Direkt zum Hauptbereich

Ein Grundverständnis von Kanban

Können Sie die Prinzipien von Kanban gut erklären? Sehen wir uns ein Beispiel an.

Kanban: Weniger arbeiten, um mehr zu erreichen

Kanban wird oft auf eine Technik reduziert, bei der man auf ein Board verschiedene Spalten zeichnet und mit maximalen Aufgabenmengen versieht, die sich in jeder Spalte befinden dürfen. Aber um ein Team zu befähigen, wirklich aktiv mit dieser Technik zu spielen und sie selbst weiter zu entwickeln, ist ein wirkliches Grundverständnis unumgänglich.

Die meisten Organisationen glauben, dass es sie effizienter macht, wenn sie an mehreren Aufgaben oder Projekten gleichzeitig arbeiten. Das erhöht doch die Auslastung: wenn eine Aufgabe mal stockt, switcht man halt schnell zu einer anderen rüber. Je mehr alle zu tun haben, um so mehr Arbeit wird doch auch erledigt, oder?

Die auslösende Erkenntnis von Kanban war: „Das stimmt nicht.“ Und um diese, auf den ersten Blick nicht einleuchtende Behauptung zu verstehen, lässt man sich am besten auf ein Gedankenexperiment ein.

Grundverständnis erreichen mit einem einfachen Experiment

Das Setting des folgenden Experiments beruht auf einem Video von David Lowe, das ich in eine Powerpoint-Präsentation übersetzt habe. Die Präsentation kann sich jeder runterladen /Anmerkung 1/. Das Experiment ist denkbar einfach: es demonstriert das Kanban am Beispiel eines McDonald-Autoschalters. Der Drive-in (amerikanisch: Drive-thru) besteht aus drei Schaltern: einem zum Bestellen, einem Bezahlschalter und ein Schalter, an dem man die Ware in Empfang nimmt:

Die Schalter eines McDonald-Drive-Ins.

Die Zeiten, die man als Kunde durchschnittlich an einem Schalter verbringt, sind unterschiedlich: am ersten 20 Sekunden, am zweiten 30 Sekunden und am letzten 40 Sekunden. Wenn man ein Auto probehalber durch den Drive-in fahren lässt, ergibt sich folgende Abfolge:



Bildleiste 1: Bei einem Work in Progress von maximal 1 Auto ist die Durchlaufzeit 90 Sekunden und der Durchsatz 0,67 pro Minute
Wir haben in jedem Bild eine gelbe Zeitleiste, die unten mitläuft. Bei 0 Sekunden fährt der Wagen ein. Nach 20 Sekunden ist er am ersten Schalter abgefertigt und fährt zum zweiten. 30 weitere Sekunden und er fährt zum Empfangsschalter. Nochmal 40 Sekunden, und er kann mit seiner Ware den Drive-in verlassen.

Insgesamt hat er 90 Sekunden gebraucht, das ist seine Durchlaufzeit. Und er war der einzige Kunde, der in dieser Zeit abgefertigt wurde, d.h. der Durchsatz betrug 0,67 Kunden pro Minute. wir haben hier die Anzahl der gleichzeitigen Kunden auf einen Kunden begrenzt. Der Fachbegriff ist WIP-Limit (work in progress).

Ein System in Überlast

Jetzt beginnt das eigentliche  Experiment. Wir lassen mehrere Autos gleichzeitig in den Drive-in einfahren, aber  maximal 5. Was passiert?

Immer, wenn ein Auto rechts aus dem Bild rausfährt, kann ein neues links zum Drive-in hineinfahren. Wir haben es hier rot markiert. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Uhr zu laufen: die Zeitleiste zeigt 0 Sekunden.



Nach 20 Sekunden kann das Auto zum Bezahlen-Schalter vorrücken. Aber der Schalter ist durch eine Schlange versperrt. Unser Auto muss sich hinten einreihen.

Erst nach 50 Sekunden sind die beiden Wagen vor ihm abgefertigt. Es kann jetzt selbst zum Bezahlschalter vorrücken.


Weitere 30 Sekunden, und unser Kunde hat bezahlt. Theoretisch könnte er jetzt zum Empfangsschalter, aber da hat sich wieder eine Schlange gebildet. Es heißt, nochmal warten.


Erst nach einer weiteren Minute kann er vorrücken.

Bildleiste 2: Bei einem Work in Progress von maximal 5 Autos ist die Durchlaufzeit 200 Sekunden und der Durchsatz 1,5 pro Minute

Nochmal 40 Sekunden Abfertigungszeit, und er kann den Drive-in verlassen. 90 Sekunden war er an den Schaltern, aber insgesamt 110 Sekunden hat er mit Warten verbracht. Durchlaufzeit demnach: 200 Sekunden. Aber in dieser Zeit wurden 5 Kunden abgefertigt: Der Durchsatz beträgt nun 1,5 Kunden pro Minute.

