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"Reinventing Organizations (illustrierte Ausgabe)" - ein paar Stichpunkte

Lasst uns unsere Unternehmen neu erfinden! Von einem, der auszog, inspirierende Unternehmen zu untersuchen - eine Mini-Buchrezension

Spät, aber immerhin überhaupt habe ich es jetzt endlich auch geschafft, das Buch "Reinventing Organizations" zu lesen. 2014 wurde es erstmalig von Frederic Laloux, einem Belgier, veröffentlicht. Sieht man sich Bilder des Autors im Netz an, fällt auf, dass er häufig lächelt, ein positiv und optimistisch gestimmter Mensch zu sein scheint. Der Mann wollte wissen, wie bestimmte Firmen es schaffen, Sinn zu stiften, mehr Ganzheit zu erlauben, einem bisher noch nie dagewesenen Managementbild folgend zu arbeiten.

Das von mir gelesene Buch ist die abgespeckte Version "Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit" von 2016 mit 166 Seiten (ohne index). Ich habe es auf eigenen Wunsch geschenkt bekommen und im ersten Rutsch leider bisher nur fast fertiggelesen. Verständnisvoll heißt es schon im Vorwort : "(...) nicht jeder hat die Zeit, ein 360 Seiten dickes Managementbuch zu lesen. (...)" /3/

Inspiration für "tausende" Unternehmen für sinnstiftendere Arbeit

Aus dem Klappentext: "(...) Dieser innovative Ansatz inspiriert tausende Organisationen – Unternehmen und gemeinnützige Initiativen, Schulen und Krankenhäuser – darin, sich zutiefst wirkungsvolleren, seelenvolleren und sinnvolleren Praktiken zuzuwenden. (...)" Immer wieder taucht das inzwischen in entsprechenden Kreisen wahrscheinlich schon "berühmte" niederländische Unternehmen "Buurtzorg" für ambulante Pflege im Buch auf, da es ein Paradebeispiel für die erwähnte sinnstiftende Arbeit darstellt. (Wer mehr wissen möchte, findet z. B. auf Wikipedia /1/ passende Information.)

2006 von Jos de Blok gegründet, einem Pfleger und langjährigen Pflege-Manager bei zwei überregionalen Pflegediensten (er wusste also, wovon er spricht), setzt die Philosophie dieses Unternehmens für ambulante häusliche Pflege auf Selbstorganisation an der Quelle der Wertschöpfung, nämlich bei den Patientinnen und Patienten, und verzichtet vollständig auf Hierarchien. Durch die Übertragung von Eigenverantwortung in die Teams, auf die die Wertschöpfung leistenden Expertinnen und Experten, erhält Buurtzorg nicht nur glücklichere Pflegekräfte (und damit auch Patientinnen und Patienten), sondern es wird in der Literatur auch von beeindruckenden Einsparungen und Produktivitätssteigerungen gesprochen. /2/ Der Unternehmensgründer bündelt lediglich über ein regelmäßiges Blog Ideen von ihm selbst und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und unterstützt dadurch die Entwicklung von unternehmensweiten Veränderungen und die Vernetzung der Belegschaft untereinander.

Vorzeigeunternehmen Buurtzorg

Bei Buurtzorg arbeiten selbständige Teams von bis zu zehn Personen (irgendwie kommt einem diese Dimensionierung für Teams bekannt vor...). Lediglich ca. 50 Personen sind für die übergreifende Abrechnung zuständig, alle übrige Verwaltung wird durch die Teams selbst abgewickelt. Häufig dann, wenn etwas irgendwo besonders gut klappt, kommen von anderer Seite Reflexe auf, ähnlich wie "ja, das kann man ja nicht vergleichen, bei uns ginge das gar nicht, wir sind ja viel größer...". Im Netz werden Interessent:innen fündig: Buurtzorg ist kein kleiner übersichtlicher Laden, sondern beschäftigt mittlerweile 14.500 Personen /3/. Rund 20% aller niederländischen Pflegekräfte arbeiten für Buurtzorg. Das ist zwar nicht mit Konzernen zu vergleichen, aber unter Umständen wäre das Konzept auch auf diese Unternehmen übertragbar, wenn man es konsequent umsetzte. Ja, eine reine Behauptung von mir. Wie mit Scrum oder Kanban oder anderen Philosophien, die man nachträglich, nach vielen Jahrzehnten des Anders-Arbeitens, in einem größeren Unternehmen einzuführen versucht, ist es mit ziemlicher Sicherheit harte Arbeit, ggf. langwierig (auch wenn dieser Wein selten zu Beginn eingeschenkt wird), und man kann dabei vermutlich auch viele Fehler machen.

