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"Klingt nach Beratersprech" #1/6: Systemisch, systemtheoretisch, konstruktivistisch?

Hi Georgie, ich habe eine Frage. - Natürlich, worüber möchtest du sprechen? - Was ist der Unterschied zwischen „systemisch“ und „systemtheoretisch“? Da ist so viel die Rede davon. Ich habe aber den Eindruck, dass nur wenige wirklich Bescheid wissen. 

Foto: Autor mit Hilfe von Bing Image Creator

Georgie: "Systemisch" und "systemtheoretisch" unterscheiden sich hauptsächlich in ihrem Anwendungsbereich und ihrer Perspektive:
  • Systemisch: Dieser Ansatz betrachtet Systeme als Ganzes und untersucht die Interaktionen ihrer Komponenten. Er wird in Psychologie (z.B. systemische Therapie), Sozialwissenschaften, Ökologie und Organisationsberatung angewendet. Dabei liegt der Fokus auf den Beziehungen und Interaktionen innerhalb des Systems sowie auf der Komplexität, Dynamik und den Mustern innerhalb dieser Systeme.
  • Systemtheoretisch: Dieser Ansatz basiert auf der theoretischen Grundlage der Systemtheorie, die sich mit der Struktur und den Prinzipien von Systemen in Natur, Wissenschaft und Gesellschaft befasst. Es geht um die formale Beschreibung, Modellierung und Theoriebildung bezüglich der Funktion und Struktur von Systemen. Die Systemtheorie liefert das Werkzeug, um Systeme zu analysieren und zu verstehen, indem sie erklärt, wie sie organisiert und funktionieren.

"Systemisch" bezieht sich also auf die praktische Anwendung und das Verständnis von Systemen, wobei der Fokus auf den Beziehungen und Interaktionen liegt. "Systemtheoretisch" hingegen betrifft den theoretischen Unterbau und die formale Analyse von Systemen, basierend auf der Systemtheorie als wissenschaftliche Disziplin.

Edgar: Hast du Beispiele für die unterschiedlichen Anwendungsgebiete?

Georgie: Klar, hier ein paar Beispiele:

Systemische Anwendungsgebiete

  • Systemische Therapie in der Psychologie: Dieser Therapieansatz betrachtet nicht nur das Individuum, sondern auch sein soziales Umfeld. Ziel ist es, Muster in Beziehungen zu erkennen und zu verstehen, wie sie das Verhalten und Erleben beeinflussen.
  • Systemische Beratung in Organisationen: Hier werden systemische Methoden genutzt, um Beziehungen, Kommunikationsmuster und Strukturen in Organisationen zu untersuchen. Die Beratung zielt darauf ab, Veränderungen im gesamten System zu gestalten.
  • Ökologie: Systemische Ansätze werden verwendet, um Ökosysteme zu studieren, indem man Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt betrachtet. Dies hilft, die Komplexität zu verstehen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln.

Systemtheoretische Anwendungsgebiete

  • Kybernetik: Dieses Feld nutzt systemtheoretische Konzepte, um Steuerung und Regelung in Systemen zu verstehen. Es untersucht, wie Systeme Informationen verarbeiten und auf ihre Umgebung reagieren.
  • Komplexe Systeme in der Physik: Systemtheoretische Modelle werden genutzt, um das Verhalten komplexer Systeme zu untersuchen, wie Netzwerke, in denen viele Einzelteile interagieren.
  • Soziologische Systemtheorie: Diese Theorie betrachtet Gesellschaften als komplexe, selbstorganisierende Systeme. Sie analysiert Strukturen und Funktionen sozialer Systeme, einschließlich Kommunikationsprozesse und Organisationsformen.

Edgar: Was lässt sich denn über die Verbreitung sagen?

Georgie: Die Verbreitung variiert stark je nach Fachgebiet und geographischer Region, aber einige allgemeine Beobachtungen sind möglich:

Systemische Ansätze

  • Weite Anwendung: Systemische Ansätze finden in Psychologie, Sozialarbeit, Organisationsentwicklung, Bildung und Ökologie breite Anwendung. Zahlreiche Ausbildungsprogramme, Fachzeitschriften und Berufsverbände widmen sich diesen Themen.
  • Globale Verbreitung mit lokalen Unterschieden: Obwohl weltweit verbreitet, variieren die Akzeptanz und Anwendung regional. In Europa, besonders in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sind systemische Therapie und Beratung stark etabliert und staatlich anerkannt.

