Direkt zum Hauptbereich

Wissen, was wir nicht wissen. Und darüber hinaus.

Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“


Wenn das Selbstverständliche fremd wird


Mit dieser „didaktischen Parabel“ leitete David Foster Wallace einen Festvortrag vor der Abschlussklasse des Kenyon College im Jahr 2005 ein. /1/ Die Geschichte handelt von der Relativität des Absoluten. Wenn ein Fisch erfährt, dass sein Lebensraum nur einer unter verschiedenen ist – dass Wasser deshalb „nur Wasser“ ist und nicht „die Welt“ und dass es auch Lebensräume wie Luft oder Erde gibt -, dann schwindet mit der vorherigen Selbstverständlichkeit auch die Unmittelbarkeit des Selbstgefühls. An die Stelle von Sicherheit – des unhinterfragten In-der-Welt-Seins - tritt: der Zufall, die Kontingenz.

Das  ist ein sehr aktuelles Thema. Aber bevor ich Überlegungen in Bezug auf die Unternehmen und Organisationen und Agilität anstelle, möchte ich es mit einer persönlichen Geschichte illustrieren.

 

Ein persönliches Beispiel


Ich sehe auf dem rechten Auge sehr schlecht,  so minus 7,5 Dioptrien. Das linke Auge ist normal. Der große Unterschied der Sehstärken hat bewirkt, dass sich zwischen beiden Augen eine „Arbeitsteilung“ ergeben hat: das linke Auge schaut in die Weite, mit dem rechten Auge lese ich und verrichte Bildschirmarbeit. Das ist seit frühester Kindheit so.

Das wusste ich aber nie. Als Kind und Jugendlicher war das einfach normal für mich. Ich hatte keine Ahnung, dass andere Menschen zwei Augen haben, die sich gleichzeitig auf denselben Punkt einstellen. Erst mit 18, als ich die Führerscheinprüfung machen wollte und dadurch ein Sehgutachten brauchte, stellte man diese Besonderheit bei mir fest.

Obwohl mir unbekannt, hatte dieses kleine Handicap aber Folgen. Ich sah nicht räumlich und deshalb konnte ich nicht zielen. Wenn ich jemandem etwas zuwarf oder wenn ich mit dem Ball auf den Basketballkorb zielte oder wenn ich beim Fußball einen Pass machen wollte – fast immer ging der Ball daneben. Wenn unsere Klasse (ich war auf reinen Jungenschulen, die gab es damals noch) sich in zwei Sportmannschaften aufteilte, wollte keine Mannschaft mich so richtig dabeihaben. Ich galt als „ungeschickt“, und der Lehrer ermahnte mich regelmäßig, „mehr bei der Sache zu sein“.

Als ich dann 18 war, hatte die neue Erkenntnis zwei Folgen. Eine betraf Gegenwart und Zukunft: Ich erhielt einen Eintrag in den Führerschein, dass ich nicht schneller als 120 km/h fahren dürfe. Und ich wusste, dass ich dieses Defizit (so wenig bedeutend es eigentlich war) nie würde ausgleichen können: die Zukunft als Reich der unbegrenzten Möglichkeiten musste einen Kratzer hinnehmen.

Die stärkere Folge aber betraf die Vergangenheit. Eigentlich hätte ich mich ja entlastet fühlen können, dass meine Ungeschicktheit nicht mangelndem Leistungswillen entsprang, sondern unverschuldet war. Aber diese Entlastung trat nicht ein. Sondern im Gegenteil fühlte ich mich auf einmal als Opfer einer anonymen Ungerechtigkeit. Meine jahrelangen Anstrengungen, es doch noch einmal besser zu machen, entpuppten sich als sinnloser Kampf gegen Windmühlen. Die Reaktion von Sportlehrern und Klassenkameraden waren nicht mehr nachvollziehbare Ungeduld, mit der ich mich gegen mich selbst einverstanden erklären konnte. Sondern sie erschienen plötzlich als gefühllose egoistische Ignoranz gegenüber einem Handicap.

Worauf es mir ankommt mit dieser Geschichte: Wenn wir erfahren, dass wir ja nur „im Wasser leben“, so erscheint dieser Zuwachs an Wissen nicht unmittelbar als gewonnener Reichtum. Sondern oft ganz im Gegenteil als Verlust. Und auch nicht als Zunahme an Einflussmöglichkeiten, sondern als ihre Einschränkung. Dies auch als Warnung, dass man den Satz „Jede Niederlage ist eine Chance“ nicht zu platt verstehen darf.

Was können Organisationen tun?


Auch Teams und Unternehmen haben ihre unhinterfragten Gewissheiten, die sich plötzlich als Illusion entpuppen können. Dass Immobilienpreise immer steigen. Dass Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer die Stellung eines Landes im globalen Wettbewerb auch langfristig stärkt. Dass deutsche Ingenieurskunst immer einen Vorsprung in der Produktentwicklung sichert. Dass es Rezepte gibt à la Lean Startup, die das Risiko des Scheiterns vermindern. Dass Führungskräfte dafür zuständig sind, Strategien zu entwickeln und ihre Umsetzung in der Organisation zu verankern. – Und noch ein paar Dutzend mehr.

