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Kundenorientierung in der Kommunalverwaltung - und warum "Entbürokratisierung" kontraproduktiv ist

Kundenorientierung ist leanen Projekten quasi in die DNA eingeschrieben. Ein Unternehmen, das am Endabnehmer vorbei produziert, wird dies nicht lange tun. Öffentliche Verwaltungen funktionieren meist anders - aus guten Gründen. Ich wende mich mit diesem Beitrag an Beraterkolleg:innen, die Projekte der Öffentlichen Verwaltung begleiten. Ich teile ein paar Erfahrungen mit und bin gespannt auf die euren.

Herausforderungen für Gemeinden

Auf die Kommunalverwaltungen (und auf diese konzentriere ich mich hier) kommen ständig eine Reihe ganz unterschiedlicher Aufgaben zu. Die Vielfältigkeit dieser Herausforderungen unterscheidet sie von gewerblichen Unternehmen: eine Durchgangsstraße bedarf der Neugestaltung; die örtlichen Schulen sind sanierungsbedürftig; der Bedarf an Kinderbetreuung steigt; ein neues Baugebiet muss ausgewiesen werden usw. Das sind sozusagen "Standardaufgaben".

Daneben treten mehr und mehr Aufgaben, die Auswirkungen der verschiedenen „krisenhaften Welttrends“ auf die örtliche Ebene darstellen: ganz schnell 65 Unterbringungsmöglichkeiten für Kriegsgeflüchtete suchen; eine kommunale Wärmeplanung auflegen; das Pflegeheim hat Insolvenz angemeldet und ganz plötzlich müssen ausreichende Pflegeangebote gesichert werden. - Das sind übrigens alles Beispiele aus meinem Wohnort in Baden-Württemberg, 6.600 Einwohner, 25 Mitarbeiter in der Gemeindeverwaltung, aus den letzten beiden Jahren.

Ein technokratisches Handlungsmodell

Die Verwaltungen vieler Kommunen (und ich selber habe jahrelang in der Kommunalverwaltung gearbeitet und war daran beteiligt) haben für die Bearbeitung solcher Herausforderungen eine quasi standardisierte Herangehensweise entwickelt:
  • ein Problem taucht auf
  • die Verwaltungsspitze schlägt dem Gemeinderat ein Projekt vor
  • dazu gehört schon ein Projektrahmen (qualitativ, zeitlich, finanziell)
  • die gewählten Vertreter billigen den Auftrag, das Projekt in Angriff zu nehmen
  • die Verwaltungsspitze beauftragt ein Fachbüro mit der konkreten Planung
  • das Fachbüro erstellt den Plan
  • der fertige Plan wird in einer nicht-öffentlichen Sitzung den Gemeinderäten präsentiert
  • er wird auch den Bürgern bekanntgegeben
  • der fertige Plan wird vom Gemeinderat gebilligt
  • das Projekt geht in die praktische Umsetzung.

Den Hintergrund für diese Art von kommunalem Wasserfallmodell bilden verschiedene "gute Gründe":

  1. Es fehlt die Fachexpertise. 25 Leute können unmöglich über die Vielfalt der Themen Bescheid wissen (ein ähnlich kleines Unternehmen hat ein oder zwei "Produkte" im Angebot, eine Gemeindeverwaltung knapp 100). Also liegt es nahe, Sachverstand einzukaufen.
  2. Selbst die Projektsteuerung überfordert scheinbar die vorhandenen Personalkapazitäten. Also wird auch die "Bauherrenfunktion" an das Fachbüro outgesourced.
  3. Gemeinderäte und Bürgermeister sind Menschen (Stand 2024), und sie wollen wiedergewählt werden. Sie wollen Bürger nicht mit Problemen und Risiken konfrontieren, sondern sich als "Lösungsbringer" darstellen, die alle Herausforderungen meistern. Transparenz des Verwaltungshandelns würde dieses Bild gefährden.

Ein Beispiel aus der Praxis

In meiner Gemeinde wurde im Herbst 2023 das Projekt "Kommunale Wärmeplanung" gestartet. Ein Antrag auf Fördermittel wurde durch das Land positiv beschieden. Dadurch muss die Kommune nur 10% der Kosten tragen.

Eine Umwelt- und Energieagentur aus der Umgebung wurde beauftragt. Sie bringt die notwendige Expertise ein (unverzichtbar), steuert aber auch das Projekt bis zur Fertigstellung der Planung (fragwürdig).

Eine Beteiligung der Bürger war nur minimal vorgesehen: der erste Entwurf des Plans sollte auf der Website der Gemeinde zum Download bereitgestellt werden und die Bürger hatten drei Wochen Zeit, "Fragen" einzureichen. Mehr nicht.

Daraufhin hat sich eine Gruppe von sechs Gemeindemitgliedern zusammengetan und vor Beginn der Arbeit der Agentur, schon im Februar 2024, diese zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen. Der Mitarbeiter der Agentur kam auch zu der Veranstaltung (ehrenamtlich, ohne Auftrag und Bezahlung durch die Gemeinde), stellte seine Herangehensweise vor und diskutierte stundenlang mit den ca. 35 Anwesenden. 

Im Juli 2024 wurde dann sein erster Entwurf eines "Kommunalen Wärmeplans" auf der Webseite veröffentlicht und - gemäß der Roadmap der Verwaltung - nur dem Gemeinderat am 09.11.2024 in nicht-öffentlicher Sitzung präsentiert. Die Bürgergruppe lud dann ihrerseits für den 30.11.2024 zu einer öffentlichen Diskussion des Planungsstandes ein. Und wiederum kam der Kollege von der Agentur und hielt seinen Vortrag nun vor den Teilnehmern und stellte sich der Diskussion.