Systemtheoretische Ansätze

  • Akademische Anwendung: Systemtheoretische Ansätze werden vor allem in akademischen und Forschungskontexten angewendet, insbesondere in Kybernetik, Informatik, Biologie und Soziologie.
  • Interdisziplinäre Forschung: Systemtheoretische Konzepte fördern interdisziplinäre Forschung und tragen zur Entwicklung neuer Forschungsfelder wie Komplexitätstheorie und Netzwerktheorie bei.

Allgemeine Trends

  • Zunehmende Digitalisierung und Vernetzung: Die wachsende Komplexität und Vernetzung in vielen Lebensbereichen, verstärkt durch Digitalisierung, steigert das Interesse an systemischen und systemtheoretischen Ansätzen.
  • Interdisziplinarität und Transdisziplinarität: Beide Ansätze fördern den Dialog und die Zusammenarbeit über Disziplinengrenzen hinweg und unterstützen die Entwicklung integrativer Forschungs- und Praxisfelder.

Die Verbreitung dieser Ansätze ist auf ein wachsendes Bewusstsein für die Komplexität und Vernetztheit von Systemen in verschiedenen Lebensbereichen zurückzuführen. Sie finden weltweit Anwendung, wobei Schwerpunkte und Integrationstiefe je nach Fachgebiet und Region variieren können.

Edgar: Was sind denn Gegenentwürfe z.B. zu systemischer Therapie oder Beratung?

Georgie: Gegenentwürfe oder alternative Ansätze zu systemischen Ansätzen umfassen eine Vielzahl von Methoden, die unterschiedliche Grundlagen und Herangehensweisen an psychische Gesundheit und Veränderungsprozesse haben. Hier einige Beispiele:

Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

  • Idee: Probleme entstehen durch negative Gedanken und Verhaltensweisen.
  • Ansatz: Änderung dieser durch kognitive Umstrukturierung und Experimente.

Psychoanalyse und psychodynamische Therapie

  • Idee: Unbewusste Konflikte beeinflussen unser Verhalten.
  • Ansatz: Aufdeckung und Lösung durch Träume und Fantasien.

Humanistische Therapien (z.B. Gesprächspsychotherapie nach Rogers)

  • Idee: Menschen sind im Kern gut und haben Selbstheilungspotenzial.
  • Ansatz: Therapeutische Beziehung und Wertschätzung zur Selbstfindung.

Verhaltensmodifikation

  • Idee: Verhalten wird durch Belohnungen und Strafen geformt.
  • Ansatz: Unerwünschtes Verhalten reduzieren, erwünschtes fördern.

Lösungsorientierte Kurzzeittherapie

  • Idee: Konzentration auf Ressourcen und Stärken zur schnellen Problemlösung.
  • Ansatz: Fragen zur Zielfindung und Schrittidentifizierung.

Diese Ansätze variieren in ihren Theorien und Methoden. Die Wahl hängt von den Bedürfnissen des Klienten, den Vorlieben des Therapeuten bzw. des Coaches oder Beraters und der Art der Probleme ab.

Foto: Autor mit Hilfe von Bing Image Creator

Edgar: Diese Ansätze brauchen aber doch auch immer zumindest teilweise einen Blick aufs gesamte System, oder stehe ich da gerade auf dem Schlauch?

Georgie: Du hast recht, viele Therapieformen müssen in der Praxis das größere Umfeld des Einzelnen berücksichtigen. Hier sind einige Gedanken dazu:

  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Sie konzentriert sich hauptsächlich auf die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen des Einzelnen, berücksichtigt aber auch soziale und Umgebungsfaktoren wie Arbeitsplatzstress oder familiäre Beziehungen.
  • Psychoanalyse und psychodynamische Therapie: Diese betrachten frühe Beziehungen und Erfahrungen als prägend für die Persönlichkeit. Das familiäre System wird oft analysiert, während der Fokus auf innerpsychischen Konflikten liegt.
  • Humanistische Therapien: Sie betonen persönliches Wachstum und individuelle Erfahrung, erkennen aber auch die Bedeutung von Beziehungen und sozialen Kontexten an.
  • Verhaltensmodifikation: Sie konzentriert sich auf spezifische Verhaltensweisen und kann das soziale und physische Umfeld einbeziehen, um Verhaltensänderungen zu unterstützen.
  • Lösungsorientierte Kurzzeittherapie: Sie fokussiert auf Lösungen und bezieht oft das soziale und familiäre Umfeld in die Entwicklung und Umsetzung dieser Lösungen ein.

Die meisten Therapieformen berücksichtigen das Umfeld des Individuums, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Der systemische Ansatz hebt besonders die systemischen Wechselwirkungen und Dynamiken hervor.

Edgar: Wie macht er das denn genau?