Jeder dieser „blinden Flecke“ hat natürlich zur Folge, dass Ressourcen (Menschen, Geld, Zeit) falsch investiert und damit verschwendet werden. Bis dahin, dass das existenzielle Risiko einer Unternehmensinsolvenz zunimmt. Also müsste eigentlich jedes Unternehmen ein Interesse daran haben, die eigenen Glaubenssätze ständig zu hinterfragen und sich selbst auf die Schliche zu kommen. Was können sie dafür tun?

Mir fallen drei Ansätze dazu ein:
  1. Empirisch arbeiten. Messen. Welche Resultate erwarte ich von meinen Aktionen? Und wenn die Resultate nicht eintreten: Woran liegt’s? Vielleicht an einem falschen Paradigma?
    Vielleicht kennt ihr, liebe Leser, das Phänomen der „Dunklen Materie und Energie“. Diesem Phänomen sind Astrophysiker auf die Spur gekommen, weil die Drehbewegungen der Galaxien im Universum nicht denen entsprechen, die man aufgrund der bekannten physikalischen Gesetze erwarten würde. So ist man durch Messungen darauf gestoßen worden, dass unsere Grundvorstellungen von der Welt offenbar nicht zutreffen.
  2. Schwarmintelligenz mobilisieren. Je mehr die Führungskräfte in Unternehmen einsame Entscheidungsträger darstellen, je weniger sie auf den 360°-Blick aller Mitarbeiter ihrer Organisation vertrauen und sich kritisches Feedback holen – um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie Opfer ihrer eigenen blinden Flecken werden.
  3. Dunkle Materie: der Halo zeigt die berechnete Verteilung von Dunkler Materie in unserer Milchstraße. Quelle: /2/
  4. Fremde Kulturen studieren. Damit meine ich systematisch Vertreter von Gruppen befragen, die außerhalb unserer eigenen Sphäre leben. Vertreter des anderen Geschlechts, anderer sozialer Schichten, anderer Religionen und Glaubensrichtungen, anderer Länder und Kontinente.


Ich lese zum Beispiel gerade das Buch „Die Organisation des Wissens“ der beiden Japaner Nonake und Takeuchi zum wiederholten Mal /3/ und bin erstaunt, wie viel ich dort über meine kulturellen blinden Flecken erfahre.

Vermeidungen


Warum tun nur wenige Organisationen das? Warum scheuen sie die systematische Suche nach den eigenen fehlerhaften Grundüberzeugungen?

Zum einen gibt es natürlich die wohl mehr unbewusste Befürchtung, was da rauskommen könnte. Noch einmal zum physikalischen Beispiel: Laut aktuellen Schätzungen sollen 95,1% der Gesamtenergie des Weltalls aus Schwarzer Materie und Energie bestehen und nur 4,9% aus der uns bisher allein bekannten wahrnehmbaren Materie und Energie.

Vielleicht ist es bei uns – bei uns Einzelmenschen und in unseren Organisationen – ja ähnlich? Vielleicht denken, fühlen und handeln wir ja zu 95% aufgrund der Dunklen Materie in uns, also der uns selbstverständlichen Fehlvorstellungen? Wäre das nicht furchtbar? Wollen wir das wirklich wissen? Ist es das Risiko wert?

Wissen jenseits allen Kapitals


Anders herum gefragt: Was treibt uns Menschen, es dann doch ab und zu wissen zu wollen? So dass wir doch etwas zu gewinnen hätten?

Mir fällt nichts anderes ein als die Neugier. Und zwar die Neugier auf den anderen Menschen. Bei jeder neugierigen Begegnung mit jemand anderem, bei dem ich zu ergründen suche „Wie tickt der denn?“ – erfahre ich mindestens genauso viel über mich wie über ihn.

Voraussetzung dafür ist, dass ich es ohne Hintergedanken auf Profitmöglichkeiten tue (auch nicht, um „symbolisches Kapital“ anzuhäufen). Wenn ich jemanden anderes erkunde, um ihn besser manipulieren zu können (also sein Profil erstelle zwecks passgenauer Werbebotschaften), werde ich nichts Wertvolles erfahren. Nur wenn ich es zweckfrei tue, mit Empathie auf Augenhöhe, bar auch jedes Mitleids – also in jener Haltung, wie sie Rosenberg in der „Gewaltfreien Kommunikation“ beschreibt -, wird mir jeder Andere ein potenzieller Spiegel meines Selbst.

Na, jetzt habe ich doch noch die Kurve zum heutigen Datum gekriegt. Frohe Weihnachten!

Anmerkungen

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie lassen sich Ergebnisse definieren? - Drei Beispiele (WBS, CBP und BDN)

Ich habe schon darüber geschrieben, warum das Definieren von Ergebnissen so wichtig ist. Es lenkt die Aufmerksamkeit des Projektteams auf die eigentlichen Ziele. Aber was sind eigentlich Projektergebnisse? In diesem Beitrag stelle ich drei Methoden vor, um leichter an Ergebnisse zu kommen.

