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Bei Scrum geht es um das Schließen von Wissenslücken

Menschen, die sich neu mit Scrum beschäftigen, kommen manchmal zu dem Schluss, dass es sich bei Scrum (nur) um eine agile Variante von Projektmanagement handelt. Statt Projektplan habe man nun ein Product Backlog. Der Projektleiter plane nicht mehr allein, sondern mache dies regelmäßig im Team. Doch hier übersehen wir etwas. Bei Scrum geht es um das Schließen von Wissenslücken.

Schneller lernen als die Konkurrenz

Wenn wir ein neues Projekt starten, sind viele Dinge unklar. Die Umsetzer haben eine Menge Fragen. Projektarbeit bedeutet, Ergebnisse unter Unsicherheit zu liefern. Wie gehen wir mit dieser Unsicherheit um? Bei Scrum machen wir das einfach explizit. Wir reden darüber, wo unsere Wissenlücken sind.

Vielleicht kennen einige Leserinnen oder Leser die Geschichte der Wright-Brüder. Ihnen gelang es, in vier Jahren einen Motorgleiter zu bauen und kontrolliert zu fliegen. Das war ungewöhnlich, weil es zu der Zeit andere Flugzeugbauer gab, die mehr über das Fliegen wussten und mit mehr Mitteln ausgestattet waren.

"Um 1900 stellten die Wright-Brüder ein Problem mit dem Vorgehen 'erst entwerfen - dann testen' fest. Hauptsächlich, weil während des Tests von Fluggeräten, die schwerer als Luft waren, der Pilot starb. Sie wollten leben. Also erfanden sie einen anderen Ablauf: erst testen, dann entwerfen. ... Tatsächlich folgten die Wrights einem Ablauf, der damals wie heute eher selten genutzt wurde: ein Verstehe-erst-die-Grenzen- und-entwerfe-dann-Prozess"/1, S. 10 u. S. 11/

Dieses Vorgehen half Orville und Wilbur dabei, schneller als alle anderen einen motorisierten Gleiter zu entwickeln. Heute hat dieses Vorgehen komplizierte Namen wie Set-based Concurrent Engineering oder Simultaneous Engineering.

Fangen wir mit den Wissenslücken an

Zu Beginn eines Projekts lasse ich die Teammitglieder einen Mindmap o. ä. erstellen: Was beeinflusst die erfolgreiche Benutzung unseres neuen Produkts? Ich frage mehrmals Warum, um die Zusammenhänge besser zu verstehen.

Nehmen wir an, wir wollen ein neues ERP-System aufbauen. Im Workshop kommen wir auf folgende Faktoren: Verträge, Produkte, Akzeptanz der Kunden, Akzeptanz der Mitarbeiter.

Abb. 1: Was beeinflusst das Ergebnis?
 
Wir gehen weiter durch: Was beeinflusst die Verträge, die Akzeptanz usw.? Dabei sehen wir, dass wir nicht nur Abhängigkeiten bei den Daten und ihrer Qualität haben. Die Akzeptanz bei den Mitarbeiter:innen spielt auch eine wichtige Rolle.

Abb. 2: Die Einflussfaktoren werden konkreter

Die nächste Frage ist: Warum können wir das neue System nicht sofort benutzen? Abgesehen davon, dass es einfach Arbeit ist, die Geschäftspartner, Produkte und Verträge ins neue System zu bringen, kommen spezifische Punkte zur Sprache:

  • Das neue System rechnet sich, weil wir Pakete von Produkten zusammenstellen können. Wir haben keine Ahnung, wie sich das bei dem bestehenden Rabatt- und Vertragsmodellen auf die Abrechnung und Auslieferung auswirkt.
  • Wir wissen nicht, welche Sonderlocken in den Kundenserviceprozessen und in den Verträgen stecken. Wie finden wir die? Wie können wir die Sonderlocken vereinfachen?
  • Ein immer wiederkehrender Beschwerdepunkt war die Langsamkeit des alten Systems, was zu einem Großteil an der alten Hardware lag. Allerdings ist es im Moment sehr schwierig, rechtzeitig an neue Serverhardware zu kommen.

Abb. 3: Wo sind unsere Wissenslücken?

Nehmen wir die Hardware als Beispiel und stellen weitere Fragen:

  • Was beeinflusst die Lieferzeiten neue Hardware?
  • Wie beeinflusst die Hardware die Geschwindigkeit des Systems? Ist es Arbeitsspeicher oder Prozessorleistung? Ist es die Geschwindigkeit der Datenübertragung innerhalb des Servers oder ist das Netzwerk das Problem?

