Direkt zum Hauptbereich

Individuelle Leistung im Team lässt sich nicht messen

Anreizsysteme beruhen in der Regel auf der Vorstellung, man könne 1. die Leistung eines einzelnen Mitarbeiters messen und 2. ihn zu mehr Leistung anregen, indem man das  Messergebnis mit seinem Gehalt (oder anderen Vergünstigungen) verknüpft. Schon ein Blick in den Sport zeigt, dass diese Vorstellung bestenfalls keine Wirkung zeitigt, eventuell auch zu Leistungsminderung führt.

Ein Staffellauf

Bei der Leichtathletik-WM 2003 traten im Schlusswettkampf der 400 m-Staffel der Frauen noch acht Teams an. Zwei davon waren Favoriten für den Titelgewinn: die amerikanische und die französische Mannschaft. Und auch zwischen diesen beiden Staffeln schien die Rangfolge klar: auf der Grundlage der jeweiligen Einzelleistungen übertraf die Laufgeschwindigkeit jeder Amerikanerin die jeder Französin. Rechnerisch wäre die US-Staffel 6,4 m vor der Frankreich-Staffel im Ziel gewesen.

Trotzdem gewann die französische Mannschaft. Woran lag es? Im Staffellauf besteht die Leistung jeder Einzelnen nicht nur in der individuellen Geschwindigkeit – die ist auch sehr wichtig -, sondern auch in der geschickten Übergabe des Stabes. Dafür müssen die Läuferinnen Energie in ihre Arme ableiten, damit sie den Stab zielgerichtet an die nächste Teamgefährtin übergeben, und auch an ihre Stimme, um zu kommunizieren. Wer die gesamte Energie auf das schnelle Laufen konzentriert, lässt das Team zurückfallen.


Turn- und Sporttreffen der Jugend in Leipzig 1957, 3 x 100 m Staffel /2/
Christine Arron, die die Schlussstrecke im französischen Team lief, erklärte später in einem Interview mit Yves Morieux: Der Sieg sei durch außergewöhnliche Kooperation erreicht worden. Und Yves Morieux fasste seine Schlussfolgerungen zusammen:
„In dieser Sportart gibt es keine Methode, die individuelle Leistung präzise zu messen. War eine Läuferin individuell besonders schnell gelaufen? Oder war ihre außergewöhnliche Leistung die Folge der Stabübergabe durch die Läuferin davor, die besonders reibungslos erfolgte? Keine Messmethode wird eine Antwort liefern. Die Energie, die eine Läuferin mit ihrem Arm bei der Stabübergabe überträgt, wirkt sich auf die Beingeschwindigkeit der nächsten Läuferin aus – aber um welchen Betrag?“ /1/
Wer andere Teamsportarten beobachtet, wie zum Beispiel in der gerade stattgefundenen Fußball-EM, wird ähnliche Beispiele finden.

Der Einzelne und sein Beitrag im Team

Aus meiner Sicht hat das einige Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir die Leistungen unserer Teamkollegen betrachten und bewerten können:
  1. Die Leistung eines Teams als Ganzes ist sehr oft messbar: man ist schnell oder langsam, man gewinnt oder verliert usw.
  2. Der Beitrag, den der Einzelne zu diesem Teamergebnis leistet, ist teilweise messbar (individuelle Geschwindigkeit) und teilweise nicht messbar (Kooperationsleistung).
  3. Eine Organisation, die sich trotzdem dafür entscheidet, die individuelle Leistung zu messen, wertet damit gleichzeitig die Kooperationsleistung ab. Ein gemessener Prozess ist nicht mehr der gleiche wie ein nicht gemessener Prozess: er verändert sich./3/ In diesem Falle zuungunsten des Teamgeistes.
  4. Das bedeutet nicht, dass die individuelle Leistung nicht bewertet werden könnte. Aber diese Bewertung kann nicht Resultat einer Messung sein, sondern die eines Urteils. Jedes Team kann die Leistung jedes Teammitglieds sehr gut einschätzen, auch wenn dies nicht auf Metriken beruht. Die Einschätzung muss aber im Dialog erfolgen, ähnlich wie im Planning Poker. Und es müssen Barrieren gegen Mobbing eingebaut werden.
Was aber, liebe Leser, wird jetzt aus Peter Druckers Auffassung: Was nicht messbar sei, sei auch nicht steuerbar? Darauf weiß ich im Augenblick keine Antwort.

Anmerkungen

/1/ Yves Morieux, Peter Tollman: Six Simple Rules. How to Manage Complexity without Getting Complicated, Harvard Business Review Press, Boston, 2014 ISBN 978-1-4221-9055-5, Seite 80 f.
/2/ Bildquelle:Bundesarchiv, Bild 183-48465-0054 / CC-BY-SA 3.0; licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany license.    
/3/ Das ist die Heisenbergsche Unschärferelation, angewendet auf Prozesse. Warum „Heisenbergsche“? Ich habe die doch gerade erfunden?

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie lassen sich Ergebnisse definieren? - Drei Beispiele (WBS, CBP und BDN)

Ich habe schon darüber geschrieben, warum das Definieren von Ergebnissen so wichtig ist. Es lenkt die Aufmerksamkeit des Projektteams auf die eigentlichen Ziele. Aber was sind eigentlich Projektergebnisse? In diesem Beitrag stelle ich drei Methoden vor, um leichter an Ergebnisse zu kommen.