Eine Veränderung der Werte schafft den Wert

Ähnlich wie auch bei Scrum handelt "Reinventing Organizations" von einer wertemäßigen Umorientierung: Mehr Sinn und Erfüllung bei der eigenen Arbeit, das maximale Maß an Eigenverantwortung, Zurückstellen des eigenen Egos (ganz schwer in meinen Augen besonders in Umfeldern, in denen viele Externe herumlaufen, die sich gerne einen guten Namen machen und mit allen Mitteln ihre Folgebeauftragung sichern möchten) und ein Blick auf das Beste für das Gesamtunternehmen. Die Menschen, die in der Unternehmung arbeiten, werden in ihrer Individualität gesehen und gefördert und sind Teil einer echten, unterstützenden Gemeinschaft. Laloux berichtet mit lebendigen Schilderungen noch aus einer Reihe weiterer Unternehmen, die sich dem oben beschriebenen Ansatz gewidmet haben. Er spricht von der Erfindung eines völlig neuen Managementparadigmas, die gerade im Gange sei. Über drei notwendige Durchbrüche entstehen dadurch sogenannte "evolutionäre Unternehmen".

Evolutionäre Unternehmen

Hier ein paar Stichworte darüber, was in diesen Unternehmen anders läuft: "wirkungsvoller, seelenvoller und sinnvoller (...) führen", "das Ego loslassen", "die innere Stimme als Kompass", "die Suche nach Ganzheit" (alle Zitate /4/). Strukturelle Merkmale sind beispielsweise fehlende individuelle oder Team-Anreize, fehlende (vorgegebene) Verkaufsziele, fehlende Macht-Hierarchie (stattdessen viele natürliche Hierarchien), fehlende Budget-Planungen. Passend zum letzteren Punkt fragt Laloux im Kapitel "Dritter Durchbruch": "Was wäre, wenn wir nicht länger versuchen würden, die Zukunft zu erzwingen? Was wäre, wenn wir stattdessen einfach mit dem, was sich zeigen will, tanzen?" /5/

Reiner Wein

Eine sehr spannende Überschrift im Kapitel "Erster Durchbruch" (Selbstführung) macht transparent, was bei Scrum-Initiativen, die ja auch auf Selbstorganisation und damit Selbstführung setzen, nach meiner Erfahrung praktisch nie offen gesagt wird (oder erst sehr spät und verschachtelt): "Selbstführung erfordert, dass wir fast alle grundlegenden Managementpraktiken erneuern". /6/ Man stelle sich vor, die Information würde in dieser Klarheit zu Beginn einer Initiative dem Management serviert...

Sich im Unternehmen zeigen, wie man wirklich ist?

Viel elementarer aber ist für mich der zweite Durchbruch: Ganzheit. Das Buch fasst folgendermaßen zusammen: "Enorme Energie wird freigesetzt, wenn wir endlich unsere Maske fallenlassen und wagen, ganz wir selbst zu sein." /5/ Man stelle sich vor, niemand müsste mehr Persönlichkeitsanteile zurückhalten - weil sie "nicht ins Unternehmen passen" oder weil man anschließend Angst hat, von irgendeinem Karrieristen in die Pfanne gehauen zu werden (Laloux schreibt: "Zu unserer Wahrheit zu stehen wird zum Risiko" /7/). Stattdessen würde jede/r so akzeptiert und unterstützt, wie er/sie nun mal ist. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche Energie dann für sinnvolle Arbeit frei würde und um wieviel glücklicher wir dann alle wären. Insbesondere dieses Kapitel hat mich beim Lesen sehr gefesselt und berührt. Mein inneres Ich flüsterte mir zu: "Ja, ich möchte auch liebend gern in einem solchen Unternehmen arbeiten und mich dort einbringen." 

