Menschen, die in ihren
Organisationen etwas bewegen wollen, müssen sich oft mit Widerstand gegen
Veränderungen auseinandersetzen. Ihnen würden Begriffe nützen, die diese
Entwicklungshindernisse beschreiben und erklären. Stiftet der Begriff
„passiv-aggressive Organisation“ diesen Nutzen?
Kürzlich war ich mit einem Beraterkollegen bei einem Kunden,
bei dem wir einen Workshop mit einer Abteilung veranstalteten. Wir beide
empfanden den Workshop als zäh und schwierig. Einige der Teilnehmer waren mit
den aktuellen Zuständen in ihren Abläufen unzufrieden, Änderungen wollten sie
aber auch keine (zumindest keine realisierbaren). Auf der Heimfahrt brachte
dann der Kollege den Begriff "aggressiv-passive Organisationen" ins
Spiel.Das Wort weckte sofort mein Interesse und gleichzeitig einen unterschwelligen Zweifel. Die verschiedenen Formen von Beharrungskräften in Organisationen interessieren mich seit langem. Nicht nur in meiner jetzigen Funktion als externer Berater, sondern schon, als ich noch Teamleiter in einer großen Behörde war. Aber die Bezeichnung hatte auch etwas Glattes, Schnelles. Ich wollte mehr darüber erfahren.
Gibt es passiv-aggressive Menschen?
Im Internet suchte ich nach dem Begriff. Unter einer „passiv-aggressiven
Persönlichkeitsstörung“ verstehe man ein Trotzverhalten, belehrte mich
Wikipedia /1/. „Charakteristisch für diese Persönlichkeitsstörung ist die
Widerständigkeit gegenüber Anforderungen mit einer durchgängig
negativistischen, angstgetönten und abwertenden Grundhaltung,“ erfuhr ich
weiter. In einem Artikel aus den USA wurde die passiv-aggressive
Persönlichkeitsstörung als eine Haltung von Menschen an ihrem Arbeitsplatz
beschrieben, und zwar als “absichtlich schlechte Leistung“ (intentional inefficiency)
/2/. Zugesagte Aufgaben, auf deren Erledigung andere Kollegen warteten, würden
nicht oder nach dem versprochenen Termin erbracht, so dass sie nicht mehr von
Nutzen seien. Und dann würden die passiv-aggressiven Menschen noch lahme Entschuldigungen hinterher schieben: „Sie haben die Statistik für die Sitzung um 9 gebraucht? Ich hatte gedacht, die ist erst um 12.“ Der passiv-aggressiven Phantasie beim Erfinden derart versteckter „Sabotage“ seien keine Grenzen gesetzt.
Haben Sie solche Leute in Ihrem Team oder in Ihrer weiteren Arbeitsumgebung? Ich nicht, und ich kann mich auch an keinen Fall erinnern. Es machte mich stutzig, dass dieser Menschentyp so häufig sein und große Teile der amerikanischen Wirtschaft lähmen sollte. /3/ Vielleicht gibt es gar keine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, sondern eine „Mitmenschen-Diagnostizier-Störung“ bei allen, die ihre Kollegen so einschätzen? Vielleicht ist ja gesund krank und krank gesund?
Die Entdeckung der „passiv-aggressiven
Organisation“
Vor einigen Jahren wurde nun diese psychologische
Bezeichnung umgemünzt auf Organisationen. Veröffentlicht in der angesehenen
Harvard Business Review veröffentlichten drei Autoren einen Artikel unter dem
Titel „The Passive-Aggressive Organization“ /4/. Alle drei sind beschäftigt in
der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton, und wollten sowohl die Früchte
ihrer jahrelangen Beratertätigkeit als auch die Ergebnisse einer
Internetbefragung unter 30.000 Teilnehmern vorstellen.Den Werdegang ihrer Entdeckung, dass es so etwas wie passiv-aggressive Organisationen (im folgenden: PAO) überhaupt gibt, schildern sie folgendermaßen: Im Laufe ihrer Beratertätigkeit hätten sie viele Organisationen kennengelernt und versucht, diese in „Muster“ einzuteilen. Um das Zustandekommen dieser Muster zu erklären, hätten sie vorausgesetzt („postulated“), dass es vier Faktoren gebe, die den „p.-a. Charakter“ einer Organisation bestimmen: 1. Dysfunktionale Anreizsysteme („incentives and motivators“); 2. Unklare Entscheidungsbefugnisse; 3. Falscher Informationsfluss; 4. unklare Struktur („misleading structure“).
