Nicht wenige Konzepte im agilen Umfeld haben mit "Transparenz" zu tun. Es schimmert an einigen Stellen hindurch, dass es gerade in unserem Land schwierig sein könnte, echte agile Zusammenarbeit durch u. a. Förderung von Transparenz zu erreichen. Womit das zu tun haben könnte, ist Thema dieses Artikels.
Methoden über Ansätze über wissenschaftliche Modelle
Wenn man sich gedanklich oder konkret in die Arbeitswelt als Scrum Master hineinbewegt, kann schnell der Eindruck entstehen, dass man nur die richtige Methode finden muss, um die Menschen zur Mitarbeit im agilen Sinne überzeugen zu können, dass man, um mit Jane K. Rowling zu sprechen, nur den Zauberstab auf die richtige Art zu schwingen hat, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Schlangenöl oder Schlüssel zum Erfolg - oder weder noch?
Diese Idee liegt nicht fern, da der Wissensfundus in unserem Umfeld ein schier unerschöpflicher Quell an Ansätzen, Methoden und wissenschaftlichen Informationen ist, die scheinbar auf unzählige Weisen miteinander verknüpft und in den Unternehmen experimentell auf Teams, Management und Arbeitsstrukturen losgelassen werden können.
Die Versprechen der Trainings- und Beratungsanbieter
Viele der Vorgehensweisen versprechen, das Alheilmittel für oder gegen etwas zu sein, und auch hier haben wir schon ein kleines Problem mit Transparenz. Natürlich erhält sich mit solchen oder ähnlichen Aussagen die Beratungs- und Coachingindustrie gerne selbst am Leben. Neues Tool, neue Vorgehensweise, ganz brandneue Erkenntnis, jeder muss das jetzt haben, um noch (zum Markt) dazuzugehören, jeder muss das einführen.
Ein immer wieder auftauchender gemeinsamer Nenner
Irgendwann kam mir der Gedanke, dass recht viel von dem, was im agilen Umfeld beschworen wird, auf das Thema "Transparenz" eingedampft werden kann.
Psychologische Sicherheit
Psychologische Sicherheit, die gerade modern zu sein scheint, hat damit zu tun: Wenn ich als kleiner Pfleger meinem Oberarzt öffentlich mitteile, dass er gerade ein Medikament falsch dosiert hat, dann hat das ganz stark und unmittelbar mit Transparenz zu tun. Und natürlich mit einer bestimmten Fehlerkultur. Zu der guten gehört ebenfalls der Wille zu Transparenz, die offenbar gerne uns Deutschen besonders wehtut, aber dazu später.
Fehlerkultur
Wenn ich im Sinne einer positiven und förderlichen Fehlerkultur aus meinen Fehlern lernen möchte, gehört im ersten Schritt dazu, dass diese Fehler erstmal bekannt und öffentlich - transparent - werden. (Für mich fallen eigene Fehler, die jemand alleine entdeckt und wieder korrigiert, bevor sie Schaden anrichten und öffentlich werden, nicht unter das Thema "Fehlerkultur", denn eine "-kultur" besteht immer aus mehreren beteiligten Personen, die miteinander interagieren und gemeinsame Wertvorstellungen und erlernte Verhaltensweisen teilen. /1/)
(Achtung, Trigger:) Agiles Mindset
Hier im Teamworkblog ist außerdem ein Artikel von Maria Kühn zum vieldiskutierten Thema des "Agilen Mindsets" enthalten /2/, in dem explizit und umfassend "Transparenz" auftaucht, nämlich in der Dimension "Kollaborativer Austausch". Warum werden Scrum Master und Agile Coaches und ähnliche von Unternehmen eingestellt? In erster Linie, um die Zusammenarbeit zwischen produkt-realisierenden Menschen in allen Facetten zu fördern. Kollaborativer Austausch wird im o. g. Artikel folgendermaßen definiert: "(...) inkludiert, dass die Person gerne Transparenz hinsichtlich ihrer Arbeit, Zielen, Prozessen, Schwierigkeiten und Erkenntnissen schafft. Auf Basis dessen geht sie gerne in den Austausch mit anderen und ermöglicht dadurch das Lösen von Herausforderungen, Wissenstransfer und integriert anderer Perspektiven. (...)" Es geht um Offenlegen von wertvoller Information, im Vertrauen darauf, dass diese zum größten Nutzen aller eingesetzt wird.
