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Warum „Prozessoptimierung“ bisweilen die Optimierung der Vorgänge behindert

In einem Artikel am letzten Montag hatte ich von der Einstellung der „Prozessdatenbank“ berichtet, die unter Federführung des Bundesinnenministerium für alle öffentlichen Verwaltungen Prozessoptimierung betreiben sollte. Und ich hatte am Schluss die Behauptung aufgestellt: „Das eigentliche Problem bei der Prozessoptimierung ist aber, dass diese den Blick einseitig auf das 'Wie' einer Aufgabenerledigung richtet und das 'Was' und das 'Wer' außer Acht lässt.“ /1/ Das will ich heute näher begründen.
Da eine Geschichte bekanntlich mehr sagt als 1.000 Worte, erzähle ich am besten

Ein völlig erfundenes Beispiel aus dem wirklichen Leben

"Herr Leichtenberger ärgert sich schon jetzt, bevor es überhaupt an der Zeit dafür ist. Er braucht unbedingt ein neues Tachymeter, und er weiß, er wird es nicht bekommen.
Oder zumindest nicht das, welches er haben will.
Herr Leichtenberger ist Leiter des Vermessungsamts des Landkreises Oberbergen (BW). Das vorhandene Tachymeter ist schon älter als 12 Jahre und hinkt hoffnungslos hinter dem heutigen technischen Standard her.
Aber wie soll er das der Beschaffungsstelle klar machen? Und vor allen Dingen: dass er ein Qualitätsprodukt braucht und nicht irgendeinen billigen Schund?

Tachymeter gibt es schon ab 8.000 €, aber die richtige Qualität (reflektorlos, zielverfolgend und pipapo) beginnt erst so ab 25.000 € aufwärts. Und sein Ansprechpartner bei der Beschaffung ist der Herr Helming (Gott schenke ihm einen zeitigen Ruhestand), ein ausgemachter Sparfuchs und stolz auf seine technische Ignoranz.

Dabei geht es Leichtenberger doch überhaupt nicht um technische Spielerei. Wichtig bei der neuen Generation von Tachymetern sind die elektrisch angetriebenen Seiten- und Höhentriebe. Dadurch kann der Tripelspiegel automatisch angezielt werden. Damit wiederum wird der Einmannbetrieb in der Vermessung möglich, weil der Benutzer am Gerät eingespart werden kann. Die Bedienung erfolgt vielmehr nur noch vom Reflektor aus. Und bei der heutigen Personalknappheit ist das das wichtigste Argument. Ein paar Tausend Euro beim Tachymeter einsparen (nur einmalig) und dafür das Zehnfache (dauerhaft) an Personalkosten ausgeben - wo bleibt da die Logik?

Herr Leichtenberger füllt den Beschaffungsantrag mit technischen Spezifikationen. Er geht auf die Internetseite des Spitzenanbieters, kopiert die technischen Angaben in den Zwischenspeicher und fügt sie in sein elektronisches Formular ein. In das Feld "Begründung der Anschaffung" schreibt er seine Überlegungen zum geringeren Personalbedarf. Er klickt auf "Versenden", und das Formular geht ab ins Nirwana, welches sich Beschaffungsstelle nennt.

Es geht ein bei Herrn Helming, der gerade wohlgelaunt vom Mittagessen aus der Kantine kommt. Aber seine Stimmung verdüstert sich, als er den Antrag von Leichtenberger auf den Bildschirm holt. Tachymeter hat er noch nie beschafft. Die Kostenschätzung von Leichtenberger liegt bei 29.000 €, aber schon eine erste Recherche zeigt, dass es Tachymeter schon ab 5.995 € gibt. (Die gebrauchten bei eBay gar nicht gerechnet, mit so was braucht man den Herren Ingenieuren sowieso nicht zu kommen.)

Er googelt einen Ausschnitt aus der technischen Spezifikation und wird sofort fündig. Na klar, Leichtenberger hat die technischen Daten aus dem Katalog von Schmalkopf GmbH & Co KG mit Copy und Paste übernommen. So denkt er, dass er ihm die Pistole auf die Brust setzen kann, als käme nur ein Anbieter in Frage. (Zu blöd zum Kopieren, der Herr Ingenieur. Man muss den Text doch abändern, damit man die Quelle nicht so leicht im Internet finden kann.)

Und dann die Begründung: geringerer Personalbedarf. Als ob das jemals nachweisbar wäre. Alle reden immer vom geringeren Personalbedarf, wenn sie etwas kaufen wollen, und hinterher wird das Personal doch aufgestockt. Aber eingesparte Beschaffungskosten, die kann man messen. Und wenn ein einziges Tachymeter 30% des gesamten Beschaffungsetats des Vermessungsamts auffrisst? Und wenn dann im Herbst ein Nachtragshaushalt fällig wird? Wer wird dann verantwortlich gemacht? Genau, bestimmt nicht der kluge Herr Leichtenberger.