Soweit hörte es sich noch nach normalem Beraterlatein an. Denn womit beschäftigen sich Berater in Unternehmen? Eben! Mit Mitarbeitermotivation (ein ewiges Thema), mit Rollenklärung, mit Kommunikation und mit Aufbauorganisation. Und PAO sind dann einfach Organisationen, die einen Beratungsbedarf haben (aber es noch nicht wissen oder es nicht wahrhaben wollen – weil sie p und a sind).
Jetzt aber kam die Umfrage dazu. Sie sollte die wissenschaftliche Basis liefern für eine Konstruktion, die bis zu diesem Punkt einfach in drei Beraterköpfen entstanden war. In der Online-Umfrage wurden Fragen gestellt wie die folgenden:
- Bei uns hat jede/r eine präzise Vorstellung davon, für welche Entscheidungen/Aktivitäten er oder sie verantwortlich ist.
- Beschäftigte in der Linie haben normalerweise die Informationen, die sie benötigen, um die weiterreichenden Konsequenzen ihrer Tagesentscheidungen zu verstehen.
- Der Prozess der individuellen Leistungsbeurteilung unterscheidet zwischen leistungsstarken, mittleren und leistungsschwachen Mitarbeitern.
- Usw.
Dem Leser bleibt unklar, warum bestimmte Kombinationen von Mitarbeiterkritiken mit bestimmten „postulierten“ Organisationsmustern übereinstimmen sollen. Welche Antwortenkombination eines Mitarbeiters führte zur statistischen Ferndiagnose „p.-a. Organisation“? Das Vorgehen würde in jedem Statistik-Einführungskurs ein glattes „Ungenügend“ bekommen. Es entspricht methodisch unseren Steinzeitvorfahren, die Muster in der verwirrenden Vielfalt des Sternenhimmels suchten: Es gibt Bären und es gibt Sternkonstellationen – schau mal, dort ist ein Sternbild Bär am Himmel!
Überhaupt nicht klar ist, wie die subjektiven Antworten von Mitarbeitern mit dem „Charakter“ ihres Unternehmens zusammenhängen. Wenn ein Mitarbeiter ein euphorisches Urteil über den Zustand eines Unternehmens abgibt – muss das stimmen? Kann das nicht gerade ein Zeichen dafür sein, dass dieser Mitarbeiter jegliche Veränderung ablehnt und deshalb alles über den grünen Klee lobt? Oder ist die Klage über „ungerechte Leistungsbeurteilung“ notwendig ein Symptom für ausgebremste Initiative oder manchmal eher die Entschuldigung mangelnden Engagements („ es lohnt sich ja doch nicht, denn gelobt werden immer die falschen, nämlich nicht ich.“)?
Beraters Leid und Beraters Drohung
Es ist ein Ärger mit den kranken PAO, die kein Geld für die
Superberater von Booz Allen Hamilton ausgeben wollen. Vielleicht hilft eine
zarte Drohung? „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die erkrankten Elemente
einer PAO die gesunden Elemente erdrücken und die Organisation in die
finanzielle Bedrängnis bringen.“ Begleitet vom Hinweis, dass PAO’s in der Regel
sich nicht mehr selber heilen können, sondern von Leuten außerhalb der
Organisation Hilfe benötigen. /6/Was zu beweisen war. Und dafür hat Booz Allen Hamilton 30.000 Menschen angestiftet, ihre Zeit zu opfern und einen Fragebogen im Internet auszufüllen. Pfui.
Und nun?
Es ist eine große Versuchung, Probleme dadurch scheinbar zu
lösen, indem man dem problematischen Gegenstand ein Etikett aufklebt. Aber
damit ist nichts geklärt, im Gegenteil: das genaue Hinschauen auf die Problemdetails
wird vorzeitig abgeblockt. Wir sehen vor Wald die einzelnen Bäume nicht mehr.Bezüglich des Ausgangsproblems bin ich so klug wie zuvor. Welche genauen Ursachen im Team führen zu einem Verhalten, wie ich es beschrieben habe, und zu meinem Verhalten, es als Widerstand zu bezeichnen? Mit dem Thema werde ich mich weiter beschäftigen müssen.