Diesmal waren es nur 16 Teilnehmer, viel weniger als im Februar. Aber die, die gekommen sind, hatten zum großen Teil Expertenstatus. Die Themen Oberflächengeothermie, Tiefengeothermie, Kältenetze und Produktion und Verteilung Grünen Wasserstoffs waren vertreten, teilweise durch Forschende an der benachbarten Universität. Und natürlich auch Bürger:innen ohne Fachkenntnisse, aber mit großem Interesse an fundierten Informationen. Ein Teilnehmer hatte aus Eigeninitiative ein eigenes Referat mitgebracht, in dem er moderne Anlagen für mehrere Gebäude dem traditionell-individuellen Ansatz "jedem Haus seine eigene Wärmepumpe" gegenüberstellte. Durch intime Kenntnisse der Ortsansässigen wurden Informationen in die Diskussion gebracht, die auch der beste externe Energieberater niemals mitbringen konnte ("das kommunale Gebäude xy hat schon einen Tiefenbrunnen, und der könnte noch mindestens fünf Nachbargebäuden als Wärmepumpe dienen - wir als Feuerwehrleute wissen das, aber die Gemeindeplaner anscheinend nicht"). 

Das agile Modell der Bürgerräte

Das Beispiel soll zeigen (natürlich nur auf anekdotischem Niveau), dass eine Einbeziehung zivilgesellschaftlichen Engagements und Fachkenntnis einer Verwaltung keine zusätzliche Arbeit machen muss, sondern ihren Projekten Energie zuführen kann und die Ergebnisse qualitativ besser macht. 
Die Gemeinde Kingersheim im Elsass - europaweit führend durch ihr ausgefeiltes Konzept der Bürgerbeteiligung - hat in den letzten 30 Jahren ein anderes Modell für kommunale Projekte erprobt:
  • ein Problem taucht auf
  • das Problem wird öffentlich gemacht auf allen zur Verfügung stehenden Medien (Website, SMS-Verteiler, lokale Presse, Kingersheimer Gemeindemagazin, Social Media ...)
  • die Verwaltung lädt zu einer öffentlichen Versammlung ein
  • dort stellen eventuell Experten schon die Komplexität des Projekts vor
  • es wird ein Bürgerrat gebildet, der den Kern der Projektarbeit leisten soll und am Ende Vorschläge für Lösungen des Problems erarbeiten soll; die Bürger werden zur Mitarbeit eingeladen;
  • Beteiligte am Bürgerrat sind: betroffene Bürger und/oder aus dem Melderegister ausgeloste Bürger + Fachexperten + zwei oder drei Gemeinderäte; die Bürgervertreter stellen immer die deutliche Mehrheit im Bürgerrat. Das ist das crossfunktionale Entwicklungsteam.
  • Das Team erhält eine quasi professionelle Ausbildung durch die Fachexperten - oft über mehrere Wochenenden. 
  • Es wird in Sprints gearbeitet, deren Länge und Anzahl vom Projektumfang abhängt.
  • Die Zwischenstände der Diskussion werden ständig veröffentlicht.
  • Über die Lösungsvorschläge des Projekts wird am Ende vom gewählten Gremium abgestimmt.
  • Je nach Art des Projekts wird auch die Umsetzung der Lösung vom Bürgerrat begleitet. 
Sitzung eines Bürgerrats in Kingersheim (Elsass)


Was den Unterschied macht

Es gibt den Ruf nach "Entbürokratisierung". Er bezieht sich auf die Vielzahl von Vorschriften, die für das Handeln von Bürgern und Unternehmen gelten. Das ist hier nicht das Thema. Und er bezieht sich auf das "träge" Handeln der Kommunen selbst - das sind die Projekte, von denen hier die Rede ist.

Entbürokratisierung in diesem Sinne ist reiner Populismus. Die Forderung zielt hier einfach auf noch mehr Outsourcing kommunaler Entscheidungen hin zu Fachbüros. Aber die Stärkung der externen Büros wird das Problem nicht lösen, sondern verstärken. Externe Expertise ist absolut notwendig, weil die Kommunen aus den genannten Gründen fast kein hochspezialisiertes Fachpersonal beschäftigen können. Aber externe Expertise kann weder kleinteilige Informationen mit vertretbarem Aufwand beschaffen noch kann sie die Zukunftsvisionen der Bewohner eines Dorfes oder eines Stadtviertels herausbekommen. Das können nur die Einwohner selbst.

Die Beteiligung der Bürger an der Lösungssuche kann die Gemeindeverwaltungen entlasten (obwohl diese das zur Zeit in ihrer großen Mehrheit nicht so sehen), sie kann zu besseren Lösungen führen und vor allem stärkt sie das soziale „Bindungsgewebe“ im Ort. Die gemeinsamen Herausforderungen werden von den Betroffenen selbst besprochen, man kommt in einen Dialog miteinander und mit Verwaltung und Gemeinderat.

Das technokratische Modell drängt die Betroffenen in die Rolle unmündiger Kinder, die entweder gar nichts zu sagen haben oder zu den Entwürfe eines Fachbüros gerade mal "Wünsche"  äußern dürfen. In einem Bürgerrat haben dessen Mitglieder Gestaltungsmacht. Sie haben aber auch die Verpflichtung, sich Fachwissen anzueignen und verantwortlich mit den Beschränkungen umzugehen - z.B. die Grenzen eines kommunalen Budgets mit in ihre Überlegungen einzubeziehen. 

 

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