Direkt zum Hauptbereich

Von Platon zur „best practice“: Ein japanischer Blick auf unser westliches Wissensmanagement

Lernen wir schnell genug? Sind wir in der Lage, im Bedarfsfall rasch das nötige Wissen zu generieren, um plötzlich auftretenden Umschwüngen in unserer Umwelt gerecht zu werden? Was befähigt uns, gemeinsam unsere Unternehmen, unsere Organisationen und schließlich unsere Lebenswelt aktiv zu gestalten? Über "Die Organisation des Wissens" von Nonaka und Takeuchi.

Über die Feiertage und den Jahreswechsel war Muße, um sich einmal wieder diesen Fragen, die aus großer Flughöhe gestellt werden, zuzuwenden. Und weil das einem selbst immer schwer fällt, kann es nützlich sein, jemandem von „ganz weit weg“ zuzuhören, der zumindest nicht in der gleichen Filterblase wie wir selbst lebt. Ich habe dafür das Buch der beiden fernöstlichen Autoren Nonaka und Takeuchi „Die Organisation des Wissens“ /1/ erneut zur Hand genommen.

Wissen als Gegenstand des Zweifels

 



Was ich so interessant finde an dem Buch ist, dass die Autoren einen ganz langen, mehrtausendjährigen Bogen spannen. Sie beginnen mit Platon und seiner Erkenntnistheorie und zeigen dessen geistige Auswirkungen bis zur modernen Managementtheorie. Das heißt für mich, dass wir extrem tief verwurzelte Überzeugungen oder mehr noch: Bilder, Gestalten in uns tragen, die für uns unsere Stellung in der Welt beschreiben.
N&T stellen fest: Japan hat gar keine „Erkenntnisphilosophie“, aber der Westen hat eine. Platon sagt: "Erkenntnis ist die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung." (N&T, Seite 38)

Die westliche Philosophie, so N&T, nimmt so schon an ihrem Ausgangspunkt verschiedene Weichenstellungen vor:
  1. Sie beginnt mit einem Zweifel, nämlich ob unsere Vorstellungen „richtig“ sind. Dieser wiederum beruht auf einer vorgängigen Spaltung, nämlich zwischen Mensch und menschlichem Geist auf der einen und Welt und Natur auf der anderen Seite.
  2. Aufgabe des Geistes ist es also, sich mit seinen Vorstellungen an die Welt anzupassen. Deshalb kommt er im platonischen Bild zweimal vor: einmal entwickelt er Vorstellungen von der Natur. Und dann schwebt er nochmal quasi darüber und prüft, ob die Vorstellungen auch wirklich deckungsgleich mit der Natur sind (siehe Abbildung 1). Davon, wie diese Überprüfung geht, handele – so N&T – die gesamte westliche Philosophiegeschichte: deduktiv, induktiv, Mittelweg...
  3. Erst wenn man die Wahrheit hat, kann man handeln. Nur wenn die Vorstellungen des Menschen von der Welt „richtig“ sind, haben seine Pläne eine Chance, Erfolg zu haben. Erst der große Plan – dann die Praxis. - Auf diese Weise wirkt das uralte griechische Denken in unsere heutige Unternehmenspraxis fort.
  4. Die, die die Wahrheit haben, müssen sie denjenigen, die sie noch nicht haben, „beibringen“. Wahrheit hat im westlichen Verständnis etwas mit Hierarchie und Macht zu tun. Es gibt diejenigen, die die Pläne machen (machen müssen! und zwar bitte fehlerfrei!), und andere, die sie ausführen.

Abbildung 1: In Platons Philosophie muss der Geist prüfen, ob seine eigenen Vorstellungen mit der Natur übereinstimmen.

Wissensschaffung statt „reiner Erkennnis“

 

Ich habe mal versucht, in einer Synopse westliche und japanische Vorstellungen von Wissen und Erkenntnis gegenüberzustellen. Einen Ausschnitt zeigt die Abbildung 2.

Abbildung 2: Gegenüberstellung einiger Vorstellungen von Wissen im Westen und in Japan