Das System ist überlastet. Es bilden sich Schlangen. Warum? Der Schalter 2 ist langsamer als Schalter 1. Schalter 1 produziert mehr abgefertigte Kunden, als Schalter 2 aufnehmen kann. Und dieser selbst ist wieder schneller als der Folgeschalter 3: auch vor Schalter 3 bildet sich eine Schlange.

"Auslastung steigern": völlig kontraproduktiv

Was sich auf Seite der Kunden als Wartezeit niederschlägt, bewirkt auf Seite der Mitarbeiter in den Schaltern ebenfalls Leerlauf. Bei welchen Schaltern? Schalter 3 ist immer ausgelastet. Immer, wenn ein Auto seine Ware empfangen hat und den Drive-in verlässt, rückt sofort ein Kunde aus der Warteschlange nach. Das Gleiche gilt für den Bezahlschalter. Wenn er einen Kunden abgefertigt hat und in die Warteschleife vor dem nächsten Schalter schickt, erhält er sofort Nachschub von Schalter 1.
Aber dieser Schalter hat regelmäßig nichts zu tun. Maximal 5 Autos werden ins System gelassen, und wenn die sich an den beiden Folgeschaltern oder in den Warteschlangen davor befinden, haben die Mitarbeiter am Bestellschalter nichts zu tun.
"So geht's aber nicht", denkt der Manager, und erhöht das WIP-Limit von 5 auf 6 oder 7. Die Wirkung können wir uns aufgrund der folgenden Tabelle ausrechnen.

Ab einem bestimmten WIP-Limit erhöht sich der Durchsatz nicht mehr, sondern führt nur zu einer Verlängerung der Durchlaufzeit.
Wenn ich das WIP-Limit von 2 auf 3 erhöhe, steigt der Durchsatz nicht mehr. Er beträgt immer 1,50 abgefertigte Kunden pro Minute. Das kann ich übrigens schon oben aus der allerersten Abbildung ableiten, in der die Verweilzeiten an den Schaltern stehen. Schalter 3 bildet den "Flaschenhals" des Systems: er ist am arbeitsintensivsten und braucht 40 Sekunden pro Auto. D.h. durch diesen Flaschenhals "fließen" 1,5 Autos pro Minute, wenn regelmäßig für Nachschub gesorgt wird (das war nur bei WiP=1 nicht der Fall). Die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems wird durch seinen Flaschenhals begrenzt. Eine Steigerung von 4 auf 5 Kunden gleichzeitig im System erhöht nur deren Wartezeiten, nicht den Durchsatz. Und das gilt selbstverständlich auch für die nächsten Werte WIP = 6, 7 usw.
Wenn ich das WIP-Limit überhaupt nicht begrenzen würde, sondern so viele Kunden in den Drive-in lassen würden, wie vor dem Tor einfahren möchten: dann würden tendenziell die Warteschlangen und die Wartezeiten ins Unendliche wachsen. Die scheinbare Kulanz den Kunden gegenüber: "Wir weisen niemanden ab, wir bedienen alle", schlägt gegen die Kunden zurück.
Die Strategie unseres fiktiven Managers, die Auslastung zu steigern, führt nur zu wachsender Unproduktivität. Auch Schalter 1 ist dann dauernd ausgelastet, aber sein Produkt besteht in wartenden Kunden, nicht in ausgelieferter Ware. Viel produktiver wäre es, wenn die Mitarbeiter unausgelastet blieben und sich Gedanken um Verbesserungsmaßnahmen machen würden, zu denen sie sonst nie Zeit haben.

Hinschauen, was ist

Die erste - und keineswegs unwichtigste - Funktion von Kanban ist: die Visualisierung von dem, was ist. In unserer traditionellen Ingenieurskultur ist das "Tun" als wichtiger Wert stark verankert, "die Ärmel hochkrempeln" gilt als erfolgreiche Lebensweise. Nachdenken wird oft etwas skeptisch betrachtet. 

Die vorherrschende Daseinsform der Mitarbeiter in vielen Abteilungen - gerade auch die mit vielen Projekten, also IT-Abteilungen oder oft auch die Orga - ist das Hamsterrad: ständige Überlastung und Stress bei gleichzeitig endlos sich verlängernden Projektzeiten. Das japanische Genchi Genbutsu ("zur Quelle gehen"), Teil des Toyota-Produktivsystems, rät uns in solchen Fällen, die Fakten an der Basis zu untersuchen. Wir sollen lernen, empirisch zu arbeiten, damit unsere Entscheidungen wohlbegründet werden und nicht dem Voluntarismus in die Falle gehen. Kanban ist ein praktischer Weg, diese Werte zum Leben zu bringen.