Wenn das nicht der Zielzustand eines Teammitglieds oder Management-Mitglieds aus Sicht eines jeden Scrum Masters ist, dann weiß ich ja auch nicht... (mit der männlichen sprachlichen Form sind hier auch weibliche Scrum Master gemeint, ich mag die Bezeichnung "Scrum Masterin" einfach nicht)
"Zusammenarbeit"
Natürlich sollte man Transparenz auch als Basis für das übergreifende Konzept der "Zusammenarbeit" von Personen verstehen. Menschen, die zusammenarbeiten, müssen sich manchmal outen, dass sie etwas nicht wissen, und jemand anderen um Rat fragen. Sie müssen anderen mitteilen, an was sie bis zum aktuellen Zeitpunkt (nicht) gearbeitet haben bzw. bis wohin sie gekommen sind. Menschen, die Angst davor haben, Fehler zu machen, müssen sich jemanden suchen, der sie unterstützt, und gleichzeitig offenbaren, dass sie sich z. B. einer Aufgabe nicht gewachsen fühlen - eventuell, weil ihnen dafür notwendige Kompetenzen fehlen.
Wenn jemand (z. B. ein Scrum Master) als Ausgangspunkt für Wissenstransfer eine Skillmatrix erstellen möchte, müssen dafür alle die Hosen herunterlassen, was sie können und was noch nicht. Meist ahnen sie da wohl schon, dass später gegebenenfalls auch noch eine Umverteilung der gewohnten Aufgaben stattfinden wird.
Wichtiges Wissen verteilen
Das Konzept des "Wissensmanagements" geht insgesamt davon aus, dass es in den unterschiedlichen Köpfen ein "Wissensgefälle" bezüglich der adäquaten Abarbeitung von Aufgaben gibt. Dieses Gefälle muss zuerst transparent gemacht werden, um anschließend durch verschiedene Maßnahmen ausgeglichen werden zu können. /3/
Apropos "-management": Vermutlich würde so gut wie keine Führungskraft in Deutschland zugeben, dass sie sich von Aufgaben überfordert fühlt, und das, obwohl das Peter-Prinzip eine deutliche Sprache spricht?! Doch dazu weiter unten (mit Quellen).
(Bildquelle: Fotograf "congerdesign" auf Pixabay.de)
Besondere Situation in Deutschland?
Nachdem die Hypothese "Transparenz als extrem wichtiger Dreh- und Angelpunkt agilen Seins" gebildet war, ahnte ich, dass der Grund dafür, dass agile Bemühungen gerade in deutschen größeren Unternehmen nicht so recht fruchten wollen, zu einem bisher unterschätzten Anteil in unserer eigenen Geschichte liegen könnte (meine eigene empirische Stichprobe, angereichert durch die Erfahrungen meines Netzwerks - Ausnahmen bestätigen nur die Regel, Jan!). Auch dort zeigen sich verschiedene Hinweise darauf, dass wir es wohl nicht so mit der Transparenz haben.
Deutsche Geschichte und unser Verhältnis zu Transparenz
Kürzlich habe ich konkret nachgeforscht, ob wir Deutschen aufgrund unserer Geschichte ein besonderes Problem mit der Transparenz haben. Mein liebster Austauschpartner, wenn gerade keiner aus Fleisch und Blut zur Verfügung steht, ist, wie bei wahrscheinlich vielen, dieses natürlichsprachliche Programm, das auch Google in meiner Recherchiergunst als die erste aufzusuchende Adresse längst abgelöst hat. Und, ja, ich habe ChatGPT zur Herausgabe der Quellen gezwungen und mir diese durchgelesen. Leider waren nicht alle davon tauglich, Ausfälle wurden durch selbst gesuchte Quellen ersetzt.