/1/ http://de.wikipedia.org/wiki/Passiv-aggressive_Pers%C3%B6nlichkeitsst%C3%B6rung,
Abfrage vom 2012-05-09
/3/ Wikipedia vermerkt, dass „es … außerhalb der USA recht
unüblich (sei), diese Störung zu diagnostizieren.“ Die Diagnose sei nämlich in
der amerikanischen Armee im 2. Weltkrieg entstanden und damals auf Soldaten
gemünzt gewesen, die „den Fronteinsatz verweigerten.“ – Nun kann eine
Befehlsverweigerung im Krieg gegen Nazideutschland moralisch diskutabel sein –
aber krankhaft erscheint mir diese Haltung keinesfalls, sondern durch
und durch nachvollziehbar und „gesund“./4/ Gary L. Neilson, Bruce A. Pasternack und Karen E. Van Nuys: „The Passive-Aggressive Organization”, Harvard Business Review, October 2005, http://hbr.org/2005/10/the-passive-aggressive-organization/ar/1
/5/ Eine kleine Abschweifung sei erlaubt. Warum sie die Unternehmen in sieben Gruppen einteilen und nicht in drei oder 777, erklären die Autoren nicht. Sie haben die Zahl aber sinnvoll gewählt. Menschen lieben Klassifikationen, weil sie ihnen (Deutungs-)Macht in der komplexen Welt versprechen. Damit die Klassifikation diesem Ziel gerecht wird, sollte sie zwischen sechs und acht Kategorien umfassen. Das entspricht dem optimalen Überblick unseres limbischen Systems, und darauf kommt es in diesem Zusammenhang an und nicht auf Kinkerlitzchen wie Wahrheit. Wenn Sie Berater sind und eine Klassifikation erfinden wollen, dann sorgen Sie für die Zahl sieben.
/6/ Der erste beleidigte Berater war übrigens der Prophet
Jona, der der Stadt Ninive den Untergang weissagte. Sie aber tat ihm den
Gefallen nicht.
Lieber Wolf, diesen Beitrag finde ich sehr gut. Ich falle zu schnell auf solche - mit vielen Zahlen geschmückten - Behauptungen rein. Man muss sich die Details einmal genauer ansehen und sich überlegen, wem ein solcher Vergleich nützt ("Cui bono?"). Danke für diesen erhellenden Blick.
AntwortenLöschenIch lese solche Artikel wie oben beschrieben trotzdem gern. Nicht, weil ich Menschen in Schubladen stecken will, sondern um für mich selbst meine Modelle über Teams und Unternehmen zu testen und zu ändern. Ich frage mich, was die Autoren sehen und wahrnehmen, um zu diesem oder jenem Schluss zu kommen. Es hilft mir meine Wahrnehmung zu schärfen. Wie ich das beurteile, was ich wahrnehme, darf aber nicht vom Raster solcher Artikel abhängen. Selbst denken ist besser.
In mehr als 90% dieser Artikel geht es aber nur darum, Menschen einen Stempel aufzudrücken und eine Linie zwischen "jenen" und "uns" zu ziehen. Die Gruppe, die meint, im Recht zu sein, überlegt sich dann, was "jene" tun müssen, um (wieder) zur richtigen Gruppe zu gehören. Eine gute Grundlage für langanhaltende Konflikte.
Gut zu wissen, dass das nicht funktioniert. Viele machen bei dem Spiel mit, weil sie nicht wissen, wie es besser geht. Gut, dass wir es wissen.
LG, Jan
Lieber Wolf,
AntwortenLöschenIch habe den Text gelesen und bin natürlich überaus dankbar über Deine Schlussfolgerungen. Denn die Frage ist für mich nicht, dass es dieses Phänomen gibt (denn wir wissen, dass es Blockaden gibt), sondern warum es hier und dort gehäuft auftritt: Was steckt im individuellen Fall dahinter...