Dabei erscheinen mir zwei Unterschiede die größte praktische Bedeutung zu haben:
  1. Nonaka und Takeuchi betonen den Umstand, dass wir Menschen (in und außerhalb von Unternehmen) selbst Wissen schaffen. Wir sind schöpferisch tätig. Wir werden so selbst Quelle von Informationen. Das unterscheidet sich ganz radikal von Platon, bei dem der Philosoph in seiner Akademie sitzt und von außen auf die Welt schaut.
  2. Westliche Unternehmen tun das natürlich auch, sie schaffen auch dauernd neue Produktideen und neue Herstellungsverfahren. Aber sie haben keinen Begriff davon. In der westlichen Vorstellung ist es immer der Einzelne, der Wissen „hat“. Bei N&K ist es das Team, das Wissen schafft.
Eine Stelle hat mir im Buch besonders gut gefallen. Darin stellen die Autoren den Staffellauf und Rugby als zwei Sportarten gegenüber, als Metaphern für unterschiedliche Bilder von Wissensweitergabe und Wissenserzeugung:
„In dieser Studie (ihrem Buch, d. Verf.) benutzten wir Rugby als Metapher, um die Geschwindigkeit und Flexibilität zu beschreiben, die japanische Unternehmen bei der Entwicklung von Neuprodukten an den Tag legen. (…) Der Ball, der im Team weitergegeben wird, repräsentiert ein gemeinsames Verständnis: wofür das Unternehmen steht, wohin es steuert, in welcher Welt es existieren und wie es diese Welt verwirklichen will. (…)
Aber wie wird der Ball beim Rugby weitergegeben? Im Gegensatz zum Stab im Staffellauf bewegt sich der Ball nicht auf eine genau festgelegte und strukturierte Weise. Er bewegt sich nicht linear und sequenziell. Die Bewegung des Balls beim Rugby entspringt dem Zusammenspiel der Teammitglieder auf dem Feld, die sich dank ihrer unmittelbaren Erfahrung im Augenblick (im ‚Hier und Jetzt‘) für einen geeigneten Spielzug entscheiden. Voraussetzung dafür ist eine intensive und anstrengende Interaktion der Teammitglieder.“

Was es uns bringt

 

Ich habe mit Veronika Lévesque darüber gesprochen, ob die Auskünfte von Nonaka und Takeuchi bedeuten, dass die Japaner es in ihrer Arbeitswelt „besser“ machen. Denn gleichzeitig erreichen uns doch ganz andere widersprechende Nachrichten: von grassierendem Burn-out in japanischen Unternehmen bis hin zu Selbstmorden, von unzähligen Überstunden, von überschießenden Ansprüchen an grenzenlose Loyalität dem Unternehmen gegenüber. Was stimmt denn nun?
Sicher könnte es wichtig sein, mehr und Fundierteres dazu zu wissen. Aber können wir nicht auch ohne dies Nonaka und Takeuchi einfach nutzen? Ohne ihre Auskünfte jetzt (typisch westlich) zur „Wahrheit“ zu verklären?
Ich denke, ich werde für mich persönlich einmal pro Woche eine 5minütige Retrospektive abhalten und mich fragen:
  • Bin ich bei irgendeinem Thema, das mich gerade beschäftigt, dabei, Wissen als ein „Haben“ zu betrachten? Also als Quelle der Sicherheit (es gibt mir Boden unter den Füßen)? Oder als Quelle von Macht (ich kann mitreden und andere belehren)?
  • Wenn mir das auffällt, will ich versuchen, das Wissen umzudeuten: Wie kann ich es zu einer Quelle des Handelns machen (wie kann ich es zur Produktion neuen Wissens nutzen)? Was davon könnte meinem Team nützen, sodass es Sinn macht, es ihm aktiv (mit)zu-teilen?

Anmerkung

  • /1/ Ikujiro Nonaka, Hirotaka Takeuchi: Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, Campus Verlag, 2. Auflage, 2012

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie lassen sich Ergebnisse definieren? - Drei Beispiele (WBS, CBP und BDN)

Ich habe schon darüber geschrieben, warum das Definieren von Ergebnissen so wichtig ist. Es lenkt die Aufmerksamkeit des Projektteams auf die eigentlichen Ziele. Aber was sind eigentlich Projektergebnisse? In diesem Beitrag stelle ich drei Methoden vor, um leichter an Ergebnisse zu kommen.

Microsoft Teams: Die neuen Besprechungsnotizen - Loop-Komponenten

  Haben Sie in letzter Zeit in einer Teams-Besprechung die Notizen geöffnet? Dort sind inzwischen die Loop-Komponenten hinterlegt. Die sind zwar etwas nützlicher als das, was zuvor zur Verfügung stand. Trotzdem ist noch Luft nach oben. Und es gibt sogar einige ernstzunehmende Stolperfallen. Hier ein erster, kritischer Blick auf das was Sie damit tun können. Und auch darauf, was Sie besser sein lassen.

Wie Agilität den Kundennutzen steigert - Einige Argumente für Berater:innen

In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit fragen sich viele, ob agile Beratung noch eine Zukunft hat. Die Antwort liegt in der konsequenten Orientierung am Kundennutzen. Qualität setzt sich durch, wenn sie messbare Verbesserungen bei Umsatz, Kosten und Leistungsfähigkeit bewirkt, anstatt sich in Methoden und zirkulären Fragen zu verlieren. Dieser Artikel zeigt, wie agile Beratung nachhaltige Veränderungen in Unternehmen schafft und warum gerade jetzt gute Berater:innen gebraucht werden, um Organisationen widerstandsfähiger zu machen.