Die längere Liste der Hemmschuhe
"Das wiederkehrende Transparenzproblem in Deutschland ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines historisch gewachsenen Zusammenspiels aus autoritärer Staatskultur, starker Bürokratie, spätem Demokratisierungsprozess und einer Kultur des Datenschutzes (...)". Schwierigkeiten im Umgang mit Transparenz haben bei uns also "historische, kulturelle und strukturelle Ursachen, die tief in der politischen Entwicklung des Landes verwurzelt sind." So lautet die Zusammenfassung von ChatGPT zu seinen gefundenen Informationen und Quellen.
Fünf (von mir sprachlich eingekürzte - die Red.) Punkte sind dabei entscheidend:
- Autoritäre Staatsgeschichte: Deutschland wurde nicht als Demokratie geboren, sondern war lange von autoritären oder zentralistisch-bürokratischen Strukturen geprägt (preußisches Obrigkeitsdenken, NS-Propaganda, Zensur und totale informationskontrolle, Überwachungsdiktatur DDR mit systematischer Geheimhaltung) /4/, /5/, /6/, /7/
- Starker Verwaltungsapparat mit Hang zur Bürokratie (rechtlich stark reglementierte Verwaltung mit ausgeprägtem Datenschutz- und Amtsgeheimnisschutz, „Verwaltung nach Recht und Gesetz“ bedeutet zugeich Rechtsstaatlichkeit und Abschottung gegenüber externen Einblicken, Transparenz als Ausnahme statt Grundprinzip) /8/, /9/
- Spätes und zögerliches demokratisches Lernen (junge Demokratie erst ab 1945, Transparenz als aktiver Bestandteil demokratischer Kontrolle nur schrittweise, auch durch Druck von unten) /10/
- Kulturelle Prägung: Datenschutz vs. Informationsfreiheit (Erfahrungen mit Gestapo und Stasi), Informationsschutz häufig höher bewertet als öffentliche Transparenz (Gegensatz: In Schweden und Dänemark ist Transparenz seit dem 18. Jahrhundert ein Grundprinzip) /11/
- Politische und wirtschaftliche Verflechtungen (lange Tradition von Filz und Lobbyeinfluss, besonders in föderalen Strukturen mit lokalem Machtgefälle; Entscheidungen wurden/werden häufig in inoffiziellen Netzwerken zwischen Politik, Wirtschaft und Verwaltung getroffen; weitere Beispiele sind intransparente Großprojekte aus der Wirtschaft: Flughafen BER, Stuttgart21,...) /12/
Fortwährende Tabuthemen in deutschen Arbeitsumfeldern
Für agiles Arbeiten ist das nicht gerade eine Top-Grundlage... Es geht zudem auch schon deutlich kleiner als das: Gehalt ist noch immer ein Tabuthema in Deutschland, ebenso wie die Tatsache, wenn jemand in einem Unternehmen an seiner eigenen Stufe der Inkompetenz angekommen ist (bekannt als "Peter-Prinzip" /13/). Dass jemand mit seiner aktuellen Aufgabe auf Hierarchiestufe "ziemlich weit oben" inzwischen überfordert ist, wird nicht unternehmensweit öffentlich gemacht, sondern überwiegend hinter vorgehaltener Hand diskutiert, und mit der Person selbst würde vermutlich zu allerletzt über dieses Thema gesprochen. /14/ Schließlich dann wirft dieser Endzustand zumindest in Deutschland auch gleich ein schlechtes Licht auf den "Beförderer" ("x kann das ja gar nicht, und y hat den/die eingestellt/befördert?!?"), also wird von dort sehr wahrscheinlich nichts kommen.
(Bildquelle: Pixabay.de)
Peter-Prinzip international
Es gibt übrigens Unterschiede im Umgang mit dem Peter-Prinzip. Andere Länder haben offenbar einen kulturellen Vorteil, und es täte Deutschland in Zukunft vielleicht ganz gut, sich davon eine Scheibe abzuschneiden.