Bei mir steckt natürlich direkt wieder die mangelnde Wertschätzung und Anerkennung dahinter bzw. eine Führung, die vielleicht den einen oder anderen Mitarbeiter zu diesem unerwünschten Verhalten zwingt.
Das kann ja unter Umständen das äußere Umfeld in einer Organisation sein und zudem ein sehr individuelles Thema des MA, der sich "passiv-aggressiv verhält". Vielleicht wird er auch nur so wahrgenommen. Es kann ja auch ein Hilfeschrei sein, dass er mit einem tiefen Trauma in Kontakt kommt. Oder dass der MA schon viel weitsichtiger ist, dass er viele Anweisungen und Veränderungen als nicht sinnvoll erachtet. Oder er spürt auch, dass die Externen oder die Führungskräfte Eliten bilden, denen es nur noch um Veränderung um der Veränderung willen geht...
Das alles ist so vielschichtig, dass ich es wirklich sehr befremdlich empfinde, schon wieder ein Krankheitsbild zu kreieren, so wie es auch schon mit dem Burnout Symptom getan wurde! Es wird nicht mehr individuell hingeschaut, sondern von oben herab. Wem schaden diese „passiv-aggressiven“ Menschen am meisten? Denen die verändern wollen oder müssen! Ist vielleicht der Veränderungswille oder -drang auch eine Krankheit?
Womit verdienen Unternehmensberater ihr Geld? Da sitzt wirklich der Knackpunkt: Wer stellt diese für mich an den Haaren vorbeigezogene Diagnose... Wie unsere Beratungsprojekte ja auch eindrucksvoll gezeigt haben, werden Trotzreaktionen durch sehr unterschiedliche Komponenten herbeigeführt. Und diese gilt es sich anzuschauen und dabei den Menschen, der trotzt, als sehr wichtig und besonders zu sehen. Denn hier liegt ja auch der Schlüssel, um die richtigen Steine ins Rollen zu bringen!
Die Abwertung und Verallgemeinerung ist hier die Gefahr und die negative Bewertung. Hier ist niemand mehr neutral und nimmt den Auftrag an, genau hinzuschauen und vielleicht auch sein eigenes Verhalten zu überdenken: Gehen denn auch alle im Sinne der MA und der Organisation vor?
Wenn Du es nun mal systemisch betrachtest, dann zwängt sich die Frage auf: "Wer fühlt das System denn stärker - der von Außen oder der von Innen?" Sind die Motive für eine Veränderung auch real? Wer bestimmt das Tempo? Warum werden die Menschen, die sich nicht nach der Norm verhalten, als kranke Spinner abgetan, anstatt sie als die treibenden Kräfte zu erkennen?
Ich könnte immer so weiter machen und spüre ganz genau, dass Du bei mir ins Schwarze getroffen hast... Es ist sooooooo unglaublich wichtig, dass wir wegkommen von diesen dunklen Bewertungen und uns öffnen für das große Ganze!"
Von Herzen
Annika
Hallo Wolf,
AntwortenLöschenmeine Erfahrungen zum Thema Widerstand gegen Veränderungen als Führungskraft sind:
wir können nur mit dem einzelnen Mitarbeiter arbeiten und jeden einzelnen ins Boot holen, wenn wir ihnen Struktur bieten können. Dabei ist es völlig egal, ob die MA aggressiv sind oder nicht.
wir müssen die vermeintlichen Widerstände gegen Veränderungen abbauen oder diese im besten Falle gar nicht aufkommen lassen --> schön ist es, wenn es uns gelingt, dass der "Funken überspringt" und die MA von sich aus die Motivation entwickeln, den prognostizierten Nutzen auch zu verwirklichen! (Sie müssen die Champions League gewinnen wollen und daran glauben, dass sie es schaffen können, dann brauchen sie niemanden, der sie motiviert :-))
Dazu müssen wir:
den MA den Nutzen für sich selbst, das Team und "das Ganze" verdeutlichen (ich denke hier an unser "altes" Bild mit der Waage...)
dem MA den Sinn der Maßnahmen in der entsprechenden Kombination, Reihenfolge und Ausprägung verdeutlichen (Plausibilität und Transparenz!)
