Vergangene Woche erhielt Martin Bartonitz /1/ auf einen seiner Twitterposts eine Bemerkung folgenden Inhalts: „Je öfter ich das Wort agil, diese Hülle der Sklavenhalter und diesen Ersatz für Souveränität, lese, desto übler wird mir …“ Und in einer E-Mail stellte Martin sich gleich selbstkritisch die Frage: „Gibt es auch eine dunkle Seite von ‚agil‘?"
Antworten auf Tweets haben den Vorteil, sich hinter der Maximalzahl von 140 Zeichen verstecken und sich ins ahnende Raunen begeben zu können. „Hülle der Sklavenhalter“, „Ersatz für Souveränität“, drei Pünktchen am Ende, die signalisieren: „ich wüsste noch so viel mehr zu sagen!“ Dann sag’s doch! Nutze die Kommentarfunktion auf einem unserer Blogs! Da gibt es keine Platzbegrenzung.
Auch im zweiten Kommentar die gleiche rhetorische Technik: „Waren das (lenksam, rasch) nicht die ‚Tugenden‘ des deutschen Kadavergehorsams?“ Ja, waren sie das? Waren das „die“ Tugenden? Und reicht der Verweis auf ein deutsch-lateinisches Lexikon aus, um diese Eigenschaften wiederum (und nicht die zehn anderen aufgeführten Bedeutungen) als Kern der agilen Arbeitsweisen zu entlarven?
Das sind manipulative Diskussionsfiguren, die an wirklicher Auseinandersetzung nicht interessiert sind. Sondern die Gespräche – auch und gerade Streitgespräche – als Machtspiele verstehen, bei denen es ums Rechtbehalten geht.
Gerade deswegen wollen wir uns aber der aufgeworfenen Frage ernsthaft stellen. Denn es gehört gerade zu den agilen Werten, Streitfragen mit Argumenten, Fakten und (wo immer möglich) experimentellen Verfahren zu klären.
Als Erstes geht es mir um den Begriff der „Selbstausbeutung“. Oft werden Zustände als Selbstausbeutung bezeichnet, bei denen Beschäftigte scheinbar freiwillig – nur um ihren Job zu retten – Überstunden machen, auf Urlaub verzichten oder rund um die Uhr erreichbar sind. Das ist aber im herkömmlichen (ökonomischen) Sinn keine Selbstausbeutung, sondern Ausbeutung kurz und klar: mit seiner ökonomischen Macht (Kündigungsdrohung) zwingt der Arbeitgeber seine Mitarbeiter, für weniger Geld mehr zu arbeiten.
Der Begriff „Selbstausbeutung“ wurde hingegen von der marxistischen Ökonomie geprägt, um die „Konkurrenzillusion“ zu kennzeichnen. Es kann z. B. sein, dass in einer bestimmten Branche ein Trend zur Konzentration herrscht. Meinetwegen in der Landwirtschaft gibt es die Tendenz zu immer größeren Höfen. Dann kann jeder einzelne Bauer natürlich überlegen, dass er der Gefahr des Ruins entrinnen kann, wenn er sich nur genügend anstrengt. Also arbeitet er von früh bis spät, nimmt vielleicht noch Kredite bei der Bank auf, um bessere Maschinen zu kaufen usw. Aber sein Nachbar tut das Gleiche. Und so veranstalten sie ein Rennen, bei dem am Schluss der Mehrwert der meisten Bauern – also die Früchte ihrer Mehrarbeit – nicht bei ihnen selbst, sondern bei den Banken (über die Zinsen) und beim Gewinner des Wettrennens (der die anderen Höfe billig aufkauft) landet.
Die marxistischen Ökonomen haben daraus zwei Schlüsse gezogen:
Scrum /3/ hat weder mit der ersten Verwendung des Begriffs Selbstausbeutung etwas zu tun noch mit der zweiten.
Das Entwicklungsteam wird bei Scrum nicht mit Drohungen und Verlockungen zur Überarbeit gepresst. Im Gegenteil. Das Ausmaß der Arbeit, die in einem Sprint erledigt werden kann, wird einzig und allein vom Team selbst festgelegt. /4/ Dies stellt einen Machtzuwachs für die Beschäftigten dar oder, wenn man die Worte des Kritikers verwenden will, ein Gewinn an wirklicher „Souveränität“.
Scrum hat auch nichts mit der zweiten Bedeutung von „Selbstausbeutung“ zu tun. Es gibt hier überhaupt keine Konkurrenz zwischen den Teams und deshalb auch keine Konkurrenzillusion. Das Team verhandelt über die zu erledigenden Aufgaben mit einer Person, dem Product Owner, und steht nicht einem abstrakten Markt gegenüber.