Georgie: Systemische Therapie und Beratung nutzen spezielle Techniken, um komplexe Systeme wie Familien oder Organisationen zu verstehen und zu beeinflussen. Hier sind einige wichtige Punkte:

  • Mehrperspektivität: Es geht darum, die Sichtweisen aller Beteiligten zu verstehen und anzuerkennen, durch gezielte Fragen und Exploration verschiedener Perspektiven.
  • Zirkularität: Anstatt lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu suchen, betrachtet der systemische Ansatz Probleme und Lösungen als Teil von Rückkopplungsschleifen innerhalb des Systems.
  • Neutralität und Allparteilichkeit: TherapeutInnen und Coaches, bis zu einem gewissen Grad auch Berater, bleiben neutral und nehmen keine Seiten ein, was ein offenes Teilen von Perspektiven ermöglicht.
  • Hypothetisches Denken: Es geht darum, alternative Sichtweisen und Lösungen zu erforschen, oft durch "Was-wäre-wenn"-Fragen.
  • Ressourcen und Lösungen: Der Fokus liegt auf der Entwicklung von Ressourcen und der Suche nach Lösungen, etwa durch das Identifizieren von Ausnahmen.
  • Systemische Aufstellungsarbeit: Diese Methode visualisiert die Beziehungen innerhalb des Systems, oft durch physische Repräsentationen, was zu neuen Einsichten führt.

Diese Aspekte fördern ein tieferes Verständnis der Systemdynamik und bilden die Grundlage für wirksame Veränderungen.

Edgar: Inwiefern? Das ist mir noch nicht ganz klar.

Systemische Ansätze durchleuchten komplexe Beziehungen in Familien, Partnerschaften und Teams, entdecken Interaktionsmuster und lösen Konflikte an ihrer Wurzel.

Sie erweitern Perspektiven, fördern Kommunikation und Kooperation, und betonen Lösungen statt Probleme. Diese Ansätze fördern eine positive Einstellung zur Veränderung und nutzen vorhandene Ressourcen. 

Durch Bewusst-Machen und Anpassen von Interaktionsmustern verbessern sie Beziehungen nachhaltig. Systemische Praktikerinnen und Praktiker nutzen die Systemdynamiken, um Veränderungen zu unterstützen, Widerstände zu minimieren und Selbstregulation zu stärken.

So wird ein tiefes Verständnis und effektive Strategien für nachhaltige Veränderungen ermöglicht.

Edgar: Das hört sich für mich so an, als sei das alles sehr eng mit dem Konstruktivismus verbandelt. Richtig?

Georgie: Stimmt genau! Systemische Ansätze gehen Hand in Hand mit dem Konstruktivismus. Der Konstruktivismus besagt, dass unsere Realität und unser Wissen durch individuelle oder soziale Prozesse geformt werden. Das heißt, was wir als "Realität" ansehen, hängt stark davon ab, wie wir die Welt um uns herum interpretieren. Das hat große Auswirkungen auf systemische Therapie und Beratung:

  • Subjektive Realitäten: Jeder baut seine eigene Realität basierend auf Erfahrungen, Überzeugungen und Werten. Es gibt also nicht nur eine "objektive" Realität, sondern viele subjektive.
  • Bedeutung von Sprache und Kommunikation: Sprache und Kommunikation formen unsere Sichtweise der Realität. Durch Sprache teilen wir unsere Erfahrungen und konstruieren gemeinsame Bedeutungen.
  • Veränderung durch Perspektivenwechsel: Weil unsere Realität konstruiert ist, kann sich Veränderung durch einen Perspektivenwechsel oder die Neugestaltung von Bedeutungen ergeben.
  • Die Rolle des Therapeuten: Der Therapeut hilft dabei, eigene Verständnisse und Lösungen zu konstruieren, anstatt als allwissender Experte aufzutreten.

Diese Prinzipien ermöglichen eine flexible, individuell angepasste Herangehensweise in der systemischen Arbeit.


  • Hier geht’s zu allen Teilen des Interviews.


Edgars eigener Blog: www.trellisterium.de
Edgars Podcast: trellisterium.podbean.com 

Edgar Rodehack ist Teamwork-Enthusiast mit einem Faible für agile Formen der Zusammenarbeit. Da trifft es sich natürlich gut, dass er das beruflich macht. Er ist Organisationsberater, Business und Agile Coach, Teamentwickler und Moderator. Außerdem ist er ein Mensch mit Frau und drei Kindern, der viel Spaß am Musikmachen, Schreiben und Lesen hat. Mehr über ihn: www.rodehack.de


Literatur







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