür verantwortlich, dass ich irgendwann in diesem Umfeld gut arbeiten und inhaltlich vorankommen kann? Bin ich eventuell selbst dafür verantwortlich, dass dieses SAFe funktioniert? Viele Stellenausschreibungen legen das zumindest nahe: Der Scrum Master ist ständig "verantwortlich" für diese und jene Verbesserung. Man hat als Unternehmen also immer einen Buhmann oder eine Buhfrau, wenn das ganze dann nicht klappt, ungeachtet der Hintergründe.
Scrum Master als SAFe-Rettung (?)
Wenn ich mir mit meinem bisherigen Erfahrungshintergrund vorstelle, ich sollte die Umstände dahingehend ändern, dass SAFe-Initiativen in Konzernen - diese Programme mit unzähligen Beteiligten und den typischen vielen Abhängigkeiten untereinander und dem großen Zeitdruck durch extern, aus einer höheren Hierarchieebene heraus, gesetzte GoLive-Termine, chronische Budget-Klammheit und trotzdem dem fast ständigen Wechsel von Personalien (am besten erst nach ihrer vollständigen Einarbeitung), weil immer wieder neue Projekte aus der Deckung kommen (Liste beliebig fortsetzen) - funktionieren, dann fühle ich immer noch eine Welle der Überforderung. Kann es sein, dass ich einfach zu wenig weiß? Sehr gut möglich. Ich habe andererseits zwei Jahrzehnte Berufserfahrung auf dem Buckel, wenn auch nur die Spitze des Eisbergs im agilen Umfeld stattfand, und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man auf Leute trifft, die wirklich etwas gemeinsam erreichen und sich auf ein gemeinsames Ziel hinbewegen wollen, wenn ehrlich gemeinte Verbesserungsvorschläge grundsätzlich erst mal geschätzt werden. Ich kenne auch echte und scheinbare Kooperation, kenne die Gesichter der Bagatellisierung oder Ignoranz. Auch ich habe schon in SAFe-Initiativen gearbeitet und immer wieder von ähnlichen Mustern in SAFe-Projekten von meinen Kontakten gehört. Die Wahrheit liegt also vermutlich irgendwo dazwischen.
Das große Missverständnis...
Kürzlich teilte eine inoffizielle Quelle, die nicht genannt sein will (danke, Jan! :-)), auf LinkedIn einen Artikel - samt ausgedehnter Diskussion der Leserschaft - mit mir, und da fielen mir die Schuppen vollends von den Augen. Ein Mensch namens Maarten Dalmijn (ja, ich habe es nicht so mit den Größen einer Branche*) räumt mit allen Zweifeln auf und bezeichnet SAFe als "Marketing-Framework".
"Friss oder stirb" und die Reaktion des Unternehmens
SAFe-Initiativen, die in klassischen Unternehmen von wem auch immer aufgesetzt werden, um - einfach mal so - schneller und günstiger sowie qualitativ hochwertiger ein gesetztes Ziel erreichen zu können, werden nach meinem momentanen Wissensstand häufig monolithisch in den Rachen des Unternehmens gerammt, à la "friss oder stirb", und achten nicht darauf, ob sich das Unternehmen an diesem großen sehr fremden Brocken entsetzlich verschluckt. Unterdessen, so der Autor des o. g. Artikels, wird der Organisation erzählt, dass sie mit SAFe ohne großen Aufwand Großes erreichen kann. Inhaltlich beschreibt es Dalmijn griffig als "ein couch potato bleiben können, aber trotzdem ein sixpack bekommen."
Agile Anstrengungen wider den Willen des "Kunden"
Beim Lesen des Artikels fand ich meine Ahnung bestätigt, dass man in den beschriebenen Initiativen im ernsthaften Bemühen, agil zu arbeiten und andere auf diesem Weg zu begleiten, deswegen oft nicht wirklich vorankommt, weil man damit eigentlich permanent gegen den Willen der Organisation arbeitet. Über kurz oder lang reibt sich so manche/r dabei auf, das ist dann vielleicht die Rache des Unternehmens... Im Kopf des Beraters skaliertes Scrum - falls das funktioniert, auch da sind sich nicht alle einig, aber das ist wieder ein anderes Thema - in den Köpfen der Geschäftsführung des Unternehmens dagegen die Marketingversprechen von SAFe.
Kohärenz wiederhergestellt
Ich jedenfalls bin jetzt beruhigt, dass mir jemand ein so klares Bild vermittelt hat, das sich mit dem komischen Rumoren in meinen Eingeweiden deckt. Auch als Berater:in/Coach (hier gibt's komischerweise noch keine "Coachin")/Mentor:in/Facilitator:in muss man seine eigene Leidensfähigkeit austesten. Jede/r mag nun die eigenen Schlüsse für künftige Engagements ziehen.
* Es ist wie damals beim Rudern: Ich trainierte, bewegte mich selbst über dem Wasser und versuchte, bei Wettkämpfen "Radaddelchen" zu sammeln - so heißen die Medaillen beim Rudern - wusste aber nicht mal, wer im aktuellen Deutschlandachter saß, geschweige denn, wann wo welche Medaillen gegen wen gewonnen wurden
Weiterführende Information
https://medium.com/serious-scrum/safe-is-a-marketing-framework-not-an-agile-scaling-framework-cbdc000154a8
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