den Veränderungsprozess gezielt einläuten --> der MA muss nicht nur während, sondern auch für den Veränderungsprozess entsprechend geschult werden und der Prozess muss ordentlich eingeläutet werden
den Veränderungsprozess in seiner Umsetzung ordentlich managen, dazu gehören:
Auswahl der richtigen MA --> natürlich auch -oder sogar gerade- DIE MA, die dem Projekt kritisch gegenüber stehen - das sind oft die Menschen mit viel Erfahrung und ebenso viel Wissen, die somit in der Lage sind, die Risiken solcher Veränderungsprozesse gut abzuschätzen --> kann man nutzen
Zugestehen der richtigen Ressourcen im richtigen Umfang --> die entsprechenden MA müssen vom operativen Tagesgeschäft entsprechend "freigeschaufelt" werden
Kombination von Top-down und Bottom-up --> die entsprechenden Entscheidungen von oben treffen, absegnen und unterstützen (!) lassen, die eigentliche Umsetzung dann aber von unten durchführen und mit der Unterstützung von oben begleiten
die Geschäftsführung in die Pflicht nehmen --> sie muss ihre Führungsverantwortung übernehmen und diese auch erfüllen
dazu gehört: strategische Entscheidungen über Prozessveränderungen werden nicht ins Team delegiert!!! Die Teams dürfen nicht überfordert werden, daraus entsteht auch wieder Widerstand
einen vernünftigen Zeitplan aufstellen, der mit realistischen Zielsetzungen arbeitet
die "Erlaubnis" kommunizieren, Termine zu verlängern!
All diese Punkte und meine Gedanken zu dem Artikel bringen mich immer wieder zu der Erkenntnis, dass wir weiter an unserem Konzept arbeiten und feilen müssen! Wir können keine Struktur verkaufen, ohne selbst eine zu haben
Klaus
Hallo Wolf,
AntwortenLöschenden 3 Harvard-Schnöseln hast du es aber gegeben! Deine unehrfürchtige Polemik ist ganz unterhaltsam. Natlürlich besticht dein konkreter, lebendiger, bildhafter Sprachstil.
Ansonsten gibt es tatsächlich negativistisch programmierte, angstgetönte, abwertende Menschen oder einfach notorisch unzufriedene, depressive Menschen, die gauben, sich gegen alles wehren zu müssen, weil sie sich sehr schnell bedroht fühlen und sich insgeheim gerne auch rächen (die Rache des kleinen Mannes). Abgesehen davon, dass depressiv- gereizte Menschen sehr anstengend sein können, d. h. dass sie viel Energie rauben, können Gefühle, bes. Angstgefühle ansteckend sein und je nach Anzahl der mitschwingenden Mitarbeiter oder sogar Vorgesetzten kann sich dadurch auch eine emotionale Blockadeatmosphäre verbreiten (ein massenpsychologisches Phänomen). Von Bedeutung ist dabei sicher die erlebte kollegiale Solidarität bzw. die (angenommene) bedrohliche kollegiale Konnkurrenz.
Organisationscharakteristika, wie die von den 3 "falschen Fuffzigern" genannten:
1. Dysfunktionale Anreizsysteme,
2. unklare Entscheidungsbefugnisse,
3. falscher Indormationsfluss,
4. unklare Struktur
und vielleicht unter 1. oder 3. zu subsummieren: Mangelhafte Motivation, Kommunikation und Rückmeldung über das Geleistete, sind sicher von Bedeutung.
Wenn beide Aspekte - ängstlich-depressiv-gereizte Persönlichkeiten und ungünstige Organisationscharakteristika - zusammenkommen, wird sicher viel an Produktivität blockiert.
Und das zu ändern, halte ich für extrem schwierig und ohne Anstoß von außen (Neue Führung, neue Philosophie, neue positiv gestimmte Arbeitskräfte, die sozusagen positiv anstecken, Verbesserung der Organisationsstruktur, evtl. auch Hilfe durch Berater, die insbes. die Kommunikation fördern und fordern) für kaum denkbar.
Bei deiner Kritik an den 3 Harvard-Kombattanten für deine Profession fehlt mir die sachliche Analyse. So hänge ich mit meinen Fragen in der Luft:
- Wurden nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Leitenden gefragt?
- Gab es Korrelationen zwischen den beiden Gruppen?