Die von den kritischen Kritikern verwendete Diskussionsfigur bezieht sich aber auf diese zweite Form der Selbstausbeutung, insofern sie die alte marxistische Weigerung wiederholt, aktiv andere Wirtschaftsformen zu entwickeln. Die linke Kritik hat es in ihrer langen Geschichte zu einer gewissen Perfektion dabei gebracht, ihre eigene praktische Passivität als theoretische Reinheit zu verkaufen. Damit wurde sie zum ewig nörgelnden Wurmfortsatz des ach so kritisierten „Systems“.
Die Erfinder von Scrum, Jeff Sutherland und Ken Schwaber, sind aber nicht unschuldig daran, dass derartige Kritik hier und da aufschwappt. Sie haben das Ihrige dazu getan.
Die Argumente, warum Unternehmen Scrum einführen sollten, beruhen nämlich durchaus auf der Konkurrenzillusion. Insbesondere Sutherland (Ken Schwaber habe ich nicht gelesen) betont immer wieder, dass Scrum die Unternehmen befähige, schneller als ihre Konkurrenten auf neue Marktentwicklungen zu reagieren und neue attraktive Produkte zu entwickeln. Das Hauptziel von Scrum bestehe im Immer-Schneller-Werden, in der Effizienzsteigerung um 400% und mehr. Ziel von Scrum sei gerade nicht, dass es den Mitarbeitern besser gehe (das sei nur ein Kollateralnutzen).
Damit befördern sie natürlich die Illusion von Unternehmen, sie könnten mal eben Scrum einführen und dann entsprechende Effizienzgewinne einstreichen. Viele Firmen glauben, sie könnten Scrum so manipulativ einsetzen, wie die linken Kritiker es ihnen und uns vorwerfen. Nur klappt das in der Praxis dann nicht.
Aber auch wenn alle Unternehmen Scrum richtig eingeführt hätten: Ja, und dann? Dann wären alle 400% schneller. Und was soll daran besser sein?
Auf diese Frage haben Sutherland und Schwaber keine Antwort. Weil sie sie sich wohl nicht einmal stellen.
Eine interessante Frage
Ein kritischer Tweet-Kommentar |
Agilitätskritik auch auf Facebook |
Das sind manipulative Diskussionsfiguren, die an wirklicher Auseinandersetzung nicht interessiert sind. Sondern die Gespräche – auch und gerade Streitgespräche – als Machtspiele verstehen, bei denen es ums Rechtbehalten geht.
Gerade deswegen wollen wir uns aber der aufgeworfenen Frage ernsthaft stellen. Denn es gehört gerade zu den agilen Werten, Streitfragen mit Argumenten, Fakten und (wo immer möglich) experimentellen Verfahren zu klären.
Was heißt „Selbstausbeutung“?
Als Erstes geht es mir um den Begriff der „Selbstausbeutung“. Oft werden Zustände als Selbstausbeutung bezeichnet, bei denen Beschäftigte scheinbar freiwillig – nur um ihren Job zu retten – Überstunden machen, auf Urlaub verzichten oder rund um die Uhr erreichbar sind. Das ist aber im herkömmlichen (ökonomischen) Sinn keine Selbstausbeutung, sondern Ausbeutung kurz und klar: mit seiner ökonomischen Macht (Kündigungsdrohung) zwingt der Arbeitgeber seine Mitarbeiter, für weniger Geld mehr zu arbeiten.
Der Begriff „Selbstausbeutung“ wurde hingegen von der marxistischen Ökonomie geprägt, um die „Konkurrenzillusion“ zu kennzeichnen. Es kann z. B. sein, dass in einer bestimmten Branche ein Trend zur Konzentration herrscht. Meinetwegen in der Landwirtschaft gibt es die Tendenz zu immer größeren Höfen. Dann kann jeder einzelne Bauer natürlich überlegen, dass er der Gefahr des Ruins entrinnen kann, wenn er sich nur genügend anstrengt. Also arbeitet er von früh bis spät, nimmt vielleicht noch Kredite bei der Bank auf, um bessere Maschinen zu kaufen usw. Aber sein Nachbar tut das Gleiche. Und so veranstalten sie ein Rennen, bei dem am Schluss der Mehrwert der meisten Bauern – also die Früchte ihrer Mehrarbeit – nicht bei ihnen selbst, sondern bei den Banken (über die Zinsen) und beim Gewinner des Wettrennens (der die anderen Höfe billig aufkauft) landet.
Die marxistischen Ökonomen haben daraus zwei Schlüsse gezogen:
- Es reicht nicht aus, ein System „von unten“ zu betrachten. Dann erliegt man oft Illusionen. Man muss es vielmehr auch „von oben“ in den Blick nehmen, eben als System.