Warum eine Agile Transformation keine Reise ist

Die agile Transformation wird oft als eine Reise beschrieben. Doch dieser Vergleich kann viele Unternehmen in die Irre führen oder Bilder von unpassenden Vergleichen erzeugen. Transformationen sind keine linearen Prozesse mit einem klaren Ziel, sondern komplexe und dynamische Entwicklungen. Dieser Artikel zeigt, warum Agilität kein Weg mit einem festen Endpunkt ist.

Kleine Organisationsveränderungen, die direktes Feedback erzeugen

Große Veränderungen sind in einer Organisation schwer zu messen. Oft liegt zwischen Ursache und Wirkung ein langer Zeitraum, sodass die Umsetzer:innen nicht wissen, was genau gewirkt hat. Hier ist eine Liste mit kleinen Maßnahmen, die schnell etwas zurückmelden.

Agile Leadership – Führst du noch oder dienst du schon?

Die Arbeitswelt verändert sich. Und das spüren nicht nur Führungskräfte, sondern vor allem Mitarbeitende. Immer mehr Menschen hinterfragen den Sinn ihrer Arbeit, erwarten Respekt, Vertrauen und eine Unternehmenskultur, die echte Zusammenarbeit ermöglicht. Studien wie die Gallup-Studie 2025 oder die EY-Jobstudie zeigen: Der Frust am Arbeitsplatz wächst – und mit ihm die Unzufriedenheit mit der Führung. Höchste Zeit, umzudenken. Genau hier setzt agile Führung an. 1. Warum agile Führung heute entscheidend ist  Klassische Führung – hierarchisch, kontrollierend, top-down – funktioniert immer weniger. Die Zahlen sind eindeutig:  Laut Gallup fühlen sich nur noch 45 % der deutschen Beschäftigten mit ihrem Leben zufrieden. Fast jede dritte Kündigung erfolgt wegen der Führungskraft. Nicht das Gehalt, sondern mangelnde Wertschätzung, fehlendes Vertrauen und ein schlechtes Arbeitsumfeld treiben Menschen aus Unternehmen.  Agile Führung bietet eine Alternative, die auf Vertrauen, Selbs...

Ent-Spannen statt Platzen: Erste Hilfe für mehr Vertrauen und Resilienz im Team

Zwei Themen die mir in den letzten Wochen immer wieder über den Weg laufen sind Vertrauen und Resilienz. Vertrauen als das Fundament für gemeinsame Zusammenarbeit und Resilienz als die Fähigkeit, Herausforderungen, Stress und Rückschläge zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen.  In dem Blogpost möchte ich ein paar Erste-Hilfe Interventionen teilen, die zu mehr Vertrauen und Resilienz im Team führen können - gerade wenn die Emotionen hochkochen und es heiss her geht im Team. Die „Mist-Runde“: Ärger Raum geben. In konfliktbeladenen oder belasteten Teams kann es eine große Herausforderung sein, eine offene Kommunikation und ein respektvolles Miteinander zu fördern. Eine einfache, aber äußerst effektive Methode, um Spannungen abzubauen, ist die „Mist-Runde“ . Diese Intervention, die ich zuerst bei Veronika Jungwirth und Ralph Miarka kennengelernt habe, gibt den Teilnehmern einen geschützten Raum, in dem sie ihre Frustrationen und negativen Gedanken ohne Zensur äußern können un...

Microsoft Lists: mit Forms und Power Apps komfortabel mobil arbeiten

In meinem Kundenkreis sind viele Menschen, die den Arbeitsalltag nicht vorwiegend auf dem Bürostuhl sitzend verbringen, sondern "draußen" unterwegs sind. Vielleicht in Werkstätten oder im Facility-Management. Es ist so wichtig, dass die Schnittstellen zu den Abläufen im Büro gut abgestimmt sind. Microsoft 365 hat so einiges im Baukasten, man muss es nur finden und nutzen.  In diesem Artikel spiele ich ein Szenario durch, das auf Microsoft Lists, Forms und - für die Ambitionierteren - Power Apps setzt.

Selbstbewertungsfragen für den Alltag in Arbeitsgruppen aus Sicht von Mitarbeitenden

Welche Fragen können wir Mitarbeiter:innen stellen, um herauszufinden, ob agiles Arbeiten wirkt? Es gibt bereits eine Menge an Fragebögen. Aber ich bin nicht immer zufrieden damit.