Bei uns gelten formale Hierarchien und eine konservative Fehlerkultur (das heißt eigentlich übersetzt: die schlechte Fehlerkultur, die gerne alles unter den Teppich kehrt) als kulturelle Hemmschuhe, die die Aufrechterhaltung des Peter-Prinzips begünstigen /15/. In den U.S.A. dagegen ist man da schon deutlich weiter und in dieser Hinsicht viel näher an einer agilen inneren Haltung: "(...) Beispielsweise in den USA werden Fehler als Chance verstanden. Deshalb ist es keine Seltenheit, wenn erfolgreiche amerikanische Unternehmen Fehler eingestehen und sogar davon berichten, um Lehren aus den Misserfolgen zu ziehen. Durch diese Handlungsweise fördern US-amerikanische Unternehmen den richtigen Umgang mit Fehlern und eine gesunde Fehlerkultur. In Deutschland hingegen haben Fehler Schuldzuweisungen zur Folge, was viele Chancen ausbremst und den Lerneffekt beeinträchtigt. (...) Die Angst vor dem Scheitern und den Schuldzuweisungen sorgt dafür, dass Innovationen ausgebremst und neue Wege nur zögerlich vorangetrieben werden. (...)" /16/
Mammutaufgabe (?) Agilität einführen
Mit den oben beschriebenen widerspenstigen Strukturen und Prägungen dämmert einem so langsam, dass es hierzulande noch schwieriger als anderswo sein könnte, echte Agilität in Unternehmen zu verankern. (Ich rede hier nicht von Ansätzen, die extra für größere Unternehmen konzipiert wurden und die von einem Teil der agilen Community gern als "Wimmelbilder" von Funktionen, Rollen, Strukturen... bezeichnet werden.) Angesichts der aktuellen Umwälzungen in der Wirtschaft und der Prognosen für veränderungs-unwillige Unternehmen nicht gerade ein rosiger Ausblick /17/.
Fehlerkultur, Transparenz und Zusammenarbeit gehen am Ende uns alle an - auch diejenigen, die sich nicht daran beteiligen woll(t)en.
Über Kommentare und transparenten Austausch zu diesen Gedanken an Ort und Stelle im Teamworkblog freue ich mich (trau Dich/traut Euch!).
Quellen:
/1/ https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur
/2/ https://www.teamworkblog.de/2023/02/agiles-mindset-gibt-es-das-uberhaupt.html
/3/ Quelle zu Wissensmanagement
/4/ https://de.m.wikipedia.org/wiki/Das_Erbe_der_Nazis
/5/ https://mediengeschichte.dnb.de/DBSMZBN/Content/DE/Massenmedien/10-medienmanipulation-im-ns.html (Dt. Nationalbibliothek Frankfurt)
/6/ https://www.bpb.de/themen/deutsche-teilung/stasi/222810/lehren-aus-der-stasi-ueberwachung/
/7/ https://de.wikipedia.org/wiki/Ministerium_f%C3%BCr_Staatssicherheit
/8/ https://www.bundestag.de/resource/blob/575238/5730ec97010522df0c90f70679c2a18d/wd-1-032-18-pdf-data.pdf
/9/ https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/292006/nachrichtendienste-in-deutschland-teil-i/
/10/ https://www.deutschlandfunk.de/deutschland-re-education-alliierte-zweiter-weltkrieg-100.html
/11/ https://transparenzranking.de/
/12/ https://taz.de/die-dritte-meinung/%215467808/
/13/ https://de.wikipedia.org/wiki/Peter-Prinzip
/14/ https://management30.com/blog/peter-principle/
/15/ https://www.infraserv.com/de/perspectives-magazin/2019/die-fehlerkultur-ist-in-deutschland-nach-wie-vor-defizitaer.html
/16/ https://www.inar.de/in-deutschland-ist-fehlerkultur-noch-ein-fremdwort/
/17/ https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2025/heft/3/beitrag/globale-krisen-bewaeltigen-mit-daten-zu-resilienteren-lieferketten.html
Kommentare
Kommentar veröffentlichen