- Es ist völlig unsinnig, innerhalb des Kapitalismus ein anderes Wirtschaften zu beginnen. Zum Beispiel die Gründung von Genossenschaften und andere Formen der Selbstorganisation waren für Marx Beispiele irregeleiteter Sozialromantik. Man müsse erst das ganze System umstürzen und dann mit Aussicht auf Erfolg Reformen in Gang setzen. /2/
Scrum hat mit Selbstausbeutung nichts zu tun
Scrum /3/ hat weder mit der ersten Verwendung des Begriffs Selbstausbeutung etwas zu tun noch mit der zweiten.
Das Entwicklungsteam wird bei Scrum nicht mit Drohungen und Verlockungen zur Überarbeit gepresst. Im Gegenteil. Das Ausmaß der Arbeit, die in einem Sprint erledigt werden kann, wird einzig und allein vom Team selbst festgelegt. /4/ Dies stellt einen Machtzuwachs für die Beschäftigten dar oder, wenn man die Worte des Kritikers verwenden will, ein Gewinn an wirklicher „Souveränität“.
Scrum hat auch nichts mit der zweiten Bedeutung von „Selbstausbeutung“ zu tun. Es gibt hier überhaupt keine Konkurrenz zwischen den Teams und deshalb auch keine Konkurrenzillusion. Das Team verhandelt über die zu erledigenden Aufgaben mit einer Person, dem Product Owner, und steht nicht einem abstrakten Markt gegenüber.
Die von den kritischen Kritikern verwendete Diskussionsfigur bezieht sich aber auf diese zweite Form der Selbstausbeutung, insofern sie die alte marxistische Weigerung wiederholt, aktiv andere Wirtschaftsformen zu entwickeln. Die linke Kritik hat es in ihrer langen Geschichte zu einer gewissen Perfektion dabei gebracht, ihre eigene praktische Passivität als theoretische Reinheit zu verkaufen. Damit wurde sie zum ewig nörgelnden Wurmfortsatz des ach so kritisierten „Systems“.
Scrum ist nicht unschuldig
Die Erfinder von Scrum, Jeff Sutherland und Ken Schwaber, sind aber nicht unschuldig daran, dass derartige Kritik hier und da aufschwappt. Sie haben das Ihrige dazu getan.
Die Argumente, warum Unternehmen Scrum einführen sollten, beruhen nämlich durchaus auf der Konkurrenzillusion. Insbesondere Sutherland (Ken Schwaber habe ich nicht gelesen) betont immer wieder, dass Scrum die Unternehmen befähige, schneller als ihre Konkurrenten auf neue Marktentwicklungen zu reagieren und neue attraktive Produkte zu entwickeln. Das Hauptziel von Scrum bestehe im Immer-Schneller-Werden, in der Effizienzsteigerung um 400% und mehr. Ziel von Scrum sei gerade nicht, dass es den Mitarbeitern besser gehe (das sei nur ein Kollateralnutzen).
Damit befördern sie natürlich die Illusion von Unternehmen, sie könnten mal eben Scrum einführen und dann entsprechende Effizienzgewinne einstreichen. Viele Firmen glauben, sie könnten Scrum so manipulativ einsetzen, wie die linken Kritiker es ihnen und uns vorwerfen. Nur klappt das in der Praxis dann nicht.
Aber auch wenn alle Unternehmen Scrum richtig eingeführt hätten: Ja, und dann? Dann wären alle 400% schneller. Und was soll daran besser sein?
Auf diese Frage haben Sutherland und Schwaber keine Antwort. Weil sie sie sich wohl nicht einmal stellen.
Anmerkungen
- /1/ Martin ist Mitbegründer der Initiative Wirtschaftsdemokratie (www.wirdemo.de) und mit mir zusammen Mitbegründer des "Forums Agile Verwaltung" (www.agile-verwaltung.org). Auf beiden Plattformen bloggt er regelmäßig.
- /2/ Das ist die Theorie von der Diktatur des Proletariats, die erst errichtet werden müsse, bevor ein anderes Handeln sich lohne. Aus der Diktatur des Proletariats gingen bekanntlich erst die Diktatoren des Proletariats und dann die Diktatur über alle, inclusive Proletariat, hervor.
- /3/ Ich verwende hier Scrum als Synonym für Agilität, weil es das meist verwendete agile Framework ist.
- /4/ Dies gerade im Sinne des ursprünglichen Toyota-Modells, wonach nicht nur Unterauslastung, sondern auch Überlastung Verschwendung darstellt.
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
AntwortenLöschenLieber Wolf,
AntwortenLöschenDanke, dass Du meine Fragestellung aufgegriffen hast und Deine Gedanken dazu niedergeschrieben hast.
