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Der Beitrag der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) zum agilen Vorgehen

„Ist GFK agil?“ – die Frage taucht ab und zu in Webinaren oder Webkonferenzen auf. Und eigentlich liegt die Antwort nahe: beide Strömungen stammen aus ganz unterschiedlichen Quellen und haben bislang nicht viel miteinander zu tun. Schauen wir aber näher hin, ergeben sich ganz tiefe Parallelen zwischen den grundlegenden Konzepten beider Schulen. Wir als "Agilisten" können viel von der GFK lernen, und umgekehrt würde es uns stärker machen, wenn wir in dem oder jenem GFK-Praktiker Verständnis für unsere Anliegen finden könnten. Diese Parallelität, wie ich sie empfinde, will ich hier anhand der Rolle der „Beobachtung“ erzählen.

Beobachtung in der Gewaltfreien Kommunikation

Zu beobachten, ohne irgendeine Frage, die eine Antwort erwartet, bedeutet unendliche Wachsamkeit.
(Jiddu Krishnamurti)
Das Konkrete ist das Wahre.
(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)


Beim Umgang mit Konflikten schlägt GFK ein Vier-Schritte-Modell vor (siehe Anmerkung 1):
  1. Beobachtung: Was ist geschehen?
  2. Gefühle: Wie fühle ich mich?
  3. Bedürfnisse: Welche meiner Bedürfnisse wurden konterkariert?
  4. Eine Bitte äußern
Dieses Schema, die ihm zugrunde liegenden Grundüberlegungen und seine gesamte Logik will ich hier nicht darstellen. Mir geht es erst einmal nur um den ersten Schritt „Beobachtung“.
Wenn Marshall B. Rosenberg (1934-2015), der die Gewaltfreie Kommunikation entwickelt hat, ein Konzept erläutert, so tut er dies immer in Gegenüberstellung eines „gewaltsamen“ Begriffs. Der Gegenbegriff zu „Beobachtung“ ist „Bewertung“ oder genauer: spontane, unreflektierte, nicht belegte Bewertung.

Bevor ich jetzt langatmige theoretische Ausführungen beginne (wozu ich, lieber Leser, durchaus in der Lage wäre), liefere ich euch eine Geschichte, von Rosenberg selbst erzählt:
„Für die meisten von uns ist es schwierig, Menschen und deren Verhalten in einer Weise zu beobachten, die frei ist von Verurteilung, Kritik oder anderen Formen der Analyse.
[Einmal arbeitete Rosenberg mit einem Lehrerkollegium, das Kommunikationsprobleme mit dem Direktor hatte.] Ich eröffnete das Meeting mit der Frage an die Lehrer: „Was tut der Direktor, durch welche Handlung gerät er in Konflikt mit Ihren Bedürfnissen?“ „Er hat eine große Klappe!“, war die umgehende Antwort. Ich hatte nach einer Beobachtung gefragt, und auch wenn mir die „große Klappe“ etwas darüber sagt, wie der Lehrer seinen Direktor beurteilt, gibt sie mir keine Auskunft darüber, was der Direktor konkret gesagt oder getan hat, was wiederum zur Interpretation des Lehrers, „er hat eine große Klappe“ geführt hat.
Als ich darauf hinwies, bot eine Lehrerin an: „Ich weiß, was er meint, der Direktor redet zu viel!“ Statt einer klaren Beobachtung war auch dieses eine Bewertung … Dann erklärte eine andere Lehrerin: „Er meint, nur er hätte etwas wichtiges zu sagen.“ Ich erläuterte, dass es nicht das gleiche ist, zu interpretieren, was jemand anderes denkt, und sein Verhalten zu beobachten. (…)
Anschließend erarbeiteten wir gemeinsam eine Liste mit dem genau beschriebenen Verhalten des Direktors, das sie störte … Zum Beispiel erzählte der Direktor während der Fachbereichstreffen Geschichten aus seiner Kindheit und seinen Kriegserlebnissen, wodurch die Meetings manchmal 20 Minuten länger als geplant dauerten.“ (Anmerkung 2)
Merkt ihr die Unterschiede, liebe Leser?
  • Eine Bewertung wie „er hat eine große Klappe“ erscheint ganz machtvoll, aber sie ist ganz schwach. Ein Scheinriese wie bei Michael Ende. Sie erzeugt kein präzises Bild im Kopf des Zuhörers. Ganz anders die Beobachtung: das Bild eines salbadernden, abschweifenden, seine Zuhörer in Verhaftung nehmenden Vorgesetzten – da fängt es an, plastisch zu werden. Nur konkrete Schilderungen spiegeln Wirklichkeit. Das ist, was Hegel mit seinem Satz meint: „Das Konkrete ist das Wahre.“
  • Bewertungen schneiden die Kommunikation ab. Wie soll ein Lehrer auf den Direktor zugehen und mit ihm den Konflikt ansprechen, wenn er nur zu sagen hat: „Sie haben eine große Klappe!“ Selbst wenn der nicht einfach ärgerlich und abwehrend reagieren würde – er kann überhaupt nicht verstehen, was der Lehrerkollege konkret meint und was er von ihm will.
Für Rosenberg stellt diese Reduktion einer Situationswahrnehmung auf die Bewertung einen Akt der Gewalt dar. Man spricht ja auch von „Subsumtion“ einer Situation unter einen Begriff, zu deutsch „Unterordnung“. Also ein hierarchisches (Macht-)Verhältnis. Wenn man diese Rosenbergschen Gedanken mal auf Konzepte wie „Steuern durch Kennzahlen“, KPI’s und so weiter hin durchdenkt, merkt man, wie sehr uns diese dauernden, spontanen, ganz unwillkürlich und weithin unbewussten Bewertungen, die wir vornehmen, von der Wirklichkeit wegführen. Während sie doch vorgeben, uns bei der Steuerung der Welt (und der sozialen Beziehungen) zu ermächtigen.
Albrecht Dürer: Das große Rasenstück. Mit dem Hinschauen auf das Unscheinbare, einer subtilen Kritik an Vorstellungen von Größe und Wichtigkeit, war ein großer Schritt in die Moderne verbunden.