Eine Brücke zu schlagen versuchen

Vielleicht ist der Drang der Menschen, auf diese Weise "anders" zu arbeiten, sogar das - bisher fehlende - Verbindungsstück zwischen der alten Welt und neuen Gedanken wie Scrum? Zumindest in Unternehmen einer bestimmten Größe, die bisher jahrzehntelang "klassisch" gearbeitet haben und sich gegenüber modernen Ansätzen sehr schwerfällig zeigen? Kann es vielleicht sein, dass der Mensch, der ja ein Gewohnheitstier ist, gemäß der gängigen Coaching-Haltung zuerst selbst mit seiner Lage so unzufrieden sein muss, dass er für seine Arbeit ein Umfeld sucht, das Laloux in seinem Buch beschreibt, oder daran arbeitet, dass das eigene Umfeld sich in dieser Richtung entwickelt (was natürlich ungleich schwieriger wäre)? Ein Umfeld, das sich - in meinen Augen - genau aus den Werten speist, die gebraucht werden, um auch Scrum erfolgreich einführen zu können? Könnte es sein, dass man alle skalierten Initiativen in die Tonne treten kann und versuchen sollte, zuerst die Sehnsucht nach dieser Art von Zusammenarbeit zu wecken, anstatt alles gleichzeitig umstellen zu wollen? ("Wir führen Scrum ein, und, ja, das dafür notwendige Change Management machen unsere Scrum Master / Change Agents / Agility Master / <hier beliebigen weiteren ähnlichen Jobtitel einsetzen> auch noch daneben...")

Auch das wäre natürlich ein Unterfangen, das einiges an Zeit brauchen würde. Ja, ich weiß: Wenn man eine Brücke schlagen will, muss man nicht nur wissen, wo sie verlaufen soll, sondern man braucht auch das Material, um sie zusammenzubauen. Das überlege ich mir für einen meiner nächsten Artikel - vielleicht. (Oder jemand, der heute schon kreativ in dieser Richtung ist, setzt einen Kommentar zu diesem Artikel - ich würde mich freuen!)

Evolutionäre Unternehmen haben Antworten

In 10 oder 20 Jahren sind wir schlauer, was den Fortgang der Entwicklung evolutionärer Unternehmen betrifft. Ich würde mir wünschen, dass immer mehr Firmen und Betriebe diesen Weg einschlagen. Echte Kundennähe (endlich!), Ganzheit jedes Individuums - minimale Fluktuation und gering(st)er Krankenstand wären ziemlich sicher die Folge. Auch z. B. mit der Fehlerkultur hätten wir sicher kein Problem mehr, wenn jede Person in ihrer Ganzheit gesehen, gefördert und unterstützt würde, wenn alle "zum stärksten gesündesten Ausdruck ihrer selbst werden" /8/ dürften. Sobald Menschen Entscheidungen treffen dürfen und sollen, als Expert:innen dafür gesehen werden, wächst möglicherweise - so eine ganz versteckte Vermutung - auch die Motivation zur Selbstorganisation.

Auch Steve Jobs wusste es...

Wenn ständig jemand einer Belegschaft Entscheidungen vorsetzt und damit vermittelt, dass sie selbst immer nur die falschen Schlüsse zieht, verfällt irgendwann jeder in einen Zustand des Abwartens und Entgegennehmens von Anordnungen. Ein Zitat, das ich wahrscheinlich schon mal benutzt habe und das Steve Jobs zugeschrieben wird, fasst das ganze schön zusammen: "Es macht keinen Sinn, kluge Leute einzustellen und ihnen zu sagen, was zu tun ist. Wir stellen kluge Leute ein, damit sie uns sagen können, was zu tun ist." /9/

Bleibt zu hoffen, dass Frederic Laloux recht hat mit den Worten, die im Buch gleich zu Beginn stehen: "(...) ich denke, dass es einen Grund dafür gibt, zutiefst hoffnungsvoll zu sein. Der Schmerz, den wir fühlen, kommt von etwas Altem, das jetzt stirbt, während etwas Neues geboren wird." /10/

 

Quellenangaben

  • /1/ https://de.wikipedia.org/wiki/Buurtzorg
  • /2/ https://www.buurtzorg.com/
  • /3/ https://www.pm-pflegemarkt.com/allgemein/buurtzorg/
  • /4/ Reinventing Organizations (illustrierter Leitfaden); Vahlen, 2017; ISBN 978 3 8006 5285 3
  • /5/ a. a. O., S. 111 
  • /6/ a. a. O., S. 81
  • /7/ a. a. O., S. 84
  • /8/ a. a. O., S. 79
  • /9/  https://www.businessinsider.de/karriere/arbeitsleben/steve-jobs-erklaerte-was-viele-unternehmen-bei-besten-angestellten-falsch-machen-r3/
  • /10/ Reinventing Organizations (illustrierter Leitfaden), S. 9

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