Ich wurde auf den Begriff der Selbstausbeutung über das kleine Buch "Müdigkeitsgesellschaft" von Prof. Byung-Chul Han aufmerksam. Er stellt darin eine Theorie vor, die sich damit beschäftigt, warum immer mehr Menschen an Depression oder Burn-Out erkranken. Er arbeitet in seinem Buch heraus, dass diese Erkrankungen auf Selbstausbeutung verursacht seien. Während noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der Arbeiter über offenkundigen Gehorsamkeit angetrieben wurde und so deutlich erkenntlich war, dass er in der Fremdausbeutung war, wandelte sich das Bild nun zunehmend. Die alten Zügel wurden immer mehr gelockert. An ihre Stelle tritt nun eine andere, kaum wahrnehmbare strukturelle Gewalt, die des Können-dürfens, die am Ende auch nur wieder ins Müssen ausufert:
"Anstatt sich vor einer wie auch immer gearteten äußeren Macht zu fürchten, kollabiere der Mensch des 21. Jahrhunderts an der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten."
(ich schrieb dazu hier: http://wirdemo.de/2016/03/02/selbstausbeutung-das-neue-leiden-des-21-jahrhunderts/ )
In dem Zinsgeld-basierten System, in dem wir leben, ist der oberste Gedanke der Profit. D.h. wenn sich etwas ändert, dann in der Regel unter der Prämisse, das für den Kapitaleigner mehr herauskommen kann. Da ist es also nicht verwunderlich, wenn Jene, die etwas ändern sollen - und da steht der Eigner des Betriebes -, mit dem Köder des Profitierens gelockt werden, um am Ende auch was Gutes für die Menschen in ihren Hamsterrädern zu bewirken. Das gilt für die Abschaffung von Leibeigenschaften und Sklaverei genauso wie für das Verbot der Kinderarbeit oder die Verbesserung der Hygiene in unseren Großstädten durch die Kanalisation. Der wahre Grund für solch Humanitäre Leistungen war, dass die Profiteure mehr Gewinn witterten. Wer das durchschaut hat, wird also vorrangig die Wirtschaftlichkeit von Verbesserung für die Zuarbeitenden darstellen müssen, so dass sich in den Betrieben etwas ändert.
Ich sprach auch mit Andreas Zeuch über die Sicht von Han. Er hatte folgende Antwort parat:
Ja, die Gefahr des Ausbrennens ist tatsächlich gegeben. Denn wer Spaß an dem hat, was er tut, hängt sich so richtig rein. Und kann dann genau in diese Selbstausbeutungsfalle geraten. Hier ist es wichtig, dass die Menschen, die miteinander arbeiten, freundschaftlich auf den anderen achten: „Du, ich hab das Gefühl, dass Du Dich übernimmst, bitte pass auf Dich auf. Können wir etwas für Dich tun?“. Da wird Empathie als wichtige Führungs- und Kooperationskompetenz besonders deutlich. Allerdings möchte ich da auch noch kritisch anmerken: Nur weil es dieses Risiko gibt, ist das erstens kein Grund, die Arbeit weiterhin fremdbestimmt zu organisieren. Da gibt es einen fundamentalen Unterschied: In der Fremdbestimmung MUSS ich mich ausbeuten lassen, oder ich verliere meinen Job. In der selbstbestimmten Arbeit ist das eben nicht so. Zweitens habe ich noch von keinem Fall gehört, in dem sich Jemand selbst vor lauter Arbeitsfreude so ausgebeutet hat, dass er sich am Ende vor Verzweiflung umbringt – wie es umgekehrt tragischerweise bei massiv fremdbestimmten Unternehmen wie France Telecom oder Foxconn zumindest der Fall war. Also würde ich sagen: Lieber Prof. Han, lassen sie mal die Kirche im Dorf mit diesem Schreckensszenario. (siehe mein Interview mit ihm: http://wirdemo.de/2016/03/02/selbstausbeutung-das-neue-leiden-des-21-jahrhunderts/ )
Ich finde, das ist ein schöner Blick auf die weitere Befreiung in unserer Arbeitswelt.
Viele Grüße
Martin
Ich habe jetzt selbst noch etwas recherchiert. Sucht man nach "Agile Werte", stößt man auch auf einen Alois Summerer (www.as-team.net), der folgendes verkündet:
AntwortenLöschen"Die Termineinhaltung im Team und gegenüber dem Kunden (Sprintergebnisse) hat höchste Priorität. Wenn wegen einem Fehler länger gearbeitet werden muss, dann bleiben alle Teammitglieder am Arbeitsplatz, bis es eine Lösung gibt, auch wenn es 21.00 Uhr ist. Durch die weitreichende Selbstbestimmung entsteht eine starke Identifikation mit der Aufgabe, dem Team und dem Projekt." Diese Art von Scrumüll hat zwar mit Scrum nichts zu tun, trägt aber zur Befürchtug bei, es gebe eine "dunkle Seite der Agilität".