Anknüpfungspunkte in der agilen Welt

Merkt ihr, wie viele Parallelen es zu agilen oder auch einfach „leanen“ Vorgehensweisen gibt? Als Erstes kommt mir das Prinzip des „Genchi Genbutsu“ in der Toyota Wertegrundlage in den Sinn. /Anmerkung 3/ Genchi Genbutsu heißt auf Deutsch etwa „zur Quelle gehen“ und besagt, dass sich man an den Ort des Geschehens begeben soll, wenn man ein Problem lösen möchte, und sich nicht auf Berichte aus Drittquellen verlassen. Das Beispiel dafür ist das Vorgehen des alten Toyota-Chefs Sakichi Toyoda, der selbst in die Werkhallen ging, um sich ein Bild von den Verhältnissen in der Produktion zu machen. Sich bei der Führung seines Unternehmens auf Controllingberichte von Abteilungsleitern zu verlassen, die selbst das Destillat der Berichte untergeordneter Bereiche sind und demgemäß völlig farb- und geschmacklos – wäre Toyoda nie in den Sinn gekommen.

Und wir?

Die Art und Weise, wie Rosenberg oben die Situation im Lehrerkollegium schildert, ist selbst beobachtend und überhaupt nicht bewertend. Das macht die Situation so lehrreich. Wir Leser können aus einer solchen Schilderung sehr viel mehr lernend mitnehmen als aus theoretischen Betrachtungen.
Das stellt aus meiner Sicht auch einen erheblichen Mangel unserer Publikationen dar. Häufig schreiben wir theoretische Artikel, aus denen man nicht viel mitnehmen kann außer der Meinung des Autors über den Zustand der Welt. Was wir viel mehr gebrauchen könnten, wären einfach Schilderungen von konkreten Situationen in konkreten Organisationen.
Eigentlich wollte ich heute mit gutem Beispiel vorangehen. Aber jetzt ist wieder nichts draus geworden.


Anmerkungen

  • /1/ Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junfermann Verlag, 11. Auflage, 2013. ISBN 978-3-87387-454-1. Einen sehr guten ersten Einblick, gerade in die philosophischen Grundlagen, vermittelt auch: Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch gewaltfreie Kommunikation. Ein Gespräch mit Gabriele Seils. Herder Verlag, Spektrum Band 5447, 15. Auflage 2012, ISBN 978-3-451-05447-1
  • /2/ Gewaltfreie Kommunikation, Seite 48 f.
  • /3/ Siehe „Die beiden Säulen des Toyota-Produktivsystems“. https://www.toyota-europe.com/world-of-toyota/this-is-toyota/the-toyota-way

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