Und Herr Helming tippt entschlossen in das Feld "Bemerkung des verantwortlichen Sachbearbeiters der Beschaffungsstelle": "Beschaffung genehmigt. Voraussichtliche Investitionshöhe 7.500 €." Das macht gegenüber der beantragten Summe eine Einsparung von 21.500 € - ein großer Schritt hin zur Erfüllung seiner Jahreszielvereinbarung."

Vorgang, Vorgangsteam, Prozess

Der geschilderte Ablauf kommt so oder ähnlich Tag für Tag in vielen öffentlichen Verwaltungen vor. Er ist völlig verkorkst. Er stellt bei beiden Beteiligten eine große Verschwendung an Energie und Nerven dar, die den produktiven Arbeiten verloren geht. Und das Ergebnis ist, egal mit welchem der beiden Protagonisten man sich als Beobachter identifiziert, sicher nicht optimal.

Was also wäre zu tun?

Zuerst einmal fällt sofort auf, dass hier mit Prozessoptimierung, mit Standardisierung, gar mit einem „DMS-gestützten Workflow“ nichts auszurichten ist. Den digitalen Beschaffungsantrag gibt es in Oberbergen ja offenbar. Er nützt gar nichts.

Schauen wir uns das Ganze mal unter dem Blickwinkel des Vorgangsmanagements (VM) an. Im VM unterscheiden wir drei Komponenten: den Vorgang, das Vorgangsteam und den Prozess.

Die Komponenten eines Vorgangs aus Blick des Vorgangsmanagements

  • Der Vorgang umfasst die Festlegungen zum Inhalt des konkreten Einzelfalls: den Auslöser („Neubeschaffung Tachymeter steht an“), den Output („beschafftes Tachymeter“), die Rahmenbedingungen (Budget, Zeit), das Ziel oder die Ziele usw.
  • Das Vorgangsteam besteht aus allen am Vorgang beteiligten Personen, also Herrn Leichtenberger und Herrn Helming.
  • Der Prozess betrifft das Wie, also die konkreten Aktivitäten und alle Regeln, Vorschriften und Standards, die den Ablauf kanalisieren.

Prozessoptimierung ohne Workflow

Der Prozess ist komplex im Sinne des Cynefin-Modells. Das Ergebnis des Vorgangs steht nämlich nicht von vornherein fest. Es gibt nicht "die" richtige Lösung ("Tachymeter von Anbieter X für 18.995 €"), sondern diese ist Ergebnis eines Abwägungsprozesses der beteiligten Personen. Deshalb kann in diesem Falle kein Workflow ein qualitativ gutes Ergebnis garantieren.

Ein qualitativ gutes Ergebnis wäre vermutlich eher als im geschilderten Beispiel zu erwarten, wenn Herr L. und Herr H. miteinander verhandeln würden. Herr L. und Herr H. bilden nämlich das Vorgangsteam, aber sie verhalten sich nicht so. (Frei nach Hegel: Sie sind ein Vorgangsteam „an sich“, aber nicht „für sich“.) Sie verharren in ihrem Silodenken („ich als Leiter des Vermessungsamtes“, „ich als Beschaffer“). Sie verhalten sich nicht als kooperierende erwachsene Personen, die für ein gemeinsames Ziel eintreten. Ein solches steht gar nicht zur Debatte, sondern es gibt nur Siloziele („Qualität, koste es, was es wolle“ gegen „Sparen ist an sich die beste Qualität“).

Die Lösung für einen besseren Prozess wäre gerade nicht „Workflow“, sondern Verhandlung auf Augenhöhe. Dafür würde das Landratsamt Leitplanken definieren in der Form „die Beteiligten müssen einen Konsens finden, und wenn dieser nicht binnen einer Woche erreicht ist, wird der Fall eskaliert“. Der schon vorhandene „Beschaffungsworkflow“ hingegen konstituiert ein Machtgefälle zwischen Beschaffer und Antragsteller, durch das sich ein borniertes Teilziel gegen die anderen bornierten Teilziele durchsetzen kann. Übergeordnete Gesichtspunkte haben keine Chance.

"Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools", steht im agilen Manifest. Der Grund für das Scheitern der Bundes-Prozessdatenbank und vergleichbarer Ansätze besteht in ihrer Missachtung dieser schlichten Wahrheit.

Anmerkungen

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