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Wie Agilität den Kundennutzen steigert - Einige Argumente für Berater:innen

In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit fragen sich viele, ob agile Beratung noch eine Zukunft hat. Die Antwort liegt in der konsequenten Orientierung am Kundennutzen. Qualität setzt sich durch, wenn sie messbare Verbesserungen bei Umsatz, Kosten und Leistungsfähigkeit bewirkt, anstatt sich in Methoden und zirkulären Fragen zu verlieren. Dieser Artikel zeigt, wie agile Beratung nachhaltige Veränderungen in Unternehmen schafft und warum gerade jetzt gute Berater:innen gebraucht werden, um Organisationen widerstandsfähiger zu machen.

Warum eine Agile Transformation keine Reise ist

Die agile Transformation wird oft als eine Reise beschrieben. Doch dieser Vergleich kann viele Unternehmen in die Irre führen oder Bilder von unpassenden Vergleichen erzeugen. Transformationen sind keine linearen Prozesse mit einem klaren Ziel, sondern komplexe und dynamische Entwicklungen. Dieser Artikel zeigt, warum Agilität kein Weg mit einem festen Endpunkt ist.

Kleine Organisationsveränderungen, die direktes Feedback erzeugen

Große Veränderungen sind in einer Organisation schwer zu messen. Oft liegt zwischen Ursache und Wirkung ein langer Zeitraum, sodass die Umsetzer:innen nicht wissen, was genau gewirkt hat. Hier ist eine Liste mit kleinen Maßnahmen, die schnell etwas zurückmelden.

Agile Leadership – Führst du noch oder dienst du schon?

Die Arbeitswelt verändert sich. Und das spüren nicht nur Führungskräfte, sondern vor allem Mitarbeitende. Immer mehr Menschen hinterfragen den Sinn ihrer Arbeit, erwarten Respekt, Vertrauen und eine Unternehmenskultur, die echte Zusammenarbeit ermöglicht. Studien wie die Gallup-Studie 2025 oder die EY-Jobstudie zeigen: Der Frust am Arbeitsplatz wächst – und mit ihm die Unzufriedenheit mit der Führung. Höchste Zeit, umzudenken. Genau hier setzt agile Führung an. 1. Warum agile Führung heute entscheidend ist  Klassische Führung – hierarchisch, kontrollierend, top-down – funktioniert immer weniger. Die Zahlen sind eindeutig:  Laut Gallup fühlen sich nur noch 45 % der deutschen Beschäftigten mit ihrem Leben zufrieden. Fast jede dritte Kündigung erfolgt wegen der Führungskraft. Nicht das Gehalt, sondern mangelnde Wertschätzung, fehlendes Vertrauen und ein schlechtes Arbeitsumfeld treiben Menschen aus Unternehmen.  Agile Führung bietet eine Alternative, die auf Vertrauen, Selbs...

Ent-Spannen statt Platzen: Erste Hilfe für mehr Vertrauen und Resilienz im Team

Zwei Themen die mir in den letzten Wochen immer wieder über den Weg laufen sind Vertrauen und Resilienz. Vertrauen als das Fundament für gemeinsame Zusammenarbeit und Resilienz als die Fähigkeit, Herausforderungen, Stress und Rückschläge zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen.  In dem Blogpost möchte ich ein paar Erste-Hilfe Interventionen teilen, die zu mehr Vertrauen und Resilienz im Team führen können - gerade wenn die Emotionen hochkochen und es heiss her geht im Team. Die „Mist-Runde“: Ärger Raum geben. In konfliktbeladenen oder belasteten Teams kann es eine große Herausforderung sein, eine offene Kommunikation und ein respektvolles Miteinander zu fördern. Eine einfache, aber äußerst effektive Methode, um Spannungen abzubauen, ist die „Mist-Runde“ . Diese Intervention, die ich zuerst bei Veronika Jungwirth und Ralph Miarka kennengelernt habe, gibt den Teilnehmern einen geschützten Raum, in dem sie ihre Frustrationen und negativen Gedanken ohne Zensur äußern können un...

Microsoft Lists: mit Forms und Power Apps komfortabel mobil arbeiten

In meinem Kundenkreis sind viele Menschen, die den Arbeitsalltag nicht vorwiegend auf dem Bürostuhl sitzend verbringen, sondern "draußen" unterwegs sind. Vielleicht in Werkstätten oder im Facility-Management. Es ist so wichtig, dass die Schnittstellen zu den Abläufen im Büro gut abgestimmt sind. Microsoft 365 hat so einiges im Baukasten, man muss es nur finden und nutzen.  In diesem Artikel spiele ich ein Szenario durch, das auf Microsoft Lists, Forms und - für die Ambitionierteren - Power Apps setzt.

Selbstbewertungsfragen für den Alltag in Arbeitsgruppen aus Sicht von Mitarbeitenden

Welche Fragen können wir Mitarbeiter:innen stellen, um herauszufinden, ob agiles Arbeiten wirkt? Es gibt bereits eine Menge an Fragebögen. Aber ich bin nicht immer zufrieden damit.