Direkt zum Hauptbereich

Software-Projekte sind Lernprojekte (Teil 2) - Über exponentielles Lernen

„Schluss mit dem vielen theoretischen Schwätzen! Jetzt die Ärmel hockrempeln und loslegen!“, ist das Motto mancher Projektverantwortlicher zu Projektbeginn. Nichts macht Projekte so langsam wie diese Parole. Will man Projekte beschleunigen, muss man am Anfang lang genug an der Begriffsklärung arbeiten. Der Aufwand wird später im Projektverlauf um ein Vielfaches zurückerstattet.

Im ersten Teil habe ich geschildert, wie Mitarbeiter der Stadtwerke Ludwigsberge a. Z. sich in einem Workshop Zeit genommen haben, Begriffe zu klären. Diese Begriffsarbeit hat sich gelohnt und uns sofort Zeit gespart.

Exponentielles Lernen

Die beiden anschließenden Workshops, in denen die Leute der Liegenschaftsverwaltung und der Öffentlichkeitsarbeit ihre konkreten Userstorys schrieben, gingen in einer unglaublichen Geschwindigkeit über die Bühne. Statt der angesetzten drei Stunden jeweils nur 2,0 bzw. sogar nur 1,5 Stunden! Die Teilnehmer schrieben ihre Userstorys ohne viel Nachfragen parallel. Das Glossar und vor allem die bildlichen Darstellungen im Mindmap hatten ihre Vorstellungskraft beflügelt. Das ist der Wert eines gemeinsamen Modells von der Fachdomäne. /1/ Sich vorzustellen, wie ein DMS geänderte, effizientere Abläufe unterstützen könnte, stellte offenbar überhaupt kein Problem dar.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, und ich konnte noch einen Zug früher nehmen.

Mein Erstaunen über diese Erfahrung hätte mich eigentlich erstaunen müssen. Denn theoretisch kannte ich das Phänomen schon länger. Es heißt „exponentielles Lernen“ und unterscheidet sich vom üblichen linearen Lernen wie in der Abbildung angedeutet.

Abbildung 1: Lernfortschritt beim exponentiellen Lernen

Der Ansatz des exponentiellen Lernens unterscheidet sich ganz grundsätzlich vom herkömmlichen Lernen, wie wir es aus unserer Schulzeit gewohnt sind. Beim traditionellen Schullernen wird der Lernstoff in kleine Happen unterteilt, gerade groß genug, damit ein Schüler einen pro Tag verdauen kann. Jeden Tag ein Happen mehr.

Das exponentielle Lernen ist aus den Pisa-Studien bekannt, und zwar aufgrund der hervorstechenden Ergebnisse der finnischen Schüler in Mathematik und Physik. Dort wird nicht die Häppchenpädagogik praktiziert, sondern am Anfang eines neuen Themas wird besonders langsam und gründlich vorgegangen. Es werden Bilder entwickelt, gerade bei abstrakten mathematischen und physikalischen Themen. Die Bilder helfen den Schülern zu einem nachhaltigen Verständnis des Stoffes. Sie haben es nicht nötig, Formeln zu pauken. Sie können sich die Formeln ohne Probleme merken oder sie sogar bei Bedarf für sich neu ableiten. Denn sie haben verstanden. /2, 3/

Genau das Gleiche war in meinem Workshop passiert, ohne dass ich es aktiv gesteuert hätte. Die Teilnehmer selbst hatten sich nicht damit abgefunden, mit mechanischem Häppchenwissen abgespeist zu werden. Sie wollten ein gründliches Verständnis der Fundamentalbegriffe, um so wirklich nachhaltige Verbesserungen im Projekt zu erreichen.

Ich selbst habe daraus viel für agile Projekte gelernt. Gründliche Begriffsklärung am Anfang passt viel besser zur Sprintlogik als kurzatmige und oberflächliche Beschleunigung. Im Zug hatte ich Zeit, darüber nachzudenken.

Anmerkungen

  • /1/ Wolf Steinbrecher: Agile Organisationsentwicklung: Ein Domänenmodell hält Projekte auf Kurs, Teamworkblog, erschienen am 17. August 2015, abrufbar unter http://www.teamworkblog.de/2015/08/agile-organisationsentwicklung-ein.html
  • /2/ Siehe dazu z. B. den Vortrag Prof. Prof. h.c. Dr. phil. Dipl.-Ing. Karl Hayo Siemsen, Dr. Joachim Schwarz, Dr. Hayo Siemsen: „Auf den Spuren von Gestalt und Begriff im Hochschulunterricht Mathematik“, 2013, unveröffentlichtes Manuskript
  • /3/ Kleiner Einschub: Exponentielles Lernen ist trotz seiner wissenschaftlich nachgewiesenen Erfolge nicht sehr beliebt. „Wir müssen schnell machen, wir müssen den Stoff durchkriegen“, heißt es. Außerdem wird beim expo-Lernen die Spreizung zwischen guten und schlechten Schülern viel geringer. Die Sortierfunktion der Schule wird behindert.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Und jetzt alle zusammen! Teams - OneNote - Aufgaben - To Do

Ein Meeting jagt das nächste. Sich da nicht zu verzetteln, wird  im Zeitalter virtueller Besprechungen  noch anspruchsvoller. Kein Wunder, dass  im Zusammenhang mit Microsoft 365  zwei Fragen besonders häufig auftauchen: Wie dokumentiert man Besprechungen gut? Was hilft, offene Aufgaben nachzuhalten? Eine gute Lösung: Das in MS Teams integrierte OneNote-Notizbuch als gemeinsame Plattform auch für den Aufgabenüberblick zu nutzen.

