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Über die Werte der Reformer von 1807/08

Viele sehen Werkzeuge und Methoden als Einstieg für agiles Arbeiten. Das Wissen darüber reicht aber nicht, um Veränderungen anzustoßen. Einen interessanten Einblick in agiles Arbeiten bieten die Preußischen Reformen von 1807/08. Dort standen gemeinsame Werte am Anfang der Arbeit.

Die Welt verändert Preußen

Marion Gray verfasste 1986 eine gut lesbare Arbeit über die Reformen von 1807/08. Den Ausgangspunkt, den sie beschrieb, könnte man sich für Politiker:innen auch heute nicht schlimmer vorstellen: 

1806 versetzte Napoleons kaiserliches Heer der Hohenzollern-Monarchie einen vernichtenden Schlag. Die Niederlage war verblüffend, weil nur wenige Jahre zuvor Preußen allgemein als eine der Großmächte Europas angesehen worden war. Das einst stolze Königreich ging aus dem napoleonischen Krieg mit einer zerrütteten militärischen Organisation, einer verwüsteten Landschaft, einer bankrotten Staatskasse, einer kaputten Wirtschaft, einer Regierung im Chaos und mit einem Bruchteil seines Territoriums hervor, das entweder von Ausländern annektiert oder besetzt war. /1, S. 1/

 

Preußische Gebietsverluste 1801-1807, O. Meinke, Public domain, via Wikimedia Commons

Um zu verstehen, wie es soweit kommen konnte, nimmt uns Gray in die Zeit davor mit. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine Zeit großer Umbrüche./2/ Preußen lebte vor allem von der Landwirtschaft. In den östlichen Provinzen Preußens war ein starkes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Die Sozialstruktur veränderte sich. Ebenso die Art und Weise wirtschaftlich tätig zu sein und Handel zu treiben. 

Das alles wird jetzt zum Problem. Denn so war es sehr schwer geworden, in den alten politischen Strukturen Handel zu treiben.

Als aufstrebende Industrienation hatte England einen großen Bedarf an Getreide und Holz. Für Preußen entwickelte sich England zum wichtigsten Kunden, was sich z.B. darin ablesen lässt, dass sich in der Zeit von 1777-1784 die Zahl der Schiffe, die den Hafen in Königsberg verließen von fast 700 auf fast 2000 verdreifachte!/1, S. 25/. 

Die Landbesitzer versuchten dem gestiegenen Bedarf nachzukommen - auf Kosten der ärmeren Landbevölkerung. Die Junker brauchten Geld, um weiter zu investieren. Allerdings war das Kapital nur in den Städten zu finden. 

Die sozialen Strukturen machten es schwierig, Kreditverträge zwischen den Städtern und den Landbesitzern zu schließen. Der gestiegene Bedarf machte das Getreide teurer. 

Die Not war so groß, dass die ärmere Bevölkerung zu drastischen Mitteln greifen musste und - wie z.B. in Schlesien - Pferde und Katzen schlachteten. Gleichzeitig machten aber auch liberale und aufklärerische Ideen in den Städten wie Königsberg, Danzig, Stettin, Breslau und Berlin die Runde.

Napoleon besiegt Preußen

Nach der Französischen Revolution bestimmte Napoleon die europäische Außenpolitik. Ein Regierungswechsel in England gab Anlass zu Geheimverhandlungen, in denen Frankreich das Königreich Hannover an England zurückgeben wollte. 

Preußen konnte und wollte das nicht akzeptieren und stellte Frankreich ein Ultimatum, das wiederum zu militärischen Konflikten führte, die in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt mündete.

Das französische Heer war modern ausgestattet, gut ausgebildet und kampferfahren. Die preußische Generalität dagegen überaltert, die gesamte Armee kaputtgespart. 

Der spätere General und Armeereformer Gerhard von Scharnhorst umschreibt die Situation 1787 in einem Handbuch für Offiziere: "Da die Kriege jetzt selten sind, und viele Officiere zu ansehnlichen Posten kommen, ehe sie die geringste Erfahrung haben". /3, S. ix/

Der Ausgang und die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen sind bekannt (oder hier gut nachzulesen: WDR Stichtag oder Welt Geschichte

Eine der Hauptursachen für die Niederlage Preußens war das Verhalten des Königs, der zögerlich agierte, sich nicht so recht entscheiden konnte, was er wollte, und dem es mehr um Ehre als um Fortschritt ging.

Die Reformer finden sich in Königsberg

Nur durch das Eingreifen des russischen Zars konnte die vollständige Zerschlagung Preußens verhindert werden. Der König zog sich mit seiner Regierung an die Peripherie nach Königsberg und Memel zurück. Von dort aus wurden nun über die Weichenstellungen für die Zukunft entschieden.

Der König vertraute von Hardenberg, den er kurz zuvor als Minister entlassen hatte, den Neuaufbau preußische Staatsstrukturen an. Von Hardenberg und seine Berater hielten ihre politischen Ziele in der so genannten "Rigaer Denkschrift" fest.