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Wie Agilität den Kundennutzen steigert - Einige Argumente für Berater:innen

In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit fragen sich viele, ob agile Beratung noch eine Zukunft hat. Die Antwort liegt in der konsequenten Orientierung am Kundennutzen. Qualität setzt sich durch, wenn sie messbare Verbesserungen bei Umsatz, Kosten und Leistungsfähigkeit bewirkt, anstatt sich in Methoden und zirkulären Fragen zu verlieren. Dieser Artikel zeigt, wie agile Beratung nachhaltige Veränderungen in Unternehmen schafft und warum gerade jetzt gute Berater:innen gebraucht werden, um Organisationen widerstandsfähiger zu machen.

Warum eine Agile Transformation keine Reise ist

Die agile Transformation wird oft als eine Reise beschrieben. Doch dieser Vergleich kann viele Unternehmen in die Irre führen oder Bilder von unpassenden Vergleichen erzeugen. Transformationen sind keine linearen Prozesse mit einem klaren Ziel, sondern komplexe und dynamische Entwicklungen. Dieser Artikel zeigt, warum Agilität kein Weg mit einem festen Endpunkt ist.

Kleine Organisationsveränderungen, die direktes Feedback erzeugen

Große Veränderungen sind in einer Organisation schwer zu messen. Oft liegt zwischen Ursache und Wirkung ein langer Zeitraum, sodass die Umsetzer:innen nicht wissen, was genau gewirkt hat. Hier ist eine Liste mit kleinen Maßnahmen, die schnell etwas zurückmelden.

Agile Leadership – Führst du noch oder dienst du schon?

Die Arbeitswelt verändert sich. Und das spüren nicht nur Führungskräfte, sondern vor allem Mitarbeitende. Immer mehr Menschen hinterfragen den Sinn ihrer Arbeit, erwarten Respekt, Vertrauen und eine Unternehmenskultur, die echte Zusammenarbeit ermöglicht. Studien wie die Gallup-Studie 2025 oder die EY-Jobstudie zeigen: Der Frust am Arbeitsplatz wächst – und mit ihm die Unzufriedenheit mit der Führung. Höchste Zeit, umzudenken. Genau hier setzt agile Führung an. 1. Warum agile Führung heute entscheidend ist  Klassische Führung – hierarchisch, kontrollierend, top-down – funktioniert immer weniger. Die Zahlen sind eindeutig:  Laut Gallup fühlen sich nur noch 45 % der deutschen Beschäftigten mit ihrem Leben zufrieden. Fast jede dritte Kündigung erfolgt wegen der Führungskraft. Nicht das Gehalt, sondern mangelnde Wertschätzung, fehlendes Vertrauen und ein schlechtes Arbeitsumfeld treiben Menschen aus Unternehmen.  Agile Führung bietet eine Alternative, die auf Vertrauen, Selbs...

Ent-Spannen statt Platzen: Erste Hilfe für mehr Vertrauen und Resilienz im Team

Zwei Themen die mir in den letzten Wochen immer wieder über den Weg laufen sind Vertrauen und Resilienz. Vertrauen als das Fundament für gemeinsame Zusammenarbeit und Resilienz als die Fähigkeit, Herausforderungen, Stress und Rückschläge zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen.  In dem Blogpost möchte ich ein paar Erste-Hilfe Interventionen teilen, die zu mehr Vertrauen und Resilienz im Team führen können - gerade wenn die Emotionen hochkochen und es heiss her geht im Team. Die „Mist-Runde“: Ärger Raum geben. In konfliktbeladenen oder belasteten Teams kann es eine große Herausforderung sein, eine offene Kommunikation und ein respektvolles Miteinander zu fördern. Eine einfache, aber äußerst effektive Methode, um Spannungen abzubauen, ist die „Mist-Runde“ . Diese Intervention, die ich zuerst bei Veronika Jungwirth und Ralph Miarka kennengelernt habe, gibt den Teilnehmern einen geschützten Raum, in dem sie ihre Frustrationen und negativen Gedanken ohne Zensur äußern können un...

Microsoft Lists: mit Forms und Power Apps komfortabel mobil arbeiten

In meinem Kundenkreis sind viele Menschen, die den Arbeitsalltag nicht vorwiegend auf dem Bürostuhl sitzend verbringen, sondern "draußen" unterwegs sind. Vielleicht in Werkstätten oder im Facility-Management. Es ist so wichtig, dass die Schnittstellen zu den Abläufen im Büro gut abgestimmt sind. Microsoft 365 hat so einiges im Baukasten, man muss es nur finden und nutzen.  In diesem Artikel spiele ich ein Szenario durch, das auf Microsoft Lists, Forms und - für die Ambitionierteren - Power Apps setzt.

Selbstbewertungsfragen für den Alltag in Arbeitsgruppen aus Sicht von Mitarbeitenden

Welche Fragen können wir Mitarbeiter:innen stellen, um herauszufinden, ob agiles Arbeiten wirkt? Es gibt bereits eine Menge an Fragebögen. Aber ich bin nicht immer zufrieden damit.