Outlook-Aufgabenliste: bitte nicht die Aufgaben des ganzen Teams!

Am Tag der Arbeit kommt eine Lösung, nach der ich schon so oft gefragt wurde: Wie schaffe ich es, dass meine Outlook-Aufgabenliste nur meine eigenen Aufgaben anzeigt und nicht auch die E-Mails, die meine Kollegen gekennzeichnet haben oder Aufgaben, die einfach in einem gemeinsamen Postfach stehen?

Kategorien in Outlook - für das Team nutzen

Kennen Sie die Kategorien in Outlook? Nutzen Sie diese? Wenn ja wofür? Wenn ich diese Fragen im Seminar stelle, sehe ich oft hochgezogene Augenbrauen. Kaum jemand weiß, was man eigentlich mit diesen Kategorien machen kann und wofür sie nützlich sind. Dieser Blogartikel stellt sie Ihnen vor.

Das Ubongo Flow Game

Spiele bieten eine gute Gelegenheit, zeitliche Erfahrungen zu verdichten und gemeinsam zu lernen. Karl Scotland und Sallyann Freudenberg haben im Mai 2014 das Lego Flow Game veröffentlicht. Wir haben die Spielidee übernommen, aber das Spielmaterial gewechselt. Statt Legosteinen benutzen wir Material aus Grzegorz Rejchtmans Ubongo-Spiel. Hier präsentieren wir die Anleitung für das Ubongo Flow Game.

E-Mail-Vorlagen gemeinsam nutzen (Outlook)

Mittlerweile wird praktisch alle Routine-Korrespondenz in Outlook erledigt. Was liegt da näher, als ein gutes Set von Vorlagen zu erstellen und diese gemeinsam in Team zu nutzen? Leider hat Microsoft vor diesen – an sich simplen – Wunsch einige Hürden gebaut.

Protokolle in OneNote - neue Ideen für's neue Jahr

Protokolliert Ihr Team seine Besprechungen in OneNote? Das geht einfach, schnell ist teamfähig und hat eine exzellente Suchfunktion. Die beliebte Fragen "Wann haben wir eigentlich beschlossen, dass..." ist so schnell beantwortet. Darum wird OneNote an dieser Stelle immer beliebter. In meinen Seminaren dazu sind gute Ideen entstanden, die ich hier weitergeben will.

Beispiel für eine Partyplanung mit Scrum

Wer sich neu mit Scrum beschäftigt, ist vielleicht überwältigt von den ganzen Fachbegriffen. Dann sieht man vielleicht gar nicht, wie einfach die einzelnen Elemente von Scrum sind. Deshalb hier ein einfaches Beispiel für die Vorbereitung einer Party mit Hilfe von Scrum.

Optimieren wir uns zu Tode?

Als jemand, der mehr als fünfzehn Jahre in der Welt des IT-Service-Management-Prozessmanagements verbracht hat, musste ich das Buch von Guther Dueck aus dem Jahr 2020 Heute schon einen Prozess optimiert? Das Management frisst seine Mitarbeiter lesen/1/. Typisch für ihn bietet Dueck uns einen provokanten, teils vernichtenden, jedoch humorvoll geschriebener Weckruf. Er behauptet, dass das moderne Management von “Pacesetters” und “Controllers” dominiert wird. Sie sind so sehr auf Optimierung und Profit fokussiert, dass sie den Willen zu Innovation und Unternehmertum abtöten. Jedoch ohne mehr Kreativität und Tatkraft werden wir die Herausforderungen der Digitalisierung, des Klimawandels etc. nicht bewältigen. Ein agiles Mindset kann helfen.

Projekt-Kick Off – Wie Du einen Auftakt gestaltest, der alle Kräfte freisetzt!

Ein typisches Szenario:  Zum Auftakt wird das neue Projekt vom Verantwortlichen vorgestellt. Die vorbereitete PowerPoint-Präsentation zeigt in bunten Bildern, welche Traumschlösser vom Team umgesetzt werden sollen. Doch statt der erhofften Aufbruchsstimmung macht sich Widerstand breit. Diskussionen kommen auf. Das Kickoff-Meeting wird zur Bühne der Lauten. Miese Stimmung macht sich breit. Die Lauten werden lauter, die Stillen werden leiser.  Kommt Dir das bekannt vor? Häufig werde ich gefragt: "Maria - wie sieht das in der Praxis aus? Wie gestalte ich als Moderator ein strukturiertes Meeting?". In diesem Artikel stelle ich Dir EINEN alternativen Ablauf einer Kickoff-Veranstaltung in fünf Schritten vor. Ein Gestaltungsvorschlag, der Impulse und Mut zum Experimentieren neuer Formate bieten soll.  Was es ermöglicht: Förderung des Projekterfolg Frühes gemeinsames Verständnis des Projekts Missverständnissen wird vorgebeugt Es werden hilfreich Hinweise sichtbar, WIE d

Agiles Mindset – Gibt es das überhaupt? Eine wissenschaftliche Perspektive

Es ist in aller Munde: Das Agile Mindset. Es wird als wichtiger Erfolgsfaktor und gleichzeitig riesige Hürde und Herausforderung in agilen Transformationsvorhaben beschrieben. Der ein und andere hat verbunden mit einem gescheiterten agilen Vorhaben vermutlich schon mal gehört „Die hatten einfach nicht das richtige Mindset“. Doch was ist dieses agile Mindset? Gibt es das überhaupt?