 Anmerkungen

/1/ Jan Fischbach hat auf diesem Blog auf das Video von David Lowe aufmerksam gemacht.  (siehe http://www.teamworkblog.de/2016/09/kanban-lohnt-es-sich-wirklich-die-menge.html) Wir beide zeigen dieses Video oft in unseren Seminaren:




Ich habe nun aber festgestellt, dass dieses Video vielen Teilnehmern zu schnell geht, um es wirklich zu vestehen. Ich habe es deshalb in eine Powerpoint-Präsentation übertragen, die ich gerne unseren Lesern zur Verfügung stelle (https://agileverwaltungorg.files.wordpress.com/2020/02/kanban-nach-david-lowe-20200211.pptx).
Die Präsentation erlaubt es im Unterschied zum Film, an einzelnen Stellen innezuhalten, gezielt zu einer Folie wieder zurück- und vorzuspringen und die Teilnehmenden sich aktiv in die Vorführung einzubringen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Agile Sternbilder: Die Entdeckung kosmischer Agilitäts-Superkräfte

Hast du dich je gefragt, ob dein Sternzeichen deine Fähigkeiten in einer agilen Arbeitsumgebung beeinflusst? In diesem Blogpost tauchen wir ein in die faszinierende Welt der Astrologie und ihre mögliche Verbindung zu modernen Arbeitsweisen. Entdecke, wie die Sterne deine agilen Stärken prägen könnten. Ob überzeugter Agilist oder neugieriger Sternzeichenliebhaber – dieser Artikel kann dir neue Perspektiven eröffnen und vielleicht sogar dein nächstes Teamprojekt inspirieren!

Den passenden Job finden

Hier teile ich, wie ich daran arbeite, endlich den richtigen Job zu finden. Kleingedrucktes: Dieser Artikel richtet sich (natürlich) an jene, die gerade in der luxuriösen Position sind, dass sie nicht jedes Angebot annehmen müssen. Anstatt von Engagement zu Engagement zu hetzen und frustriert zu sein über Konzernstrukturen, fehlende Ausrichtung und die Erkenntnis, dass in einem selbst beständig die Hintergrundfrage nagt, ob es das ist, womit man seine immer knapper werdende Lebenszeit wirklich verbringen möchte, gibt es manchmal auch die Möglichkeit, die nächste berufliche Station etwas nachhaltiger auszusuchen - auch, um tatsächlich (etwas) mehr beitragen zu können.

Die Microsoft Teams-Not-To-Do-Liste

Viele hoffen, dass es  für die Einrichtung von Microsoft Teams  den Königsweg gibt, den perfekten Plan – doch den gibt es leider (oder glücklicherweise?) nicht. Genauso wenig, wie es jemals einen Masterplan für die Organisation von Gruppenlaufwerken gab, gibt oder je geben wird. Was gut und vernünftig ist hängt von vielen Faktoren und ganz besonders den Unternehmensprozessen ab. Sicher ist nur eines: Von alleine entsteht keine vernünftige Struktur und schon gar keine Ordnung. Dafür braucht es klare Entscheidungen.

Agilität ist tot. Ausgerechnet jetzt?

Agilität wird zurückgefahren, Hierarchien kehren zurück. Doch ist das wirklich der richtige Weg in einer Welt, die immer unberechenbarer wird? Oder erleben wir gerade eine riskante Rolle rückwärts?

Wie beschreibt man einen Workshop für eine Konferenz?

Konferenzen bieten immer ein gutes Forum, um sein Wissen und seine Erfahrungen zu teilen. Was für die Vortragenden selbstverständlich scheint, ist für die Besucher:innen oft unverständlich. Wie können Vortragende ihren Workshop in 2-3 Sätzen beschreiben, damit die Besucher:innen schnell einschätzen können, er sich für sie lohnt?

Gemeinsam eine Anwenderdokumentation erstellen

Unternehmenssoftware ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Anwenderinnen und Anwendern, den Unternehmensprozessen und den Ergebnissen. Normalerweise schreibt der Hersteller der Software die Dokumentation für diejenigen, die die Software benutzen. Wenn die Software allerdings stark angepasst wurde, muss die Dokumentation von denen kommen, die die Prozessmaschine am besten verstehen - den Anwenderinnen und Anwendern. Wie könnte man das praktisch machen?

Scrum und Hardware: Es kommt auf die Basics an

Man kann Hardwareprodukte agil entwickeln. Zum einen kommt Scrum aus der Hardwareentwicklung. Die Softwerker haben die Hardwarekonzepte auf ihre Situation übertragen. Zum anderen hat Hardwareentwicklung heute ganz viel mit Software zu tun. Gerade in frühen Phasen kann man sich mit Simulationen noch viele Wege offen halten und mehrere Pfade parallel verfolgen. In diesem Beitrag empfehle ich eine Podcastfolge und ein Buch, für alle, die mit der Geschwindigkeit ihrer Hardwareentwicklung nicht zufrieden sind.