Interessant ist zu betrachten, wer sich in der Gruppe der Reformer zusammengefunden hatte und vor allem, welcher Philosophie und Geisteströmung sie folgten: Alle waren stark von Immanuel Kant und der Aufklärung geprägt: 

„Auffallend ist nun jedoch, dass die engeren Mitarbeiter Steins, und gerade diejenigen der Reformgesetzgebung, Kantianer waren und den Philosophen größtenteils persönlich gehört oder mit ihm Umgang gehabt haben.“ /4, S. 9/

„Wir errichteten, sobald wir uns geordnet hatten in Königsberg 1808 auf Röckners, Feldpropstes Vorschlag, einen geheimen Bund: Christian Gottlieb Röckner, Gerhard von Scharnhorst, Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, Ludwig Nicolovius, August Neidhardt von Gneisenau, Johann Wilhelm Süvern und ich [Theodor von Schön] bildeten diesen Bund. Wir hatten uns durch Handschlag verpflichtet, ohne dass etwas niedergeschrieben werden durfte, Mittel zu suchen, durch welche die Schmach, welche auf unserem Vaterlande hafte, entfernt werden könne…“ /4, S. 10/

Dass der zögerliche König von Hardenberg und Stein ein Mandat gab, war aber weniger Ausdruck des Willens zum bewussten Aufbruch in eine moderne Welt. Es hatte vielmehr pragmatische und praktische Gründe: Die Staatskasse war leer. Und Preußen musste zudem hohe Kriegsschulden an Frankreich ableisten.

So aber kam es, dass die Reformen auf der Idee einer universellen Freiheit und (sozialer) Mobilität fußten./1, S. 143/ 

Von Hardenberg und die Reformisten stellten sich zunächst die Frage, wie das Verhältnis zwischen Bürger und Staat künftig am besten zu gestalten ist. Und sie gaben ihrer Geisteshaltung entsprechend Antworten darauf.

Zum Beispiel gaben die Reformer vor, dass sich die Landkreise selbst verwalten sollten. Die Zentralgewalt sollte also in manchen Bereichen weniger Einfluss haben. 

In anderen Bereichen wiederum blieben sie beim Zentralismus. Zum Beispiel sollte es weiterhin eine zentral organisierte Polizeibehörde geben, die zwar an jedem Ort vertreten war aber - im Falle des Falles - Befehle der Zentralregierung umsetzen konnte.

Was wir daraus lernen können

Dürfen wir in diesen Reformen einen Bezug zu Agilität herstellen? Sind die Parallelen, die zu erkennen sind, nicht einfach Zufall? Jeff Sutherland selbst hat offenbart, über John Boyd von den Ideen eines gewissen Clausewitz erfahren zu haben. Er gehörte der Gruppe um von Scharnhorst an, die sich um den Neuaufbau des Militärs kümmerte. Sowohl Sutherland und Boyd sind also von Clausewitz' Ideen beeinflusst worden. 

Ich ziehe für mich ein paar Schlüsse aus dieser Zeit.

  • Agilität ist kein Selbstzweck. Es geht darum, anstehende Probleme zu lösen. Am Besten folgen wir dazu dem (in solchen Situation eben oft nicht-vorhandenen) Geld. Die Frage ist also nicht, wie wir Agilität in die Verwaltung bringen. Sondern: Wie können wir uns in/mit der Verwaltung zusammentun, um drängende Probleme agil zu bearbeiten (agil in diesem Sinne heißt: an Prozesskosten sparend und die Erträge maximierend)?
  • Agilität basiert auf gemeinsamen Werten. Erst danach kommen die passenden Werkzeuge und Methoden. Welche Werte sind uns heute wichtig und hilfreich? Welche Grundsätze sind eher hinderlich und sollten wir deshalb besser aufgeben? Hardenberg schrieb in der o. g. Denkschrift, dass es vermessen sei zu denken, "daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten [...] entgegenstreben könne".

Dennoch: sollten wir natürlich vorsichtig sein, Dinge aus der Geschichte und Anekdoten direkt auf die heutige Zeit zu übertragen. Ein detaillierter Blick in die Geschichte kann uns aber durchaus helfen, auch heutige Zusammenhänge besser zu begreifen. Denn die sind universeller als man meinen könnte. 


 Anmerkungen und Literatur

  • /1/ Gray, Marion W., Morrison, Rodney J., Reid, Whitelaw. Prussia in Transition: Society and Politics Under the Stein Reform Ministry of 1808. : American Philosophical Society, 1986.
  • /2/ Helge Hesse hat dazu ein leicht lesbare Geschichte geschrieben. Sie liest sich wie eine ausführliche Twitter-Zeitlinie, siehe Hesse, Helge. Die Welt neu beginnen: Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 bis 1799. Stuttgart: Reclam Verlag, 2021.
  • /3/ Scharnhorst, Gerhard von: Handbuch für Officiere, in den angewandten Theilen der Krieges-Wissenschaften, siehe http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10256019_00013.html
  • /4/ Hubatsch, Der Reichsfreiherr Karl vom Stein und Immanuel Kant. 

 

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