Entwickeln wir Ideen!

Das Scrum Team kann nun im ersten Sprint damit anfangen, Daten zu sammeln. Es macht Experimente mit unterschiedlichen Konfigurationen und mit unterschiedlichen Daten. Vielleicht fällt jetzt schon auf, dass auf wichtigen Datenbanktabellen Indexe fehlen. Das kann man sofort verbessern. Vielleicht liegt das Problem auch im Netzwerk und nicht an der Serverhardware?

Wir fragen weiter: Können wir uns drei alternative Architekturen vorstellen, wenn wir aus nachvollziehbaren Gründen keine neue Serverhardware bekommen? Nun sprudeln die Ideen: Wir gehen in die Cloud. Welche Wolke? Wir nutzen Docker. Wir bauen ein Netzwerk von Raspberry Pis auf. Wir können nun unsere Experimente wiederholen und damit unseren Lösungsraum weiter eingrenzen.

Der nächste Workshop mit Mitarbeitern im Kundenservice führt uns auf die Spur von Sonderlocken in der Bearbeitung von Aufträgen. Vielleicht stellen wir fest, dass es überhaupt keine Standards für die Bearbeitung gibt. Hier können wir mit Arbeitsgangbeschreibungen und Einarbeitungsplänen schon mit der Vereinfachung anfangen. Wenn sich alle an die vereinbarten Abläufe halten, können wir mit dem Verbessern anfangen: Gibt es drei unterschiedliche Wege, um das Ziel zu erreichen? Wie können wir messen und vergleichen?

Das ist ein einfaches Prinzip:

  • Wir einigen uns darauf, was wir erreichen wollen.
  • Wir sammeln mehr als eine Idee.
  • Wir einigen uns darauf, wie wir etwas messen und vergleichen können.
  • Wir machen Experimente.
  • Wir grenzen den Lösungsraum weiter ein.

Im Electronic Journal of Knowledge Management habe ich einen Beitrag von Zehra Canan Araci, Ahmed Al-Ashaab und Maksim Maksimovic gefunden, die solch ein Vorgehen am Beispiel der Neuentwicklung eines Autositzes zeigen./2/

Diese Experimente kommen an die Spitze des Product Backlogs, und sie werden mit der Arbeit verbunden, die ohnehin ansteht. Dieses Vorgehen ist nicht nur schneller. Es macht Spaß. Und es macht die Sprint Plannings und die Sprint Reviews interessanter, weil wir immer wieder auf die Wissenslücken verweisen. Vergleicht mal diese beiden Sprint-Review-Eröffnungen:

  • Fokus auf agiles Projektmanagement: "Willkommen beim Review des Sprints 4. Wie alle wissen, wollen wir unser neues ERP-System in Betrieb nehmen. In diesem Sprint haben wir die Backlogeinträge 10, 11, 23 und 27 bearbeitet. Unsere Entwickler führen nun die Ergebnisse vor ..."
  • Fokus auf das Schließen von Wissenslücken: "Willkommen beim Review des Sprints 4. Wie Ihr alle wisst, wollen wir unser vertrautes ERP-System durch ein neues ablösen, damit wir nicht nur Einzelprodukte sondern auch Pakete verkaufen und abrechnen können. In diesem Sprint wollten wir mehr über die Geschwindigkeit unseres Systems lernen, weil ein schnelles System besser von den Mitarbeitern angenommen wird. Wir haben die Backlogeinträge 10, 11, 23 und 27 genau dazu genutzt. Wir wollen nun die Erkenntnisse mit Euch teilen und mit Euch überlegen, was wir als nächstes lernen sollten, damit wir schnellstmöglich unser neues System haben."

Welcher Sprint Review ist für die Stakeholder wohl interessanter?

Ihr wollt mehr über Scrum wissen? Wir haben eine Übersichtsseite zu Scrum, über die man sich in die wichtigsten Artikel in diesem Blog einlesen kann.

Anmerkungen

  • /1/ Ward, Allen C. ; Oosterwal, Dantar P. ; II, Durward K. Sobek: Visible Knowledge for Flawless Design : The Secret Behind Lean Product Development. Justus-Liebig-Universität Gießen : Taylor & Francis, 2018.
  • /2/ Araci, Zehra Canan, Ahmed Al-Ashaab, and Maksim Maksimovic. "Knowledge Creation and Visualisation by Using Trade‑off Curves to Enable Set‑based Concurrent Engineering." Electronic Journal of Knowledge Management 14.1 (2016): pp73-86. Abrufbar unter https://academic-publishing.org/index.php/ejkm/article/view/1071


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