- Was wurde daraus geschlossen?
- Gab es vor den abschließenen Befragungen Voruntersuchungen mit Hypothesenbildung und entsprechenden Definitionen, die z. B. die Zuordnungen zu den 7 Funktionsgruppen von Firmen plausibel machten?
- Wie wurden die Unmotivierten und die Menschen mit negativer Sicht der eigenen Organisation erfasst, erkannt und von der Beurteilung in gesunde und kranke Organisationen ausgeschlossen?
- Nach welchen Kriterien wurden die Organisationen dem entsprechenden Krankheits- bzw. Gesundheitsgrad zugeordnet?
- Gab es größere Probleme bei Organisationen, deren Sinn für die Mitarbeiter zweifelhaft war? Je nach Wertehierarchie kann Widerstand und Skepsis sinnvoll sein - ich glaube, du hast es selbst auch erwähnt.
Ich nehme doch an, dass diese 3 Kombattanten nicht dussliger waren oder sind als sonst deine Kollegen und Vorgesetzten.
Ceterum censeo: Vielleicht hast du gegen deine Absicht mit der Betrachtung der psychologischen Organisationscharakteristika ein Tor aufgestoßen. Denn dass Systeme von großer Bedeutung sind, kann man abei totalitären Regimen sehen - z. B. wer war mit welcher Motivation und welche Gruppe war mit welcher Stimmung, Überzeugung am Vernichtungsfeldzug im Osten beteiligt. (s. Welser).
Oder wer hat in der DDR mit welcher Motivation oder aus Angst dem MfS gedient? Paranoide Aengste sind vielleicht realistisch bei einem Denunziationsszstem, das mit der Angst vor Bestrafung Karriereknick, finanzielle Einbussen, Schmerzen, Haft, sozialer Isolierung usw. arbeitet.
Herzlicher Gruß
Albert hartmann
Lieber Albert,
Löschenvielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar.
Du wirfst einige Fragen auf, die mit meinem Artikel überhaupt nicht negieren wollte, ganz im Gegenteil: die Frage nach den Charakteristika von Organisationen wie auch natürlich die nach den Besonderheiten, durch die Personen und Teammitglieder sich unterscheiden.
Meine Argumentation war ganz beschränkt auf den konkreten Fall dieser Begriffsbildung "passiv-aggressiv" und ihrer Anwendung. Bei Personen erscheint mir dieser Begriff nicht schlüssig, weil das Verhalten eines Drückebergers ("passiv") mit dem Urteil "Sabotage" ("aggressiv") belegt wird und dieses aus einem militärischen Hintergrund (sich drücken vor dem Fronteinsatz im Krieg). Jargon von Generälen oder Militärstaatsanwälten.
Und bezüglich der Anwendung auf Organisationen sind alle deine Validierungskriterien mit "nicht vorhanden" zu beantworten: Im Artikel der drei Berater gibt es überhaupt keine Hinweise darauf, dass es irgendeine Qualitätsprüfung der Antworten in den Fragebögen gab. Es wurde einfach ein Fragebogen ins Internet gestellt, den 30.000 Menschen ausfüllten, und nach einem offensichtlich willkürlichen Verfahren wurden Fragebögen mit einem bestimmten Antwortmuster einer von sieben Unternehmenskategorien zugeordnet. Es fanden auch keine validierenden Interviews statt, weder mit Vorgesetzten noch mit anderen. Es wird nicht einmal eindeutig klar, ob Fragebögen, die sich aufs gleiche Unternehmen bezogen, zusammengefasst und auf Widersprüche analysiert wurden.
Aber die Autoren fühlen sich berechtigt, auf die betroffenen Unternehmen Begriffe wie "gesund" und "krank" anzuwenden. Und darauf bezieht sich der einzige grundsätzliche Kritikpunkt von meiner Seite: Ich halte es für fragwürdig, solche Begriffe, die beim Menschen (vielleicht!) Sinn machen mögen, auf Unternehmen anzuwenden. Das Bild von der "kranken" oder "gesunden" Organisation ist verführerisch einfach. Und wird gefährlich, weil es uns die wirkliche Arbeit zu ersparen scheint: Genauer hinzuschauen, was wirklich los ist.
Wolf